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Alle pädagogischen Fachkräfte sowie die Auszubildenden und Studierenden sind mit einer Kamera ausgestattet. In der Woche werden etwa fünfhundert
Bilder gemacht. Ausgewählte Bilder werden zu Dokumentationen weiterverarbeitet. Darunter befinden sich viele wahrnehmende Beobachtungen, die vom Beobachter verschriftlicht und dann in unserem Kita-Team reflektiert werden. Hierbei schauen wir gemeinsam, welche Vorerfahrungen bei dem entsprechenden Kind sichtbar werden und welche Weiterentwicklung das Kind gegebenenfalls macht. Außerdem interessiert uns, mit welchen Materialien sich das Kind beschäftigt und ob es zur Unterstützung noch weitere Materialien benötigt. Auch schauen wir uns genau an, ob die Umgebung und die Räumlichkeiten dem Kind genügend Explorationsmöglichkeit geboten haben. Zusätzlich ist für uns von Interesse, wie engagiert das Kind bei der Sache ist, ob es Kontakt zu anderen Kindern und Fachkräften aufnimmt. Hier achten wir auf die Art und Weise, wie diese Kontakte entstehen. Dies kann durch Körperkontakt, Mimik oder auch verbal sein. Letzteres gibt uns Aufschluss über die sprachliche Entwicklung des Kindes.
Wobei uns bei der Reflexion nicht nur das Kind und seine Möglichkeiten interessieren, sondern auch die Handlungsweise der Fachkraft. Schon beim Verschriftlichen reflektiert jede Beobachterin für sich die Situation. Fragen an sie lauten zum Beispiel: Was hat dich auf die Situation aufmerksam gemacht? Was hat das mit deiner eigenen Biografie zu tun? Wir stellen immer wieder fest, dass die eigene Verfassung bei der Beobachtung eine wesentliche Rolle spielt. Da Kinder überaus sensibel auf ihre Umwelt reagieren, ist es nicht verwunderlich, dass sie auch auf die emotionale Befindlichkeit
der Fachkraft entsprechend reagieren. Wenn ich höre, dass sich eine Fachkraft beklagt, dass die Kinder heute extrem laut, bewegungshungrig oder aggressiv sind, ist meine erste Frage: Wie geht es dir heute? Hast du gut geschlafen oder bewegt dich persönlich etwas sehr stark? In den meisten Fällen stellt sich dann heraus, dass die pädagogische Fachkraft nicht ihren besten Tag hat. Mit meinen Fragen möchte ich meine Kollegen sensibilisieren, dass uns die Kinder in der Regel einfach nur einen Spiegel vorhalten. Selbstverständlich kann ein verändertes Verhalten der Kinder seinen Ursprung auch im familiären Umfeld haben oder eine kommende Krankheit anzeigen. Doch wir hüten uns davor, voreilig Schlüsse zu ziehen, schauen stattdessen genau hin.
Zu unserer professionellen Arbeitsweise gehört auch, dass wir regelmäßig Biografie-Arbeit betreiben. Wir setzen uns mit Dingen auseinander, die schmerzlich, vielleicht emotional geladen sind, und zu denen der Zugang manchmal schwierig ist. Nur wer sich selbst gut kennt, sich seiner schwarzen Flecken bewusst ist, kann adäquat auf andere reagieren. Auch hier heißt es wieder: genau hinschauen. Ein Beispiel: Immer wieder erwähnten die Kollegen, dass einige Kinder ein sehr großes Interesse an den eigenen und anderen Körpern zeigten. Wir machten diverse Beobachtungen und entsprechende Reflexionen. Dabei stellte ich fest, dass die Teammitglieder eine völlig konträre Haltung zu diesem Thema hatten. Daraufhin beschlossen
wir, unsere unmittelbar bevorstehenden Teamtage dem Thema Sexualentwicklung zu widmen. Ich wollte genau hinschauen und herausfinden, wie jeder Einzelne mit diesem Thema aus biografischer Sicht umgeht. Es war eine herausfordernde Situation, da unser heterogenes Team ganz unterschiedliche
Biografien mitbrachte. Mir war es wichtig, alle zu sensibilisieren, warum dieses Thema uns so stark beschäftigte.
Wir verbrachten drei Tage und Nächte gemeinsam in einem schönen, alten Bauernhaus im Alten Land. Wir sorgten gut für unser leibliches Wohl und hatten genügend Platz, um uns auch einmal zurückzuziehen. Nachdem wir es uns den ersten Abend mit leckeren Speisen und Getränken haben gut gehen lassen und mal nicht an die Kita gedacht haben, ging es am nächsten Morgen ans Eingemachte. Für die Biografie-Arbeit hatte ich Materialien ausgesucht,
die offen waren und Raum boten, sich ganz zu vertiefen, ohne zu viel von sich selbst preiszugeben. Die Eingangsfrage lautete: Was glaubt ihr, hat euch geprägt und zu dem werden lassen, wie ihr heute denkt und handelt? – Immer bezogen auf die sexuelle Entwicklung. Jeder notierte Begriffe, die ihm nach
intensivem Innehalten als relevant für seine sexuelle Entwicklung erschienen. So wollte ich erreichen, dass alle einmal genau in ihr Inneres schauen. Der folgende Schritt war freiwillig: Jeder konnte seine Begriffe offen hinlegen und etwas dazu erzählen. Um das Team einzustimmen, begann ich selbst.
Ich war von der Offenheit meiner Kollegen begeistert und merkte sehr schnell, dass unsere Teamkultur, die von Vertrauen, respektvollem und wertschätzendem Umgang geprägt ist, ein solches Thema zulässt. Wir erfuhren sehr viel voneinander. So zum Beispiel, dass eine Kollegin als Kind sexuellen Übergriffen ausgesetzt war, genau wie der Ehemann einer Kollegin. Wir hörten, dass Tabuisierung im Elternhaus nichts Seltenes war, dass Sexualität als etwas Schlechtes galt, aber auch dass Offenheit herrschte. Auch erfuhren wir, wie sich eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft entwickelt hat. Wir hatten also in diesem Arbeitsschritt genau hingeschaut, was uns sexuell geprägt hat.
Im nächsten Arbeitsschritt haben wir uns die frühzeitliche Tabuisierung durch die Kirche und die damit verbundenen Folgen angesehen.Selbstverständlich durften zu diesem Thema Freud und seine revolutionären entwicklungspsychologischen Erkenntnisse nicht fehlen. Auch die Hippiebewegung und die sexuelle Freiheit der 68er-Bewegung waren ein Thema. Als sehr hilfreich stellte sich heraus, dass alle Kollegen einen Themenbereich im Vorfeld erarbeitet und diesen der Gruppe dann vorgestellt haben. Somit waren die Referate abwechslungsreich. Nachdem wir mit viel Wissen gefüttert waren, konnten wir auf unsere Kita-Praxis schauen und uns überlegen, wie wir in Zukunft handeln wollen.
Durch unser Teamwochenende änderte sich die Einstellung der Kollegen. Sie sahen die Bedürfnisse der Kinder plötzlich mit anderen Augen. Die Erkenntnis, dass die Sexualentwicklung gleichbedeutend ist mit dem Laufen- oder Sprechenlernen, veränderte unseren Blick. Durch die Selbstverständlichkeit, die sich einstellte, haben sich auch die Kinder viel weniger auffallend verhalten, und wenn, haben es die Kollegen teilweise nicht mehr als auffällig empfunden.
Ein anderes Beispiel, das sicher viele erleben: Kinder mit verstärktem Aufmerksamkeitsbedarf im emotionalen und sozialen Bereich. Je mehr im Team reflektiert wird, desto sensibler reagieren die Fachkräfte und erkennen, dass das Kind nicht aggressiv, sondern in großer Not ist, und die Unterstützung einerverlässlichen Bindungsperson benötigt. Das Kind spürt natürlich diese Veränderung und fühlt sich dadurch angenommen. Nach jeder Reflexion bekomme ich die Rückmeldung der Fachkraft, dass es kleine, aber stetige Schritte der Veränderung gibt.
So wie wir bei uns selbst genau hingeschaut und uns erinnert haben, möchten wir unseren Kindern bei ihrer Erinnerung zur Seite stehen. Alle Beobachtungen und Dokumentationen werden von uns in einem für jedes Kind existierenden Ich-als-Kind-Buch gesammelt. Wie wertvoll ein solches Buch ist, beschreibt Donata Elschenbroich in ihrem Buch „Weltwissen der Siebenjährigen“. Dieses Ich-als-Kind-Buch ist das Eigentum des einzelnen Kindes
und steht ihm immer zur Verfügung. Damit zeigen wir den Kindern: Ihr seid uns wichtig, und alles was ihr bei uns macht, ist es wert, dokumentiert zu werden.
Manchmal ist es nur ein Foto von einem großen Stein, den das Kind im Wald gefunden hat, leider jedoch nicht mitnehmen konnte. Oder es ist ein Bauwerk, das über Tage gebaut wurde. Unsere Kinder kommen auch von sich aus und bitten uns, etwas zu fotografieren. Erinnerungen zu bewahren, heißt für uns, kein Fotoalbum von Ostern, Weihnachten und vom Fasching, sondern Erinnerungen aus dem Alltag. Wir dokumentieren Bildungsprozesse, die die
Kinder bei uns erleben. Dabei handelt es sich teilweise auch um Fotos, die eine Handhaltung beim Schneiden zeigen oder den freudigen Ausdruck, wenn es gelungen ist, ein Glas allein zu füllen. Das bedarf großer Sensibilität der Kollegen, zu erkennen, dass gerade etwas ganz Bemerkenswertes passiert.
Diese Erinnerungen geben auch immer wieder Anlass, an einem Projekt zu arbeiten und dabei weitere Entwicklungsschritte zu gehen. Ein Kind schaute sich beispielsweise sein Ich-als-Kind-Buch an und ließ sich eine Geschichte von einem gebauten Turm vorlesen. Daraus entwickelte sich ein Gemeinschaftsprojekt: Sechs Kinder bauten eineinhalb Stunden lang intensiv an einem sehr großen Turm. Die Kollegin, die dies beobachtete, war so fasziniert davon, was die Kinder schafften, dass sie es aushalten konnte, bestimmte Regeln außer Kraft zu setzen – weil sie durch ihr genaues Hinschauen erkannt hatte, dass die Regeln den Prozess des Bauens unterbrochen hätten.
Dadurch, dass das Fotografieren bei uns selbstverständlich ist und täglich stattfindet, gibt es kein Kind, was sich in Position stellt, wie es anderswo
vielleicht der Fall ist. Auch unterbrechen unsere Kinder ihre Arbeit nicht, weil ein Foto gemacht wird. Sie fühlen sich von uns gesehen und wertgeschätzt, freuen sich über die Erinnerung, die sich in ihrem Ich-als-Kind-Buch wiederfindet. Nicht alle Fotos kommen ins Ich-als-Kind-Buch. Doch wir heben alle
auf und das Kind bekommt die kompletten Bilder, wenn es die Kita verlässt. Beim wöchentlichen Sortieren der Fotos ist immer wieder erfreulich, wie genau die Kollegen hinschauen und die Geschichte zu den Fotos erzählen können. Leider reicht die Zeit von zwei Stunden wöchentlich, in der die Kollegen von der Arbeit am Kind freigestellt sind, bei Weitem nicht aus, um alles Spannende zu dokumentieren. Daher sind wir teilweise schon dazu
übergegangen, anhand von Videoaufnahmen zu reflektieren. Dies verschafft auch Kollegen, die nicht in der Situation dabei waren, einen guten Eindruck und erleichtert das Reflektieren. Dabei kann der Fokus bei Kollegen unterschiedlich sein. So hat eine Kollegin ein Krippenkind bei seinen ersten Krabbelversuchen gefilmt. Bei genauem Hinschauen haben wir dann erkannt, dass sich das Kind fortbewegt hat, weil es seinen Schatten entdeckt hatte und mit diesem spielte.
Warum beobachten wir unsere Kinder so intensiv, könnte hier gefragt werden. Wir möchten unsere Kinder genau kennen. Wir sind an allem interessiert,
was unsere Kinder interessiert. Wir wollen ihre Bildungsprozesse erkennen und sie unterstützen, sich weiterzuentwickeln. Es geht uns um die ganz individuelle Entwicklung eines jeden Kindes. Wenn ein Kind gerade großes Interesse am Schneiden entwickelt, ist es wenig sinnvoll, ihm Buntstifte anzubieten. Wenn es allerdings gerade an Symbolen wie Buchstaben und Zahlen interessiert ist, ist es kontraproduktiv, auf Linien schneiden zu üben.
Wenn das Kind gerade mit Farben experimentieren möchte, brauche ich keine Lesestunde machen. Hat das Kind einen großen Bewegungsdrang, wären ein Puzzle oder ein Brettspiel fehl am Platz. Habe ich ein regelunsicheres Kind in meinem offenen Konzept, braucht es Unterstützung zur Orientierung
und einen engeren Rahmen, damit es nicht permanent unschöne Situationen erlebt. Habe ich ein überproportional neugieriges Kind, sollte ich
Möglichkeiten schaffen, um die Neugier zu befriedigen. Bei Krippenkindern ist eventuell in diesem Fall ein früherer Wechsel zu den Großen angezeigt. Ist ein Dreijähriges noch sehr fixiert auf die Betreuungsperson und braucht die Geborgenheit einer kleinen Gruppe, sollte ich den Wechsel zu den Großen noch ein bisschen hinauszögern. All dies kann nur kindgerecht entschieden werden, wenn ich die Kinder genau kenne und mir die Bedürfnisse bewusst sind.
Wir möchten unsere pädagogische Handlungsweise reflektieren, um uns auch weiterzuentwickeln. Wir möchten Regeln hinterfragen und gegebenenfalls verändern. Wir möchten den Eltern immer berichten können, welches Interesse ihr Kind gerade verfolgt, um dies eventuell im Elternhaus fortsetzen zu
können. Wir möchten Entwicklungsberichte erstellen können ohne Fragebögen. Natürlich möchten wir auch den Eltern zeigen, wie sich ihr Kind bei uns entwickelt. Wir möchten Eltern sensibilisieren, auf Fotos die Bildungsprozesse ihrer Kinder zu erkennen.
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