Ein milder Tag im Oktober. Die Erde ist noch feucht vom Morgentau. Die ersten Sonnenstrahlen scheinen auf den Weg, der zwischen Feldern und Obststreuwiesen hindurch in den Wald hineinführt. Ausgestattet mit unserer täglichen Ausrüstung – Regenjacke, festes Schuhwerk und Wanderrucksack
– gehen wir zusammen mit unserer Gruppe in Richtung der Schutzhütte des Naturkindergartens Schonungen, die sich am Waldrand befindet. Die Kinder sind gut gelaunt, singen, spielen und unterhalten sich. Plötzlich lassen sich zwei auf die Knie fallen und schauen voller Begeisterung auf den Boden vor ihnen, wo ein Regenwurm liegt. Die Kinder fangen an, eifrig darüber zu diskutieren, was nun zu tun sei, um dieses kleine Lebewesen zu schützen. „Nicht, dass da noch jemand drauftritt“, sagt Anton. „Wir bauen ihm ein Regenwurmhaus, dann kann ihn auch kein Vogel fressen“, sagt Enis. Schnell werden die
Aufgaben verteilt. Anton gibt acht, dass keines der dazukommenden Kinder dem Regenwurm zu nahe kommt. Enis lockert die Erde, hebt ein kleines Loch aus, befördert den Wurm sanft hinein und deckt ihn vorsichtig mit Erde zu. Schließlich wird Wache gehalten, bis alle Kinder am Regenwurmhaus vorbeigelaufen sind. Nachdem sich die beiden Jungs von dem Regenwurm verabschiedet haben, wandern wir gemeinsam weiter in Richtung der Schutzhütte.
Engagierte Eltern sind das A und O
1950 gründete Ella Flatau den ersten Naturkindergarten in Dänemark. Seitdem hat sich an dem Gründungsmotiv nicht viel geändert: In der Regel steckt eine engagierte Elternschaft dahinter, die neue – aber vor allem: naturverbundene – Wege in der Erziehung einschlagen will. Auch im Naturkindergarten Schonungen im Landkreis Schweinfurt in Unterfranken brachte eine Familie den Stein ins Rollen. Die Familie wünschte sich einen natürlichen Entwicklungsraum für ihr Kind und konnte mit dieser Idee auch andere Eltern begeistern. Und so wurde im November 2016 aus einer Elterninitiative heraus dieses Projekt in Angriff genommen. Die gelungene Kooperation der Elterninitiative mit der Gemeinde Schonungen ermöglichte die Übernahme der Trägerschaft durch die AWO Schweinfurt Land im Februar 2017 und legte damit den Grundstein. Von der Elterninitiative bis zur Eröffnung des Naturkindergartens im September 2017 dauerte es also nur knapp zehn Monate. Die schnelle Umsetzung des Projekts beruhteauf zwei Erfolgsfaktoren: dem Netzwerk aus Eltern, freiwilligen Helferinnen und Helfern und dem zukünftigen Team des Naturkindergartens einerseits sowie der finanziellen und organisatorischen Unterstützung durch den Träger andererseits. Hinzu kam, dass das Interesse an der Einrichtung von Anfang an groß war: Bereits bei der ersten Informationsveranstaltung fanden sich rund sechzig Interessierte ein. Zu dieser Zeit war das Angebot an Naturkindergärten im Landkreis noch geringfügig ausgebaut. Bis heute haben bereits drei weitere Einrichtungen im Umkreis den Betrieb aufgenommen – Tendenz steigend.
Nachhaltigkeit ist in aller Munde. Auch wenn das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung nach wie vor nur einem kleinen Teil der Menschen in Deutschland bekannt ist, ist das Umweltbewusstsein in der Bevölkerung in den letzten Monaten und Jahren – man denke etwa an die Fridays-for-Future-Proteste oder das umstrittene Klimapaket der Bundesregierung – spürbar gestiegen. Das belegt eine Studie des Umweltbundesamts aus dem Jahr 2018. In diesem Kontext gewinnt die Bildung für nachhaltige Entwicklung zunehmend an Bedeutung. Dabei geht es nicht zuletzt darum, Kindern die Bedeutung eines nachhaltigen Umgang mit der Natur zu vermitteln: Deutschland hat sich verpflichtet, das UNESCO-Weltaktionsprogramm Bildung für nachhaltige Entwicklung umzusetzen. Das geschieht auf nationaler und lokaler Ebene.
Fachkräfte für jede Wetterlage gesucht
Es verwundert folglich nicht, dass das Konzept des Naturkindergartens mehr und mehr Anhängerinnen und Anhänger findet, wie der Bundesverband der Natur- und Waldkindergärten in Deutschland (BvNW) in einem Bericht aus diesem Jahr feststellt: „In Deutschland bestehen heute über 1500 Natur- und Waldkindergärten/Gruppen. Hinzu kommen dieKindergärten, die natur- oder waldorientiert arbeiten. Die Tendenz zu Neugründungen von Natur- und Waldkindergärten ist steigend.“ Der BvNW stellt außerdem einen Bezug zur Bildung für nachhaltige Entwicklung her: „Die Natur bietet ein weites Spektrum zum Erleben, Entdecken, Erforschen, Erfinden und Gestalten. Die Natur- und Waldkindergartenpädagogik ist damit Grundlage für: Gesundheit, lebenslanges Lernen, Bildung für nachhaltige Entwicklung.“ Indem Kinder positive Erfahrungen mit den natürlichen Lerngelegenheiten machen, die ihnen der Wald bietet, und positive Gedanken und Gefühle damit verknüpfen, wird die Natur für Kinder zum schützenswerten Gut. Dabei werden sie von den Erzieherinnen und Erziehern unterstützt, die ihnen einen respektvollen Umgang mit der Natur vorleben.
Die naturpädagogische Arbeit verlangt jedoch einiges von den Erzieherinnen und Erziehern. Die Erfahrung zeigt, dass bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten dabei helfen können, die kleinen und großen Herausforderungen des Alltags zu meistern. Mit Blick auf die Kenntnisse geht es – neben der pädagogischen Expertise – um Fachwissen über Natur, Tiere und Pflanzen. Nur so können Fachkräfte die Fragen der Kinder beantworten. Durch regelmäßige naturpädagogische Fortbildungen (wie etwa zur Bestimmung von Baumarten oder essbaren Kräutern) erweitern die Fachkräfte ihr Wissen stetig. Zur Bestimmung von Pflanzen und Bäumen vor Ort werden zudem Fachbücher, das Internet oder Apps genutzt. Hierbei werden die Kinder bewusst miteinbezogen, um neben der Wissensvermittlung auch die Medienkompetenz zu fördern. Mit Blick auf die Fähigkeiten ist eine Belastbarkeit wichtig, um die Natur gemeinsam mit den Kindern bei hohen und niedrigen Temperaturen, bei Sonne, aber eben auch bei Regen und Schnee erleben zu können und vor allem: dies auch aus Überzeugung zu tun. Im wettererprobten Schweden sagt man „i ur och skur“, was so viel bedeutet wie „bei Wind und Wetter“ – und diese Philosophie auf den Punkt bringt. Auch die Zusammenarbeit im Team spielt eine wichtige Rolle. Die Fachkräfte stehen in der Verantwortung und sind aufeinander angewiesen. Gegenseitiges Vertrauen und Verlässlichkeit sind unabdingbar, damit im Freien wichtige Aufgaben zuverlässig erledigt werden. So muss für die Hygiene und Verpflegung der Kinder gesorgt oder der natürliche Spielplatz auf potenzielle Gefahren, wie etwa giftige Pflanzen, morsche Bäume oder Glasscherben, überprüft werden. Zudem ist Flexibilität notwendig, denn kein Tag ist wie der andere – die Rahmenbedingungen können sich jederzeit ändern und die Erzieherinnen und Erzieher müssen darauf vorbereitet sein.
„Ich bau mir meinen Spielplatz einfach selbst!“
In der Praxis der naturpädagogischen Arbeit bildeten sich in unserer Einrichtung verschiedene Schwerpunkte heraus. Generell muss der Erfahrungsraum für die Kinder, die sich selbst liebevoll als Naturfreunde bezeichnen, so beschaffen sein, dass sie mit elementaren Dinge wie Erde, Luft oder Wasser in Berührung kommen. Dabei ist die unberührte Natur nicht vorstrukturiert, sondern lässt Zeit für Begegnungen. Dies macht den Reiz für die Kinder aus, denn sie können – oder vielmehr: müssen – ihre Spielumgebung immer wieder neu gestalten. Neben dem Bewusstsein für Vergänglichkeit lernen die Kinder, auf diese Weise auch ihren Ideenreichtum immer wieder neu auszuschöpfen und Spielsituationen mit viel Flexibilität und Kreativität zu begegnen. Ein Schwerpunkt besteht darin, den Kindern durch gezielte Angebote nachhaltiges Denken und Handeln näherzubringen. Eine Möglichkeit bietet das gemeinsame Spielen. Die Einrichtung ist kaum mit Spielsachen ausgestattet. Stattdessen werden – ungefährliche – Alltagsgegenstände wie etwa Löffel, Geschirr, Eimer oder Schubkarren für die Kinder zugänglich gemacht. Dabei wird darauf geachtet, dass das Material nachhaltig ist, also mehrmals und auf unterschiedliche Art und Weise verwendet werden kann. Eine andere Möglichkeit ist das gemeinsame Haushalten. So wird mit biologischen Lebensmitteln gekocht, kaputte Sachen werden repariert oder umfunktioniert.
Die Kinder in der Einrichtung erleben sich weiterhin nicht nur als Teil einer Gemeinschaft, sondern auch als Teil ihrer Umwelt. Bei diesem Schwerpunkt unserer Arbeit lernen die Kinder Verantwortung für sich und andere Lebewesen – egal ob Menschen, Tiere oder Pflanzen – zu übernehmen. Im Naturkindergarten hat sich dazu folgender Leitsatz ausgeprägt: „Ich achte auf mich und meine Umwelt.“ Diese Haltung, welche die Erzieherinnen und Erzieher vorleben, erlernen die Kinder am Modell. Rituale wie Lieder, Gesprächskreise, aber auch bewusste Momente der Stille werden genutzt, um das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken. Immer wieder wird auf diese Weise ins Gedächtnis gerufen, dass im Alltag alle aufeinander angewiesen sind – neue Idee können nur im Miteinander realisiert werden und die Natur bildet mit den existenziell notwendigen Ressourcen dafür die Grundlage.
Ein anderer Schwerpunkt besteht darin, die Kinder bei der Entwicklungihres Selbstkonzeptes, das heißt der Vorstellung von ihrer Person, ihrer Selbstwirksamkeit und ihren Ressourcen, zu unterstützen. So wird die Wanderung zur Schutzhütte am Morgen bereits von den Erzieherinnen genutzt, um die Kinder nach ihrem Plan für den heutigen Tag zu fragen. Die Kinder sollen bei der selbstständigen Planung und Durchführung waldbezogener Projekte unterstützt werden, die sich von wenigen Stunden über mehrere Tage hinweg erstrecken können (zum Beispiel eine Höhle aus einer Wurzel, einen Windfang aus Zweigen und Ästen, eine Sitzgelegenheit aus Stämmen bauen). Manche Kinder haben bereits eine Idee davon, was sie heute im Wald umsetzen wollen; andere werden von den Fachkräften durch gezieltes Fragen zum Nachdenken angeregt: „Was macht dir Spaß? Was kannst du besonders gut?" Dieser Reflexionsprozess wird im Rahmen von Portfolios, in denen die Kinder ihre Erfahrungen sowie ihre Lernfortschritte festhalten, sichtbar gemacht. Während der Portfoliozeit, wie sie im Naturkindergarten genannt wird, reflektiert eine Fachkraft in einem geschützten Rahmen, beispielsweise
in der Schutzhütte oder abseits der Gruppe, mit dem Kind Geschehnisse und Lernfortschritte und hält diese in der vom Kind gewünschten Form fest. Das kann ein Lernbrief, ein gemaltes Bild oder auch eine Fotodokumentation sein.
Schließlich hat die naturpädagogische Arbeit auch eine ganzheitliche Wirkung auf die Erzieherinnen und Erzieher. Auch die Fachkräfte erleben die Natur mit allen Sinnen, nutzen die Natur als Erfahrungsraum, suchen gemeinsam mit den Kindern nach Lösungen bei Konflikten und bieten Unterstützung bei der Planung und Durchführung der waldlbezogenen Projekte an. Ein Punkt ist dabei noch von wesentlicher Bedeutung: Die Fachkräfte verstehen sich als unsichtbare Beobachterinnen und Beobachter, die das Spiel der Kinder begleiten, ohne es zu stören. Der Naturkindergarten bietet jeden Tag ein neues Abenteuer. Er ist ein Ort, an dem Kinder im Einklang mit der Natur wachsen und dabei natürliche Grenzen erfahren dürfen.Es ist ein Ort, an dem ein Kind an einer alten Eiche Halt finden oder staunen kann, wenn die ersten Buschwindröschen den Waldboden im Frühjahr in ein Blütenmeer verwandeln. Es ist aber auch ein Ort des Rückzugs, der Momente der Stille bietet und neue Ideen zutage fördert. Kurzum: ein wunderschöner Ort, um groß zu werden – und um dort zu arbeiten.
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