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Erzieherinnen leben gefährlich. Jederzeit können sie von Eltern überfallen werden. Denn die stehen einfach mit ihrem Anliegen in der Kita und sprechen die Erzieherin an, die sie gerade erwischen. Es gibt keinen Zettel mit Nummern, die zeigen, wann jemand an der Reihe ist, kein Schreibtisch schafft Distanz zwischen pädagogischen Fachkräften und Eltern. Kaum ein anderer Beruf ist so wenig vor spontanen Überfällen geschützt.
Dabei nehmen die Ansprüche der Eltern zu. Schließlich richtet sich unser Alltagsleben immer mehr nach Marktgesetzen: „Jetzt sichern!“ schreit uns die Werbung on- und offline entgegen. Schneller sein als andere, in erster Linie an sich denken, den persönlichen Gewinn im Auge behalten. Ein Denken, das auch vor der Kita nicht Halt macht.
Umso wichtiger ist es, die Kontakte zu Eltern als berufliche und nicht als persönliche Aufgabe zu erleben, sich in der Kita nicht aussaugen zu lassen, Unstimmigkeiten und Konflikte nicht mit nach Hause zu nehmen. All das ist möglich, wenn zwei Dinge gelingen: eine innere Distanz
zum Geschehen aufzubauen und die eigenen Grenzen gegenüber den Eltern zu verteidigen. Beides kann geübt und als Selbstverständlichkeit verinnerlicht werden.
Was den meisten pädagogischen Fachkräften fehlt, ist die Fähigkeit, Konflikte als nur vorübergehende Störung des Kontakts anzusehen und sie deshalb gut aushalten zu können. Ambiguitätstoleranz heißt diese Fähigkeit. Fehlt sie, tritt an die Stelle einer gesunden Konfliktbereitschaft die Angst vor Auseinandersetzungen. Dann gelingt es nur noch schwer, sich bewusst zu machen, dass vom Verlauf eines Konflikts weder das persönliche Heil noch der
eigene Wert abhängt. Das aus der Angst vor Auseinandersetzungen entstandene Bedürfnis nach Harmonie verhindert eine angemessene und deutliche Verteidigung eigener Grenzen. Genau diese Grenzziehung aber ist notwendig!
Stellen wir uns folgende Situation vor: Andrea P., Mutter von zwei Kindern, Chemielaborantin und im Elternbeirat, ist genervt. Das ist ihr schon von Weitem anzusehen. Sie spricht immer die Erzieherin an, der sie gerade begegnet. Es ist ihr anscheinend egal, an wen sie dabei gerät. Irgendwie scheint sie sich als Sprecherin aller Eltern zu verstehen, die „sich nicht trauen, sich zu beschweren“. Heute geht es ihr um das Mittagessen. Das wäre gestern, wie
ihr eine andere Mutter erzählt hat, „schon wieder“ nur lauwarm gewesen. Sie will nun wissen, wie das genau läuft. Ihre Vermutung ist, dass es zu lange dauert, bis die Kinder endlich am Tisch sitzen und essen können. Nebenbei erzählt sie von anderen Vorkommnissen: dass „immer wieder“ Kinder Sand in den Haaren und in der Kleidung hätten, dass sie beobachtet hat, wie Erzieherinnen in Konfliktsituationen nur dabeistünden und zuschauten, und dass es in den Kindertoiletten stinke. Das alles habe sie schon häufig angesprochen, es passiere aber nichts, beklagt sie sich. Und andere Eltern sähen das übrigens genauso. Für so manche Kollegin ist Andrea P. mittlerweile die Frau „mit dem Sprechdurchfall“.
Wie darauf reagieren? Die Elternbeirätin erwartet nicht nur einmal im Monat, dass ihr zugehört wird. Sie bringt ihre Anliegen regelmäßig vor. Und in der schon lange existierenden WhatsApp-Gruppe tauschen sich interessierte und engagierte Eltern eben auch über tatsächliche oder angebliche Missstände in der Kita aus. Die Erzieherinnen wissen aber nicht, welche Nachrichten dort geschrieben werden. Das macht sie unsicher. Zudem sind die Beobachtungen bezüglich des Sandes in den Haaren und des Geruchs auf den Toiletten nicht zu leugnen. Und das ist ihnen ein wenig peinlich.
Andrea P. beschäftigt die Erzieherinnen aber nicht nur in Tür-und-Angel-Situationen, sondern auch im Elternbeirat. „Immer wieder die!“, denken einige nicht nur für sich. Es fällt einem also gar nicht so einfach, die Ruhe zu bewahren und das Unwesentliche vom Wesentlichen zu trennen, wenn Andrea P. mit ihren Beschwerden vor einem steht.
Bevor aber irgendetwas geschieht, bevor etwas versprochen, abgestritten, geleugnet, gerechtfertigt, klargestellt oder verhandelt wird, sind im Umgang mit Beschwerden von Eltern aber zwei Schritte unabdingbar: 1. Die Beschwerde annehmen und 2. Beschwerdeklarheit herstellen. Beides ist überhaupt nur aus einer professionellen Distanz heraus möglich.
Der erste Schritt ist getragen von der Überzeugung, dass es besser ist, etwas darüber zu erfahren,
was Eltern bewegt, als hier im Unklaren zu sein. Denn je länger sich der Unmut aufstauen kann, umso heftiger wird er und umso schwerer wird es, mit den
Betroffenen zu kommunizieren. Ziel des professionellen Umgangs mit Beschwerden ist es deshalb, so viele zu hören wie möglich.
Zurück zu Andrea P.: Sie informiert nicht neutral über ihre Anliegen, sondern lässt gleichzeitig grundsätzliche Zweifel an der Professionalität der Kita durchscheinen. Sie verallgemeinert und wertet ab. Es ist also verständlich, wenn Erzieherinnen die versteckten Angriffe und Abwertungen spüren und am liebsten nichts mit Andrea P. oder sich in ähnlicher Weise verhaltenden Eltern zu tun haben möchten.
In solchen emotional zugespitzten Situationen hilft es Erzieherinnen, sich klarzumachen, dass das eigene Wohlergehen nicht von Andrea P.s Zufriedenheit abhängt. Dafür gibt es viele Strategien. Meine persönliche Lieblingsstrategie ist, mir zu sagen: „Du bist schon erwachsen und brauchst nichts zu befürchten.“ Denn es ist oft das innere Kind, das sich angegriffen, herabgewürdigt und ohnmächtig fühlt, das abhängig ist von der Bewertung anderer. Sich erwachsen zu fühlen, schafft mehr Handlungsspielraum.
Erwachsene könnten Andrea P. einfach unterbrechen und freundlich sagen: „Entschuldigen Sie bitte, Frau P. Ich kann mich im Moment leider nicht auf Sie konzentrieren und Ihnen zuhören. Ich spreche Sie morgen, wenn ich mehr Zeit habe, noch einmal darauf an. Jetzt bitte ich Sie freundlich, zu gehen.“ Frau P. wird das nicht hören wollen und sich weiter beschweren, vielleicht auch heftig werden. Da hilft die „hängende Schallplatte“: Die Erzieherin wiederholt einfach, was sie gesagt hat – wenn nötig mehrere Male.
„Puh, das ist aber schwer“, werden Sie vielleicht denken. Das stimmt. Aber nur für den Moment und solange es ungewohnt ist, und zwar für beide Seiten. Sie werden erleben, dass eine solch klare Aussage die Beziehungsstörung auf eine Erwachsenenebene hebt und sie damit erst bearbeitbar macht. Sie fühlen sich weniger verunsichert und brauchen sich nicht mehr darüber zu ärgern, dass Andrea P. Sie überfallen hat, weil Sie die Situation beherrschen
und Ihre Grenze deutlich gemacht haben. Ein schönes Gefühl. So sind Sie später in der Lage, Andrea P. in aller Freundlichkeit anzusprechen und ihr zuzuhören. Die Mutter wird sich ebenfalls daran gewöhnen, dass die pädagogischen Fachkräfte nicht ständig verfügbar sind.
Es gibt noch eine andere Möglichkeit, sich selbst in einen guten Zustand zu bringen: einfach an etwas Schönes denken. Das kann ein anstehender Kinobesuch, ein schönes Urlaubserlebnis oder die Tatsache sein, dass es jetzt nur noch wenige Stunden bis zum Feierabend sind. An all dem kann auch Andrea P. nicht rütteln. Hilfreich kann es auch sein, sich das Schlimmste vorzustellen, was passieren kann. Denke ich darüber nach, stelle ich nämlich
recht schnell fest, dass eigentlich gar nichts wirklich Schlimmes passieren wird. Andrea P. wird vielleicht nicht zufrieden sein. Na und? Sie wird sich vielleicht bei der Leiterin beschweren. Na und?
All das läuft in unserem Inneren ab und hilft uns, erst einmal Abstand zu gewinnen und die Sache mit einer gewissen Distanz von außen betrachten zu können. Das braucht es. Das Problem ist, dass wir nicht erwarten können, dass unsere Grenzen von selbst respektiert werden. Mein Gegenüber muss meine Grenzen erst einmal kennengelernt haben. Und dafür, dass das geschieht, sind wir immer selbst verantwortlich. Auf den Punkt gebracht, ist die Verdeutlichung von Grenzen ein aufrichtiges Beziehungsangebot. Wir wissen alle aus unserem Alltag, dass keine Beziehung auf Dauer tragen kann, in der nicht wirklich die persönlichen Grenzen ausgehandelt worden sind.
In einem zweiten Schritt geht es darum, zu klären, worin das Anliegen meines Gegenübers eigentlich besteht. Bei Andrea P. zum Beispiel
weiß man das gar nicht. Die Erzieherin, mit der sie zu tun hat, muss also Beschwerdeklarheit herstellen. Das tut sie, indem sie präzise und ernsthaft interessiert nachfragt. Das ist kein Trick, und es geht auch gar nicht darum, mein Gegenüber zu verunsichern. Es geht um Klärung.
Am liebsten würde die Erzieherin die Vorwürfe gleich zurückweisen. Denn sie ist innerlich mit der Frage beschäftigt, wie sie es schafft, bald zu den Kindern zurückzugehen. Und natürlich treffen sie die Vorwürfe auch emotional. Aber es hilft trotzdem nichts. In diesem Moment kommt es darauf an, das Heft in die Hand zu nehmen. Das gelingt am besten, wenn sie ihren Fokus darauf richtet zu klären, worum es geht. Darauf zielen nun ihre Fragen, etwa: „Frau P., Sie haben nun einige Dinge aufgezählt, mit denen Sie nicht zufrieden sind. Wenn ich es richtig verstanden habe, waren das ... Welches dieser Probleme ist Ihnen im Moment denn das wichtigste?“ Die Erzieherin könnte auch versuchen, die Vorwürfe selbst zu sortieren: „Frau P., was den Sand in den Haaren angeht, haben Sie recht. Auch was den Geruch in den Toiletten betrifft, muss ich Ihnen recht geben. Wenn Sie möchten, erzähle ich Ihnen gerne bei Gelegenheit, wie wir es mit dem Sand halten und weshalb wir das tun. Was die Toiletten betrifft, sind wir dran und suchen selbst eine Lösung. Was mich im Moment aber am meisten interessiert, ist Ihr Vorwurf, es dauere zu lange, bis die Kinder beim Essen sitzen. Könnten Sie mir darüber bitte noch etwas Genaueres erzählen?“ Wofür die Erzieherin sich auch immer entscheidet, das Wichtige ist, sie steuert die Kommunikation. Das tut sie, indem sie genau das wissen möchte, was hilfreich wäre, um das Problem produktiv anzupacken.
Es könnte natürlich sein, dass Andrea P. darauf nicht eingeht und noch das eine oder andere zusätzlich draufpackt. In diesem Fall ist es tatsächlich ratsam, das Gespräch nicht fortzuführen: „Frau P., das sind eine Menge Vorwürfe, die Sie da erheben. Ich möchte mir deshalb etwas mehr Zeit nehmen, um dies alles in Ruhe mit Ihnen zu besprechen. Das geht aber nicht jetzt zwischen Tür und Angel.“
In keinem einzigen Fall rechtfertigt sich die Erzieherin. Sie hält Abstand. Sie weiß, es gibt zwar Probleme, und sie ist dafür verantwortlich, den Kontakt
professionell zu gestalten. Sie ist aber nicht dafür verantwortlich, dass ihr Gegenüber am Ende auch zufrieden ist. Wenn es gelingt, ist es gut, wenn nicht, auch. Was gelingen muss und nicht schiefgehen darf, geht irgendwann katastrophal schief, sagt der Journalist Reinhard Kahl in seinem Film „Lob des Fehlers". Und er hat recht. Das beste Beispiel dafür ist die Geschichte der DDR.
In der Kommunikation bedeutet das, unablässig mit der eigenen Angst vor einem Misslingen beschäftigt zu sein, statt aus einer gewissen Distanz heraus wahrzunehmen, was im Augenblick möglich ist und was nicht, und das Gespräch entsprechend professionell zu steuern. Vielleicht ist das die wichtigste
Voraussetzung, damit der Kontakt gelingen kann und pädagogische Fachkräfte in schwierigen Situationen bei sich bleiben können, das Eingeständnis, dass ein Gespräch auch schiefgehen darf.Fehlers“.
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