Die Kita-Kinder der Buntspecht-Gruppe sitzen am Frühstückstisch. Julian zeigt auf die Milch, sein Becher ist leer. Barbara, die neue Erzieherin, fordert Julian auf: „Du musst mir sagen, dass du die Milch haben möchtest. Sonst weiß ich doch nicht, was du willst.“ – „Milch haben“, sagt Julian, Sprechen ist nicht seine Stärke. Barbara nickt ihm zu und reicht ihm die Milch, Julian frühstückt weiter.
Szenen wie diese spielen sich vermutlich tagtäglich in Hunderten von Kindergärten ab. Sie sind ganz unauffällig. Barbara möchte Julian dazu motivieren, Sprache zu kommunikativen Zwecken einzusetzen. Sie ist davon überzeugt, dass er auf diese Weise seine Ziele besser erreichen kann. Sie handelt in bester Absicht, dennoch sitze ich mit einem beklommenen Gefühl daneben.
Der Preis des Sprechens
„Da passt etwas nicht“, denke ich. Die Kommunikation zwischen den beiden wirkt steif und unecht, und was Barbara sagt, ist nicht logisch. In ihrer Äußerung ist offenkundig, dass sie bereits verstanden hatte, was Julian wollte, bevor er es sagte. Wozu sollte er es dann noch einmal sagen? Julians Blick lässt erkennen, dass er den Widerspruch bemerkt, und auch Barbara selbst scheint sich dessen bewusst zu sein. Beide erfassen, dass Julian zuerst eine (ihm unangenehme) Leistung erbringen muss, bevor er die Milch bekommt. Das Aussprechen der Worte ist gewissermaßen der Preis, den er dafür zu zahlen hat, dass Barbara ihm die Milch gibt. Er fügt sich und tut, was von ihm verlangt wird. Glücklicherweise, denke ich, fordert die Fachkraft von ihm wenigstens keinen syntaktisch korrekten Satz.
Julian ist ein Kind, das in seiner Sprachentwicklung sehr beeinträchtigt ist. Barbara sieht es als ihre Aufgabe an, ihn zum Sprechen zu animieren. Sie möchte ihm deswegen die Erfahrung vermitteln, durch den Einsatz von Sprache etwas erreichen zu können. Da er von sich aus wenig spricht, meint sie, verbale Äußerungen von ihm einfordern zu müssen. Aber hat Barabara damit recht?
Wie denken Sie darüber, liebe Leserinnen und Leser? Halten Sie es für das Beste, Julian zum Aussprechen der Worte zu animieren? Oder würden Sie eine Alternative wählen? Worin sehen Sie die Vor- und Nachteile?
Ich bin nicht sicher, dass dies der beste Weg ist. Wenn Julian lernt, dass er sprechen muss, um zu bekommen, was er will, wird er Sprache als notwendiges Übel erfahren. Solange es nicht nötig ist, wird er folglich lieber schweigen. Er wird am Frühstückstisch sitzen, an seinem Brot herumkauen und an der Gruppengemeinschaft wenig teilhaben. Hilft es Julian, wenn er zum Sprechen aufgefordert wird? Ist Sprechen nicht eher etwas Spontanes und Lebendiges, dem Gelegenheiten geboten werden sollten und das gegebenenfalls hervorgelockt werden kann?
Immer wieder bin ich überrascht darüber, wie gerne Kinder erzählen, sobald sie merken, dass sie verstanden werden. Schweigsame, angeblich sprechfaule Kinder mutieren quasi über Nacht zu kleinen Plaudertaschen, die gar nicht aufhören können mitzuteilen, was sie alles tun, können und erleben. Wenn ihre Sprech- und Erzählfreude geweckt ist, nimmt ihre Sprachentwicklung Fahrt auf. Das Artikulieren und Formulieren kann mühsam sein – es ist kein Zufall, dass sie bisher wenig sprachen. Harte Arbeit in der Logopädie ist erforderlich, um die Verständlichkeit zu verbessern. Aber die Kinder wollen verstanden werden. Die Lust an der Gemeinschaft ist der Motor ihrer Sprachentwicklung.
Hinter dem Unbehagen an der unspektakulären Frühsstückszene steckt die Frage nach der Beziehung zwischen verbaler und präverbaler Kommunikation. Es ist eine komplexe Frage. Barbara scheint vorauszusetzen, dass Julians nonverbale Methode, sein Bedürfnis durch Zeigen mitzuteilen, durch ein verbales Vorgehen ersetzt werden sollte. Sie hält es für problematisch, Julian mit dem Zeigen durchkommen zu lassen, und sieht einen notwendigen Entwicklungsschritt darin, Sprache an die Stelle des Zeigens treten zu lassen. Kurz: Sprechen ist ihrer Auffassung nach besser als Zeigen. Tatsächlich lässt sich nicht bestreiten, dass Sprechen gegenüber Zeigen viele Vorteile bietet: Es vermittelt die Bedeutung präziser und wird auch dann wahrgenommen, wenn gerade niemand in Julians Richtung sieht.
Zeigen und Sprechen als konkurrierende Alternativen aufzufassen, ist allerdings nicht die einzige Möglichkeit. Zeigen könnte auch ein Vorläufer des Sprechens sein. Ein Verhalten, das die Sprache vorbereitet und gegebenenfalls ergänzt. Dieser Vermutung liegt die Einsicht zugrunde, dass Zeigen eine symbolische Geste ist, deren Bedeutung entschlüsselt werden muss. Das Symbolisieren des Zeigenden und das Entschlüsseln des Beobachters machen von Fähigkeiten und Motiven Gebrauch, die in gleicher Weise in der verbalen Kommunikation zum Einsatz kommen. Um welche Fähigkeiten und Motive handelt es sich? Der Zeigende, der mit ausgestrecktem Arm und ausgestrecktem Zeigefinger auf etwas hinweist, richtet sich in seiner gesamten Körperhaltung und in seinem Blick auf das aus, worauf er zeigt. Er scheint voll und ganz von dem absorbiert, was sein Interesse geweckt hat. Zugleich bleibt er mit seiner Faszination nicht allein, sondern nimmt einen anderen Menschen mit hinein. Indem er zeigt, lenkt er dessen Aufmerksamkeit und synchronisiert sie mit seiner eigenen. Es entsteht eine triadische Beziehung, denn das Zeigen bewirkt, dass beide ihre Aufmerksamkeit gleichzeitig auf dasselbe Objekt richten und dies auch bemerken. Das Ergebnis ist eine geteilte Erfahrung, die Teil ihres gemeinsamen Hintergrunds wird. Die Bedeutung des gemeinsamen Erfahrungshintergrunds für die Sprachentwicklung des Kindes lässt sich schwerlich überschätzen.
Wie sehr es das Verstehen begünstigt, viel miteinander erlebt zu haben, lässt sich am besten bei kleinen Kindern mit ihren großen Geschwistern beobachten. Was halten Sie von der Vermutung, dass wir alle, Kinder wie Erwachsene, am liebsten dort erzählen, wo wir damit rechnen, verstanden zu werden und unsere Erfahrungen mit anderen teilen zu können?
Das spontan zeigende Kleinkind muss von all dem noch nichts wissen. Stellen wir uns die zwölf Monate alte Emily vor, die bei ihrem Vater auf dem Arm sitzt. Das Mädchen entdeckt auf der Wiese eine Kuh und zeigt nun auf sie. Sicher hat Emily noch keine Metaperspektive auf das Geschehen und keine Einsicht darin, welche geistigen Prozesse sie bei ihrem Vater auslöst. Vielleicht würde sie sogar auf die Kuh zeigen, wenn niemand da wäre, der es sehen könnte. Sie bemerkt jedoch, ob ihr Zeigen auf fruchtbaren Boden fällt und eine passende Reaktion hervorruft. Schaut ihr Vater auf das falsche Objekt, vielleicht auf den blühenden Apfelbaum neben der Kuh, bemüht sie sich um eine Korrektur. Energisch wiederholt sie ihre Geste und vokalisiert dazu. Gelingt es nun, eine gemeinsame Aufmerksamkeit herzustellen („Oh ja, da ist eine Kuh, sie frisst gerade Gras, bestimmt findet sie es lecker!“), wird dies offenbar als Erfolg erlebt. Die Kuh wird von Vater und Tochter ausgiebig besichtigt und besprochen, um anschließend zu neuen Entdeckungen weiterzugehen. Das Zeigen nimmt die dialogische Struktur von „Äußerung – geteilte Aufmerksamkeit – Antwort“ der verbalen Kommunikation vorweg und ist ein Akt, der Kooperation sowohl voraussetzt wie herstellt. Damit trägt er zur psychologischen Infrastruktur bei, auf der eine gemeinsame Sprache aufbaut.
Wenn die Worte fehlen
Keineswegs hören wir mit der nonverbalen Kommunikation auf, wenn wir zur verbalen fähig sind. Gestik und Mimik, diverse Hand-, Körperund Blickbewegungen bilden die Begleitmusik unserer Gespräche und werden durch Wörter nicht überflüssig gemacht. Die nonverbale Kommunikation kommentiert, illustriert und ergänzt die verbale. Sie hilft auch dort, wo die Worte fehlen. Die Geste des Zeigens ist Teil eines Systems, mit dem wir Menschen einander verständlich machen, was wir fühlen und denken und was wir von- und miteinander wollen. Etwa im Alter von zehn oder elf Monaten tritt sie bei den meisten Kindern erstmals spontan auf. Vielleicht möchte das Kind den Gegenstand, auf den es zeigt, ergreifen, kann ihn aber nicht erreichen. Vielleicht will es auch wie Emily die Aufmerksamkeit eines Erwachsenen auf ihn lenken. In jedem Fall hat etwas sein Interesse geweckt, und sein Zeigen macht dies deutlich. Seine Begeisterung für einen Müllwagen, ein Feuerwehrauto, einen Hund, einen Vogel oder eine Ameise teilt sich in seiner Geste mit. Je besser wir das Kind kennen, desto leichter fällt es uns, seine Geste richtig zu interpretieren. Der gemeinsame Erfahrungshintergrund, ohne den Zeigen nicht funktionieren würde, wird um eine weitere Erfahrung bereichert. Wer anderen etwas zeigt, zeigt immer auch etwas von sich selbst. Erlebt man sich damit willkommen, werden die ungleich weiter gespannten Mittel der Sprache bald gern genutzt, um das aufgenommene Gespräch fortzusetzen.
Ist es nicht etwas besonders Lebendiges und Bereicherndes, wenn ein Kind seine Faszination und Begeisterung mit uns teilt? Erinnern Sie sich an Zeigegesten, die Sie besonders berührt und bewegt haben?
Ich bin fest davon überzeugt, Barbara braucht sich keine Sorgen zu machen, dass Julian dauerhaft im Modus des Zeigens verharren wird – auch wenn sie ihm die Milch einfach gibt. Vielleicht kann sie ihr Tun verbal begleiten: „Julian, willst du die Milch haben? Alles klar, hier ist sie.“ Sie kann auch sagen: „Oh Julian, jetzt sehe ich, dass du die Milch haben möchtest. Weißt du: Wenn ich es mal nicht sehe, rufst du einfach, okay?“ Je genauer sie versteht, dass Julian nicht nur Milch haben möchte, sondern auch, worin seine Schwierigkeiten bestehen, sich verbal mitzuteilen, desto mehr wird ihr einfallen, wie sie ihn unterstützen kann. Verstehen ist der beste Weg, die Sprachentwicklung der Kinder anzuregen.
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