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Sie leben seit 2018 in Mexiko. Können Sie uns schildern, wie Sie den Pandemiebeginn 2020 wahrgenommen haben?
Jaqueline Treu: Oh ja, ich kann mich noch sehr gut an den Moment erinnern, als alles losging. Ich habe am 5. März Geburtstag und letztes Jahr haben wir noch ganz normal gefeiert. Zwei Wochen später, am 18. März, hieß es dann plötzlich im Kindergarten: Kinder und Fachpersonal müssen sofort nach Hause! Meine Kollegin meinte noch zu mir: „Jackie, mach dir keine Sorgen, das geht bestimmt nur eine Woche, wie bei Influenza. Nimm nicht so viele Sachen mit.“
Aber dem war nicht so …
Nein, aus einer Woche wurde eine sehr lange Zeit. Wir alle haben gewartet, was passiert, aber es hat sich hingezogen. Einen Monat später, im April, sind die Eltern immer unruhiger geworden: Wie geht es denn jetzt weiter? Wann können die Kinder zurück in die Einrichtung? Und auch wir als Fachpersonal wussten nicht, was passieren würde. Diese Ungewissheit war für alle schwer. Dazu kam noch, dass bei uns im März und April die Einschreibungen stattfinden und die Eltern die Gebühren für das kommende Kindergartenjahr zahlen müssen. Deshalb haben wir uns natürlich doppelt gefragt: Machen wir auf, machen wir nicht auf? Wie viele Kinder haben wir im kommenden Jahr? Das war wirklich nervenaufreibend. Als Erzieherin kam mir natürlich auch der Gedanke: Habe ich überhaupt noch meinen Job?
Wann hat Ihre Einrichtung dann wieder geöffnet?
Gar nicht. Seit März 2020 haben wir geschlossen. Bis heute. Es sind jetzt fast eineinhalb Jahre, in denen ich das Gebäude des Kindergartens nicht mehr betreten habe und zu Hause bin. Das ist schon verrückt.
Das heißt, seit März 2020 findet kein pädagogisches Arbeiten mehr statt?
Doch, natürlich! Seit Tag eins der Schließung bieten wir eine Online-Kita an.
Eine Online-Kita? Wie können wir uns das vorstellen?
Es ist ganz ähnlich wie der Online-Unterricht, den wir aus der Schule kennen. Noch im März 2020 haben wir zusammen mit unserer Leiterin ein Online-Programm für die Kinder erstellt. Über Teams (Anm. d. R.: Microsoft Teams ist eine digitale Plattform, die Chats, Notizen und Online-Besprechungen anbietet) haben wir uns zunächst an drei Tagen online mit den Kindern getroffen. Im normalen Kita-Alltag arbeiten wir mit Themenblöcken, wie zum Beispiel Insekten, Zirkus, Lego. Die inhaltliche Struktur haben wir online beibehalten. Montags gab es digital gemeinsame Sportübungen oder Kinder-Yoga, mittwochs wurde gebacken und freitags gebastelt. Am Dienstag und Donnerstag haben die Erzieher:innen kleine Videos mit Aufgaben oder Spielen gedreht und sie den Eltern für die Kinder geschickt.
Online-Backen mit Kindergartenkindern. Wie läuft das ab?
Da müssen die Eltern natürlich gut mithelfen – wie in vielen Bereichen der Online-Kita. Unsere Einrichtung ist ein privater Kindergarten, die Gruppen klein und der Austausch mit den Eltern sehr eng. Alles war vorher also mit den Eltern abgestimmt und viele Ideen, wie das Backen, kamen von ihnen. In Mexiko ist es außerdem üblich, dass gut situierte Familien, zu denen viele unserer Eltern gehören, eine Nanny haben, die sich um die Kinder kümmert, oder dass ein Elternteil zu Hause bleibt. Beim Backen läuft es also so ab, dass wir eine Woche vorher eine Einkaufsliste an die Eltern schicken und diese dann alles besorgen. Während des Online-Backens ist ein Erwachsener anwesend, der helfen kann, den Herd anmacht, aufpasst. Die älteren können viele Dinge schon allein. Und alle Kinder lieben das Backen und das anschließende gemeinsame Essen am digitalen Tisch.
Das klingt alles nach sehr viel organisatorischem Aufwand.
Das stimmt, und ich habe generell auch das Gefühl, im Home Office mehr zu arbeiten als im normalen Kita-Alltag. Zur pädagogischen Arbeit, der zeitintensiven Vorbereitung für die Online-Inhalte und der Planung kommt noch die Arbeit mit den Eltern. Die haben natürlich auch Ängste und wir sind gleichzeitig Erzieher:in, Coach und Ansprechpartner:in. Meine Nachmittage verbringe ich oft am Telefon und spreche mit den Eltern. Zum Glück haben wir wirklich tolle Eltern und mit den ein oder anderen hat sich durch die Pandemie auch so etwas wie eine Freundschaft entwickelt. Irgendwo sitzen wir ja alle im gleichen Boot.
Welche Entwicklung konnten Sie in der Online-Arbeit beobachten?
In den ersten Monaten der Pandemie war die Online-Kita zugegebenermaßen manchmal ein Kuddelmuddel, wir mussten ja von heute auf morgen aus der Einrichtung raus und uns schnell eine Strategie überlegen, wie es weitergeht. Im März 2020 haben wir mit gemischte Gruppen gestartet, das heißt, Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren waren alle in der gleichen Online-Gruppe. Das mag im normalen Kita-Alltag gehen, online ist das aber schwierig. Zu Anfang war uns Erzieher:innen freigestellt, wie wir die Online-Stunden gestalten. Natürlich sollten wir den jeweiligen Themenbereich beachten, konnten aber in der Durchführung individuell entscheiden. Das hatte Konfliktpotenzial. Als die Eltern gemerkt haben, dass eine Erzieherin digital vielseitiger war und mehr Ideen hatte, wollten sie, dass ihre Kinder in diese Gruppe wechselten. Nach den Sommerferien 2020 haben wir deshalb umstrukturiert. Seitdem arbeiten wir mit altershomogenen, kleineren Gruppen und alle Erzieher halten sich in ihren Online-Kita-Stunden an den gleichen Leitfaden, machen die gleichen Übungen und Spiele. Das strukturierte Arbeiten macht vieles leichter und es gibt keinen Grund für Neid unter den Eltern. Wobei ich auch sagen muss: Flexibles, individuelles Arbeiten ist immer noch möglich, man muss es vorher nur absprechen.
Wie sieht für Sie zurzeit ein typischer Arbeitstag aus?
Mein Tag beginnt um 9 Uhr, dann startet die Online-Kita mit der Kindergartengruppe 3, also den fünf- bis sechsjährigen, und dauert eine Stunde. Jede Online-Einheit machen wir übrigens zu zweit, wie im normalen Kita-Alltag auch: eine deutschsprachige und eine spanischsprachige Erzieherin. Mit den Großen ist es digital wirklich angenehm, die Eltern müssen fast nicht mehr unterstützen, die Kinder sind schon sehr selbstständig. In meiner Gruppe arbeiten wir gerade mit Arbeitsheften und verschiedenen Übungen für die Vorschule. Aber wir tanzen und singen auch viel. Der strukturierte Ablauf, den wir jetzt eingeführt haben, gibt den Kindern Sicherheit und Halt. Von 10.30 bis 11 Uhr geht es für mich mit der Kindergartengruppe 1 weiter, also mit den Dreijährigen. In meiner Gruppe sind es im Moment vier Kinder – und die Mütter oder Nannys sind hier auch immer dabei. Am Anfang habe ich mir gedacht: Oh Gott, ein dreijähriges Kind vor den Computer setzen, wie soll das denn gehen? Aber mit den richtigen Tricks ist es durchaus möglich: Im Kindergarten arbeite ich viel mit Handpuppen – und das funktioniert online auch super. Die Kinder haben Spaß und passen auf. Man muss sich zwar manchmal selbst zum Kasperl machen, aber das ist es mir wert. Außerdem singen und tanzen wir auch in dieser Gruppe viel. Die Kinder müssen sich bewegen und brauchen viel Abwechslung, sonst langweilen sie sich schnell vor dem Bildschirm. Manchmal sage ich auch einfach: „Lasst uns was aus Lego bauen.“ Das Schöne an der Online-Kita ist, dass es Kameras gibt, mit denen ich als Erzieherin die Entwicklung der Kinder ein Stück weit beobachten kann.
Endet die Online-Kita dann um 11 Uhr?
Nein, die Kinder können bis 13 Uhr verschiedene Gruppen und Einheiten besuchen. Jeder Tag läuft dabei ähnlich ab, eine Einheit mit mir oder einem anderen Erzieherteam, danach eine Sporteinheit mit den Sportlehrer:innen, dann Musik. Mittags bieten wir Erzieher:innen verschiedene frei wählbare Angebote und Projekte an. Ich mache zum Beispiel Zumba, die Kollegin macht Experimente. Wir geben den Kindern eine Routine, und die tut ihnen gut. Wenn ich mit Erzieher:innen in Deutschland spreche, die von Schließung, Notbetreuung, Öffnung und erneuter Schließung erzählen, glaube ich, dass die Kinder hier, zumindest was Routine und Struktur angeht, einen Vorteil haben.
Gibt es noch andere Vorteile, die sie bei der Online-Kita sehen?
Mein Sohn geht in die fünfte Klasse und sowohl bei ihm als auch bei den Kindergartenkindern merke ich, dass sie viel konzentrierter arbeiten. Sie lassen sich nicht so leicht ablenken, sind fokussierter. Das merke ich etwa bei der Spracharbeit. In die Deutschen Schule, zu der unser Kindergarten gehört, kommen ja nicht nur deutsche Kinder, sondern auch mexikanische, die noch kein Deutsch sprechen. Ich als deutsche Erzieherin spreche nur Deutsch mit den Kindern. Als letztes Frühjahr neue Kinder zu uns kamen und gleich mit der Online-Kita einstiegen, hatte ich schon meine Bedenken. Viele der Dreijährigen konnten noch kein Wort Deutsch. Wie sollte da der Fremdspracherwerb überhaupt gehen? Kindern musst du ja alles zeigen und sie lernen, indem sie die Objekte anfassen, sie fühlen.
Wie sind Sie mit der Situation umgegangen?
Ich habe erkannt: Was im normalen Kita-Alltag ganz spielerisch funktioniert, lässt sich digital auch umsetzen. Ich sage zum Beispiel zu den Kindern: „Holt mir etwas Gelbes.“ Die laufen dann los, halten mir etwas in die Kamera und müssen beschreiben, was es ist. Etwa: „Das ist ein Ball. Der Ball ist gelb.“ Auch Kimspiele funktionieren online. Ich lege zum Beispiel verschiedene Objekte zu einem Thema vor die Kamera, damit sie die Kinder sehen können.
Dann mache ich die Kamera aus, nehme Gegenstände weg oder verändere die Position und mache die Kamera wieder an. Die Kinder müssen dann raten, was sich verändert hat. Das fördert die Konzentration und natürlich auch die Sprache. Man kann online viel pädagogisch umsetzen. Das hätte ich selbst nie gedacht, aber wenn ich merke, was die kleinen, die Deutsch als Fremdsprache lernen, jetzt schon alles verstehen, ist das bemerkenswert. Und oft passiert online das Gleiche wie im normalen Kindergarten: Wenn ein Kind nicht versteht, was ich auf Deutsch zu ihm sage, hilft ein anderes und übersetzt oder formuliert es um. Also auch das soziale Miteinander unter den Kindern kann auf einer bestimmten Ebene stattfinden.
Sie haben über die Vorteile der Online-Kita für Kinder gesprochen. Haben Sie persönlich auch Positives aus der Situation ziehen können?
Ich bin in vielen Bereichen selbst über mich hinausgewachsen. Zum einen, was die digitale Handhabe angeht. Vor der Pandemie hatte ich von dem ganzen Computerzeugs überhaupt keinen Plan. Wie gestalte ich eine Online-Stunde, wie lade ich digitales Material auf Teams hoch, wie mache ich ein Video-Tutorial? Da habe ich sehr viel dazugelernt. Und die Kinder natürlich auch. Zum anderen bin ich kreativer geworden, sei es im Umgang mit neuen Herausforderungen, mit der digitalen Umsetzung von Spielen, mit dem Kontakthalten zu Kind und Eltern. Und ein Punkt, der für mich auch wichtig ist: Durch die Online-Kita bin ich als Erzieherin einer Ansteckung mit Corona nicht so stark ausgesetzt. Da beneide ich meine deutschen Kolleg:innen nicht.
Was sagen die Kinder zur Online-Kita?
Insgesamt haben die Kinder die Umstellung sehr gut aufgenommen. Wenn ich morgens um 9 Uhr die Kamera einschalte, werde ich von strahlenden Gesichtern begrüßt und alle freuen sich, dass wir uns online sehen können. Ich hätte nie gedacht, dass man so viel Vertrauen zu den Kindern aufbauen kann, obwohl alles nur digital stattfindet. Klar gibt es Phasen, in denen ein Kind mal keine Lust hat. Bei einem Mädchen aus meiner Gruppe war das so. Über zwei Wochen wollte sie sich nicht einloggen. Ich habe dann mit der Mutter telefoniert und wir haben entschlossen, dass wir einfach abwarten. Ich kann ein kleines Kind ja nicht dazu zwingen, dass es sich vor den Computer setzt. In der Zeit habe ich dem Mädchen immer wieder Videos und Nachrichten geschickt, um den Kontakt aufrechtzuerhalten und sie zu motivieren. Irgendwann hat sie sich wieder eingeloggt. Den Kontakt zu halten ist generell eine wichtige Aufgabe während der Pandemie. Normalerweise würden wir die Kinder ja jeden Tag mehrere Stunden persönlich sehen. Durch die Online-Kita verschiebt sich das und muss anderswo ausgeglichen werden. Aber: Die Zeit, die die Kinder jetzt weniger mit uns Erzieher:innen verbringen, gewinnen sie mit ihren Eltern. Und das ist ein großer Mehrwert. Viele Familien haben uns erzählt, dass ihre Beziehung viel enger geworden ist und dass die Kinder in der Pandemie große Sprünge machen, an der Situation wachsen und selbstständiger werden.
Gibt es auch Aspekte, die in der Online-Kita zu kurz kommen und die Ihnen aus dem normalen Kindergarten-Alltag fehlen?
Ich vermisse den engen Kontakt zu den Kindern. Sie persönlich zu sehen, sie zu umarmen. Das ist ein Nachteil an der Online-Lösung. Es geht mir jetzt nach knapp eineinhalb Jahren Home Office auch ab, mal wieder rauszukommen, nicht den ganzen Tag zu Hause zu sitzen,
unter Menschen zu sein. Auch für die Kinder untereinander ist es im Moment schwer, Freundschaften aufzubauen. Manches findet zwar privat statt, wenn Eltern sich zusammentun und sich nachmittags im kleinen Kreis mit ihren Kindern treffen. Aber große Zusammenkünfte gibt es nicht, weil die meisten unserer Eltern einfach sehr vorsichtig sind und das Risiko einer Ansteckung nicht eingehen wollen.
Wie geht es im Sommer weiter?
Der Plan ist, dass zumindest wir Erwachsenen bald geimpft sind und dann zurück in die Einrichtung können. Für die Lehrer:innen und Erzieher:innen der deutschen Schule gibt es voraussichtlich in den kommenden Wochen einen Impftermin. Ein paar Kolleg:innen sind aber schon privat in die USA geflogen und haben sich dort impfen lassen. Im August wollen wir dann wieder öffnen, natürlich, ähnlich wie in Deutschland, mit zusätzlichen Maßnahmen wie Masken, kleinere Gruppengrößen und vielen Aktivitäten an der frischen Luft. Wir überlassen es aber den Familien, ob sie ihre Kinder zurückschicken. Für diejenigen, die das wegen des Ansteckungsrisikos vorerst nicht möchten und ihre Kinder deshalb daheim lassen, haben wir geplant, den Kindergarten-Alltag online zu übertragen. Unsere Räume wurden schon mit Kameras und Bildschirmen ausgestattet, damit auch Kinder von zuhause aus per Computer am Kita-Geschehen teilnehmen können. Und unseren schulinternen Youtube-Kanal, den wir seit Pandemiebeginn mit Lesegeschichten, Spielimpulsen und anderen Videos bestücken, möchten wir auch weiterführen.
Jaqueline Treu (35), die von allen Jackie genannt wird, kommt aus Würzburg und lebt seit vier Jahren gemeinsam mit ihrem elfjährigen Sohn in Puebla, Mexiko. Dort arbeitet sie als Erzieherin im Kindergarten der deutschen Schule Colegio Humboldt.
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