22.06.2021
Barbara Senckel

Ich sprang nur über Gräbelein

Märchen machen Mut und spenden Trost. Die Psychologin Barbara Senckel erklärt, woher diese Wirkung kommt und warum Goldmarie und ein armer Müllerbursch Kindern helfen, schwierige Aufgaben in ihrer Entwicklung zu meistern.

Märchen haben ihren festen Platz in der Arbeit in Kindertagesstätten. Aus gutem Grund: Sie gehören zum Kulturschatz einer jeden Gesellschaft. Denn es gibt keine Gesellschaft auf der Welt, die nicht ihre eigenen Märchen hervorgebracht und von Generation zu Generation weitergegeben hätte. Damit zeigen Märchen ihre identitätsstiftende Kraft.

Gleichwohl werden sie viel zu oft übersehen, als unzeitgemäß beiseitegelegt, als von modernen Geschichten abgelöst und deshalb als überflüssig erachtet. Doch Märchen sind Geschichten, die bildhaft wichtige Botschaften vermitteln, nämlich wie Lebensprobleme oder Entwicklungsaufgaben konstruktiv gelöst werden können. Dies geschieht, indem der Held oder die Heldin des Märchens – das sind in der Identifikation auch der Hörer oder Leser, der sich auf das Geschehen einlässt – unbeschadet eine schwierige Situation meistert und als gereifte Persönlichkeit aus ihr hervorgeht.

Natürliche und übernatürliche Welten vereint

Märchen haben eine typische Struktur, die der pädagogischen Arbeit sehr entgegenkommt. Sie beginnen zumeist mit einer schwierigen Ausgangslage, die von der Geburt bis zum Tod alle elementaren Bereiche des Lebens betreffen kann und durch die sich eine Aufgabe ergibt, die am Schluss gemeistert wird. Das gute Ende befriedigt und stärkt das Vertrauen der Hörer, dass sie selbst – die sich vornehmlich mit dem Helden identifizieren – ihre Schwierigkeiten ebenfalls bewältigen werden. Der Held der Handlung eignet sich besonders gut für Kinder als Identifikationsfigur, denn er ist immer gutmütig, sympathisch, oftmals das jüngste Kind und im Sinne der Leistungsgesellschaft nicht erfolgreich. Ihm treten Kontrastfiguren zur Seite: Gegner oder Helfer, die häufig der außermenschlichen Welt angehören, wie Hexen, Teufel, Feen und Zwerge. Eine wichtige Funktion kommt auch Tieren oder Gegenständen zu, die oft mit übernatürlichen Kräften ausgestattet sind. Zur Lösung der Märchenaufgabe bedarf es durchaus wunderbarer Fähigkeiten. Das Wunderbare aber ereignet sich so selbstverständlich wie das Gewöhnliche. So erschafft das Märchen die Einheit von natürlicher und übernatürlicher Welt und erweitert den Empfindungsraum. Schon das wirkt persönlichkeitsfördernd.

Märchen bevorzugen kein Geschlecht

Die Personen im Märchen werden nicht als ausdifferenzierte Charaktere geschildert, sondern als eindimensionale Figuren, die eine bestimmte Funktion erfüllen und nur wenige eindeutige und klare Merkmale besitzen. Goldmarie ist schön, liebenswert und fleißig, die Stiefschwester gehässig und faul, der Riese stark und dumm, Daumesdick klein und pfiffig. Obwohl die einzelnen Figuren sehr eindeutig jeweils mit wenigen Merkmalen gekennzeichnet sind, ist – insgesamt betrachtet – das Menschenbild der Märchen sehr komplex. Denn sowohl Männer als auch Frauen können dumm und klug, überheblich und bescheiden, mitleidig und hartherzig, hilfsbereit, initiativ, mutig, sich auf den Weg machend sowie auch erlösungsbedürftig sein. Die Kritik, Märchen vermitteln geschlechtlich einseitige Rollenklischees, trifft, wenn man die Fülle der Märchen betrachtet, nicht zu. Das Märchen bevorzugt auch kein Geschlecht. Kinderlose Paare wünschen sich in der Regel einfach ein Kind, ohne das Geschlecht zu benennen. Töchter werden ebenso geliebt wie Söhne, tendenziell eher mehr, zumindest wird es bei ihnen häufiger ausgedrückt. Und selbstverständlich sind Märchenhelden gleichermaßen männlich und weiblich. 

Genauso eindeutig und auf das Wesentliche reduziert sind die Gegenstände und Orte des Märchens: das goldene Kleid, die arme Hütte, der gläserne Berg, der dunkle Wald. So einfach gekennzeichnet, wird ein weiter Horizont eröffnet. Denn im Märchen erscheint die gesamte Wirklichkeit: arme und reiche Menschen, Alte und Junge, alle landläufigen Berufsstände, Feld und Wald, Meer und Gebirge, Sonne und Mond, Himmel und Hölle. Die Märchenstruktur entspricht dem anschaulichen Denken des Kindes und seiner Orientierung an den Gegensätzen. Zugleich bleibt es den Hörern überlassen, sich die Einzelheiten ihren Bedürfnissen gemäß auszumalen. Damit wird die Fantasie der Hörer unaufdringlich angeregt.

Die Handlung des Märchens verläuft in der Regel gradlinig und schreitet schnell voran, denn erzählt werden nur die handlungsrelevanten Elemente. Innere Prozesse kommen kaum zur Sprache, sie werden als Geschehen dargestellt. Auch Gefühlszustände – Freude, Trauer, Neid – werden nur knapp benannt und dann sofort in Tätigkeiten umgesetzt, beispielsweise in Feiern, Weinen und den Versuch, dem Rivalen zu schaden.

Als wichtiges Strukturelement der klar gegliederten Handlung dient die Wiederholung. Wiederholt werden entscheidende inhaltliche Aussagen, und zwar meist wörtlich, oft sogar in Reimform: „Warum sollt ich satt sein, ich sprang nur über Gräbelein und fand kein einzig Gräselein“ oder „Zicklein, meck, Tischlein, deck“. Sogar ganze Handlungssequenzen werden wiederholt, gewöhnlich dreimal – zum Beispiel nacheinander von allen drei Söhnen –, bis endlich die Aufgabe – beispielsweise vom jüngsten Sohn – gemeistert wird. Die Wiederholung erscheint als vertrautes Element und dient zugleich der Steigerung, sie erhöht die Spannung, bis diese sich im guten Ende auflöst. Zudem signalisiert sie auf der Symbolebene, dass die Bewältigung schwieriger Aufgaben Zeit und auch Geduld erfordert, dass oft Fehlschläge auf dem Weg auftreten, dieser aber letztlich doch zum Erfolg führt.

Märchen spiegeln bis heute die Probleme von Kindern

„Kinder brauchen Märchen“, stellte der US-amerikanische Erziehungswissenschaftler und Psychoanalytiker Bruno Bettelheim fest. Denn sie erleichtern dem Kind durch ihre Struktur und die angebotenen Lösungsmuster, Entwicklungsschwierigkeiten zu meistern. Sie helfen ihm, seine Gefühle zu klären, seinen Verstand zu schulen und produktive Fantasien zu entwickeln. Sie stärken also die kindliche Bereitschaft, sich den „übermächtigen Lebensgewalten“ zu stellen, vermitteln aber dabei gleichzeitig die Hoffnung, dass die unterstützenden Kräfte des Lebens gegenüber der Realität der Grausamkeit überwiegen. So bereiten sie die Kinder auf die unvermeidlichen Schwierigkeiten des Lebens vor und schenken ihnen zugleich eine sinnvolle Perspektive. Darüber hinaus helfen sie ihnen, belastende Erfahrungen zu verarbeiten, indem sie ihnen erlauben, symbolisch ihre Erfahrungen zu gestalten oder auch ihre Sehnsüchte zu stillen.

Viele Themen, die Kinder emotional beschäftigen, lassen sich in den Grimmʼschen Märchen wiederfinden. Teilweise werden sie sogar erstaunlich deutlich benannt:

Das Erlebnis des Kindes, dass es Leistungsansprüchen nicht genügt und von Eltern und Geschwistern als dumm angesehen wird, ist beispielsweise der Ausgangspunkt in den drei Märchen „Die drei Federn“, „Der arme Müllerbursch und sein Kätzchen“ und „Die goldene Gans“. Hier helfen die Märchen, Zutrauen zu den eigenen Fähigkeiten und ausreichend Mut für den eigenen Lebensweg zu entwickeln. 

Auch aus anderen Gründen kann ein Kind von den Eltern abgelehnt oder verstoßen werden. Die Märchen „Das Eselein“, „Tischchen, deck dich“ und „Die Gänsehirtin am Brunnen“ behandeln unterschiedliche Aspekte dieses Themas. Beim „Eselein“ lehnt die Mutter von Anfang an das ihr fremde Wesen ihres Sohnes ab. Bei der „Gänsehirtin am Brunnen“ fühlt der Vater sich nicht auf die erwünschte Art von seiner Tochter geliebt und verstößt sie deshalb, obwohl sie eigentlich sein Lieblingskind ist. In „Tischchen, deck dich“ fühlt sich der Vater von seinen Söhnen – fälschlicherweise – belogen und verstößt sie ebenfalls. Die Konsequenz in allen drei Märchen ist also jedes Mal der Verlust elterlicher Liebe und die Notwendigkeit, allein auf sich gestellt seinen Weg zu finden. Das gelingt und führt auch zweimal wieder zur Versöhnung – ein durchaus hoffnungsvolles Zeichen für Schulkinder und Jugendliche, die unter dieser Problematik daheim zu leiden haben.

Epische Unterstützung: Märchen helfen Kindern in der Not

Die Erfahrung, für seine Anstrengung und Leistung keine angemessene Anerkennung zu erhalten, ist sehr kränkend und kann zu großem Zorn und tiefer Verzweiflung führen. Die Märchen „Die Bremer Stadtmusikanten“, „Sechse kommen durch die ganze Welt“ und „Des Teufels rußiger Bruder“ greifen diese Thematik auf und weisen Wege, das beschädigte Selbstwertgefühl zu stärken. Den Bremer Stadtmusikanten gelingt es durch die Suche nach Verbündeten und die Besinnung auf andere Fähigkeiten (Musik machen). Der rußige Bruder meistert seine Verzweiflung, indem er zu seiner tiefen Kränkung steht und „in seiner Hölle“ Ordnung schafft.

Auch die besitzergreifende elterliche Macht wird im Märchen als Problem unverblümt dargestellt. So der Vater, der seine Tochter nicht freigibt, sondern sie unangemessen an sich bindet – das heißt emotional oder sexuell missbraucht – in „Allerleirauh“; so die Mutter, die aus Machtstreben ihre Söhne so manipuliert, dass die beiden älteren ihr Wesen einbüßen und der jüngste aus Angst vor einem vergleichbaren Schicksal flieht („Die Kristallkugel“). Selbst aus solchen übergriffigen Bindungen weisen diese beiden Märchen einen Weg. Beide Male besteht der Weg in der „Flucht“, das heißt in der inneren Distanzierung und Verselbstständigung, in der Kraft, einen eigenen Weg zu gehen. Schließlich gilt es in so manchem Märchen, den eigenen Weg auch gegen Vorurteile, Gewohnheiten oder Gebote zu finden, sich also selbstbestimmt seinen Entwicklungsweg zu suchen. Beispiele hierfür sind „Der Geist im Glas“ und „Der Eisenhans“. Wie die anderen Märchen auch ermutigen sie dazu, den eigenen Impulsen zu vertrauen und sich mutig mit den Konsequenzen des eigenen Handelns auseinanderzusetzen. Denn nur so kann die Persönlichkeit reifen. Die genannten Märchen sind in der Gesamtausgabe der Brüder Grimm enthalten und zumeist wenig bekannt. Wie vielleicht deutlich wurde, thematisieren sie nicht einfach eine heile Kinderwelt, sondern sie beschreiben eine konflikthafte Realität, wie Kinder und Jugendliche sie auch heute tagtäglich erleben. Allerdings verharren diese Märchen nicht im Problem, sondern formulieren es und seine Bewältigung in einer symbolischen Sprache, die heute zwar noch Kindern, nicht aber Erwachsenen intuitiv zugänglich ist. Dieser Märchenstil ist für das Vorurteil verantwortlich, Märchen seien nur Kleinkinderkram.

Für Pädagogen ist es wichtig, einen Zugang zur Symbolik zu finden, um zu einem fundierten Verständnis für den Gehalt der Märchen zu gelangen. Hilfreich ist es, jede beteiligte Märchenfigur – sei sie nun ein Mensch, ein Tier oder ein Fantasiewesen – als einen Aspekt ein und derselben Person zu sehen. Das dabei verwendete Prinzip lautet: Die typischen Eigenschaften oder Rollen, die eine Figur in der Märchenhandlung innehat, charakterisieren auch ihre innerpsychische Funktion. So wird die Komplexität einer Persönlichkeit bildhaft aufgefächert in verschiedene Anteile, die alle zusammen eine Art inneres Team bilden und sich als innere Stimmen oder Reaktionstendenzen äußern. In den Konflikten der Figuren zeigt sich die Entwicklungsaufgabe, in deren Überwindung der Lösungsweg.

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