Du darfst nicht mitspielen, du siehst komisch aus.“ Sinthusan kommt aus Indien. Er trägt gerne ein rockähnliches Beinkleid, auch Dhoti genannt. Im Sommer kommt er oft mit einem Lungi, einem Wickelrock. Die anderen Kinder finden das komisch. „Jungen tragen doch keine Röcke!“, sagen sie zu Sinthusan mit abfälligem Lachen.
Schon Kinder erleben Diskriminierung und sie verhalten sich diskriminierend. Aber warum ist das so? Erste soziale Kategorisierungen sind bereits ab drei Jahren zu beobachten. Diese Einteilungen und Gruppenpräferenzen sind ein wichtiger Entwicklungsschritt. Sie helfen den Kindern, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden, sich zu orientieren und anzupassen. Sie folgen damit einem angeborenen Lernverhalten. Durch das Beobachtungslernen sowie durch Imitationsspiele lernen die Kinder vielfältige Handlungen, Gegebenheiten und Einstellungen kennen und erwerben Kompetenzen, sich in der Gemeinschaft, in die sie hineingeboren wurden, einzugliedern. Ein weiterer Grund, weshalb Kinder schon sehr früh Diskriminierungsverhalten zeigen, sind die angeborenen Angstprogramme.
Wie die Evolution uns prägt
Bereits Säuglinge, deren Mütter mit verändertem Aussehen wie einer neuen Frisur zum Bettchen treten, zeigen Angstverhalten. Sie erkennen die Mutter nicht mehr. Auch die Achtmonatsangst, die als „Fremdeln“ bekannt ist und ab diesem Alter auftritt, wenn die Mutter das Kind verlässt, zählt zu diesen angeborenen Programmen. Ängste vor dem Fremdem können jedoch auch im weiteren Lebensverlauf bestehen: Alles, was nicht bekannt ist, ängstigt zunächst. Diese Ängste sind aus evolutionärer Sicht eine sinnvolle Reaktion, denn Unbekanntes kann mitunter eine Bedrohung darstellen. Angstprogramme und Kategorisierungen sind also zunächst durchaus sinnvolle Lernprogramme und Entwicklungsschritte. Aus diesen ersten kategorialen Differenzierungen kann sich jedoch auch ein handfestes Diskriminierungsdenken entwickeln. Das Risiko besteht vor allem dann, wenn Kinder bestimmte Umstände, Gegebenheiten oder Personengruppen aus ihrer Erfahrungswelt nicht kennen und deshalb als potenziell gefährlich einstufen. Kinder orientieren sich in ihrer Entwicklung an Wertvorstellungen, die ihnen vorgelebt, ermöglicht und vermittelt werden – nach dem Motto „Normal ist das, was ich kenne.“ Und an dieses „Normal“ passen sie sich dann auch an. Kommt in ihrem kindlichen Erleben und Ausprobieren keine Vielfalt vor oder wird ihren ersten Ausgrenzungsversuchen nicht Einhalt geboten, verfestigen sich Vorurteile und diskriminierende Verhaltensweisen.
Wenn Kita-Kinder beispielsweise einen Spielgefährten ausgrenzen, weil er nicht richtig Deutsch spricht, und dieses Verhalten von den Fachkräften geduldet wird, lernen sie, dass ihre Reaktion in Ordnung ist. Sie wachsen dann geradezu in hierarchische Denkmuster hinein. Bestimmte Vielfaltsmerkmale wie ein Migrationshintergrund, eine andere Religionszugehörigkeit als die eigene, aber auch eine Behinderung oder Armut bergen eine besonders hohe Gefahr der Stigmatisierung. Dies gilt umso mehr, je unbekannter die Vielfaltsmerkmale in der eigenen Umgebung sind. Ursachen sind auch hier wieder das Unbekannte sowie die „Sippenzugehörigkeit“ zur eigenen Gesellschaftsgruppe. Wenn die Kinder keine Vielfalt in ihrem Umfeld erleben können, so lehnen sie Vielfaltsmerkmale aus Ängstlichkeit ab.
Was kann ich selbst tun?
Frühkindliche Bildungseinrichtungen können hier bewusst entgegenwirken. Ihnen kommt im Hinblick auf eine vorurteilsbewusste Erziehung eine besonders hohe Verantwortung zu. Je früher Kindern ein vorurteilsfreies Denken und Handeln vorgelebt wird, desto geringer ist die Gefährdung, dass sich ein Diskriminierungsdenken herausbildet. Eine bewusste Erziehung beginnt mit der kritischen Selbstreflexion des Fachpersonals: Wo habe ich selbst Vorurteile im Hinblick auf fremde Kulturen und Religionen? Wie stehe ich zu einem multikulturellen Team? Diese Fragen können helfen, dem eigenen Schubladendenken auf die Spur zu kommen und diesem bewusst entgegenzutreten – bei sich selbst, aber auch dann, wenn man dieses Denken im Team, bei Eltern oder Kindern wahrnimmt.
Um Kinder für das Thema zu sensibilisieren, bietet sich der Anti-Bias-Ansatz an. Der Ansatz wurde in den 1980er-Jahren in den USA entwickelt und in den 1990er-Jahren in Südafrika übernommen und weiterentwickelt (weitere Infos im Kasten oben auf dieser Seite). Der Anti-Bias-Ansatz verfolgt vier aufeinander aufbauende konkrete Ziele.
1. Identität der Kinder stärken
Im Betreuungsalltag bietet sich hierfür an, allen Kindern mit der wertschätzenden Grundhaltung nach Carl Rogers zu begegnen. Zudem lässt sich das Selbstbewusstsein der Kinder gezielt fördern über Mutspiele, Theaterstücke oder andere individuell auf die Kinder abgestimmte Förderimpulse.
2. Vielfalt aktiv erlebbar machen
Um für Kinder eine Erfahrungswelt der Vielfalt zu schaffen, eignen sich integrative Angebote, interkulturelles Spielzeug, Vielfaltsbilder und entsprechende Kinderbücher sowie der Besuch einer Behinderteneinrichtung als Expeditionsangebot. Die Kinder können so ihre Erfahrungswelt in Hinblick auf die Vielfalt erweitern. Als interkulturelles Spielund Medienmaterial bieten sich dunkelhäutige Spielpuppen, Spielpuppen mit schmalen Augen oder auch Puppen mit Handicap, Steinspiele aus Afrika wie Bao oder das Wurfspiel Ngoli sowie Bücher wie „Rosa Parks“ von Lisbeth Kaiser an. Auch Memoryspiele, die Vielfalt thematisieren, und Poster mit Darstellungen von Kindern dieser Welt sowie Weltkarten und Länderfahnen sind tolle Ideen, um die Vielfalt in den Betreuungsalltag zu holen.
3. Kritisches Denken fördern
Der Anti-Bias-Ansatz hat zudem das Ziel, Kinder zum kritischen Denken über Vorurteile, Einseitigkeit und Diskriminierung anzuregen. So sollen im Betreuungsalltag, beispielsweise im Sitzkreis, Ausgrenzungsmomente und Ungerechtigkeiten angesprochen und pädagogisch thematisiert werden. Auch begleitete Rollen- und Theaterspiele, in denen die Kinder in unterschiedliche Rollen- und Reaktionsmuster schlüpfen dürfen, helfen dabei, Ausgrenzungen erfahrbar zu machen.
4. Aktiv gegen Unrecht vorgehen
Durch die aufeinander aufbauenden Ziele des Ansatzes haben die Kinder das Selbstbewusstsein und das Wissen, um diskriminierende Situationen zu erkennen und aktiv dagegen zu werden. Sie sollen letztendlich dazu befähigt werden, sich selbst zur Wehr zu setzen oder auch Hilfe zu holen, wenn sie erkennen, dass andere Kinder ausgegrenzt werden.
Allgemein gilt: Lernen die Kinder beim Betrachten, Vorlesen und Spielen die Vielfalt im Kindergarten oder in anderen Betreuungseinrichtungen kennen, nimmt das Ausgrenzungsverhalten automatisch ab. Im Bereich der interkulturellen Erziehung ist die allgemeine Stärkung der Ich- und der Gruppenidentität in all ihren Aspekten ein wichtiger Faktor. Kooperations-, Interaktions- und Kennenlernspiele bieten eine gute Möglichkeit, in heterogenen Gruppen das Gemeinschaftsgefühl zu stärken und Ängste sowie Vorurteile abzubauen. Eine antidiskriminierende Bildungsarbeit sowie eine interkulturelle Erziehung helfen den Kindern, der Vielfalt vorurteilsfrei und diskriminierungssensibel zu begegnen. Das Normale wird auf diese Weise vielfältig, bunt und abwechslungsreich, sodass ein wertschätzendes Miteinander zwischen allen Kulturen, Religionen, sozialen Schichten und Lebensentwürfen möglich werden kann.
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