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Toni ist von Anfang an dabei. Er hat die Samen der Tomatensorte mit dem klangvollen Namen Green Zebra selbst in die Erde gesetzt, sie vorsichtig gegossen, gehegt und gepflegt – und plötzlich sind die Pflanzen genauso groß wie er. Wenn Toni an den saftigen grünen Blättern der Tomatenpflanze riecht, schließt er die Augen. „Guck mal, jede Tomate sieht anders aus, die sieht aus wie ein Herz“, sagt er freudig, als er die glänzende Frucht vorsichtig anfasst. Toni blickt in viele weit geöffnete kleine Augenpaare um sich herum. Er und die anderen Kinder wären sicher wenig begeistert, wenn sie wüssten, dass unzählige dieser wundervollen und einzigartigen Tomaten jeden Tag in Kitas, Schulen, vielen Privathaushalten und Restaurants als Frucht oder in
verarbeiteter Form im Müll landen. Doch wie kann das in pädagogischen Einrichtungen verhindert werden? Welchen Wert haben Lebensmittel und wie können wir respektvoll und wertschätzend mit ihnen umgehen? Und wie sieht die Zukunft der Kitas in Bezug auf Nachhaltigkeit aus?
Pädagogische Arbeit beginnt mit der Haltung der Fachkraft, denn sie verantwortet den Bildungsweg der Kinder wesentlich mit. Die pädagogisch-professionelle Haltung lässt sich hier kaum von der Haltung als Konsument trennen. Die Fakten liegen so offensichtlich auf dem Tisch wie Lebensmittel
jeden Tag in der Tonne. Zum Bewusstsein der Verbraucher resümierte eine Studie der Uni Stuttgart: Für 61 Prozent der Lebensmittelabfälle sind die Verbraucher selbst verantwortlich. Doch von welchen Mengen wird hier gesprochen und welche Akteure sind in die Produktionskette eines Lebensmittels eingebunden? Die Komplexität der Thematik wird deutlich, wenn man sieht, dass Politik und Gesetzgeber, Erzeuger (Bauern), Produzent (Lebensmittelverarbeitung), Anbieter (regionale Märkte, Supermärkte, Discounter), öffentliche Endverbraucher (Schulen, Kitas) und Endverbraucher in Privathaushalten diese Produktionskette ausmachen und allesamt mögliche „Tatorte des Wegwerfens“ sind. In der globalen Gesamtsicht werden laut der Umweltschutzorganisation World Wide Fund for Nature (WWF) Lebensmittel für rund zwölf Milliarden Menschen produziert. Rund 820 Millionen Menschen werden nicht oder mangelhaft ernährt, wovon laut Welthungerindex 27,9 Prozent Kinder unter fünf Jahren betroffen sind. Die globale Wertschöpfungskette verzeichnet einen Lebensmittelverlust von 1,3 Milliarden Tonnen, folgt man der Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO). Alle Lebensmittel, die angebaut, geerntet, transportiert, gekühlt, weiterverarbeitet und zubereitet werden, um am Ende nicht den Menschen zu versorgen, sondern entsorgt zu werden, erzeugen etwa 20 Prozent aller Treibhausgasemissionen. Wir Deutschen konsumieren dem Umweltbundesamt nach jährlich 457 Kilogramm Lebensmittel im sogenannten Inner-Haus-Verzehr. Der Bundesinitiative „Zu gut für die Tonne“ zufolge landen 55 Kilogramm im Müll. Erhebungen zu Bildungseinrichtungen liegen bisher nicht vor, es wäre jedoch spannend, Modell-Kitas für solche Erhebungszwecke zu finden. Eine Ursache für die Entsorgung der Lebensmittel wird im veränderten alltäglichen Zeitumgang gesehen. Es werden immer weniger Wissen und Kompetenz beim Umgang mit Lebensmitteln weitergegeben, die Lagerung und den eigenen Anbau eingeschlossen. Eine eindringliche Erklärung für den respektlosen Umgang unserer Gesellschaft mit Lebensmitteln findet sich im Natur- Mensch-Verhältnis, wenn man fragt, wie weit sich der industrialisierte Mensch bereits von der Natur als umfängliche Lebensgrundlage entfernt hat. Die EU-Gurkennorm ist abgeschafft, doch Gemüse, das nicht ausreichend verpackungsgenormt ist, wird weiterhin kaum in den Verkauf genommen. Bis zu einem Drittel der Ernte wird wieder untergepflügt. Dabei braucht jede Nutzpflanze viele Tage bis zur Erntereife, wie unsere Tabelle zeigt.
Die Thematik der Lebensmittelproduktion und -verwendung ist ein Paradebeispiel, um globale ökologische und soziale Zusammenhänge zu verstehen, Probleme zu erkennen und die eigene Haltung zu überdenken. Eine Lösung der Probleme bietet die Idee der Nachhaltigkeit. Nachhaltig sein, umgangssprachlich inflationär verwendet und verwechselt – meint es doch weit mehr als wirksam oder langfristig –, wird von Bundesländern wie
Baden-Württemberg längst als Nachhaltigkeitsstrategie verfolgt.
Auch beim Kommissionier- und Service- Zentrum für Essen (KSZE) der Stadt Stuttgart wird das Problem nicht ausgeklammert. Im Vorwort der Dienstanweisung für die Hauswirtschaft heißt es: „Überproduktion von Essen […] belastet unnötig und ungerechtfertigt das Budget und zieht als Folge einen geringeren Deckungsgrad der Ausgaben nach sich. Ungeachtet dessen ist es unverantwortlich und nicht akzeptabel, dass Lebensmittel im Müll landen. Deshalb ist es unerlässlich, dass die Menge der bestellten Essen mit der Anzahl der tatsächlich anwesenden Kinder abgeglichen wird.“ Bei einem
Interview erklärt der Dienststellenleiter für Essensversorgung, Hauswirtschaft und Fachdienst für Ernährung, Gerd Danner, die Komplexität des gesamten Bestellvorganges und lässt dabei auch nicht aus, Handlungsansätze aufzuzeigen. Ganze 1,7 Millionen Portionen sind es jährlich, die das KSZE verantwortet. Bei 160 städtischen Einrichtungen macht dies eine tägliche Lebensmittelmenge von 3,5 bis 4 Tonnen, verarbeitet zu 7500 kindgerechten Portionen. Diese Bestellung erfolgt durch die Einrichtungsleitung mindestens eine Woche im Voraus. Ein Lebensmittel ist in einem institutionellen
Bestellvorgang beides – eine Plangröße und ein sinnlich erfahrbares Lebensmittel. Die Kinder haben in der Regel nur einmal direkten Kontakt damit. Grund genug für manche Einrichtungen, ihr Bistro als eigenen Bildungsbereich zu begreifen. Strukturell beschreibt Gerd Danner all das, was man vom Essen nicht sieht, als einen ersten Grund für das alltägliche Wegwerfen.
Verständlicherweise braucht jede Änderung von bestellten Portionen aus Sicht des KSZE eine Vorlaufzeit. In dem Moment, wo dieses Planungskonstrukt auf den Kita-Alltag trifft, können daher Ereignisse wie die ein- oder mehrtägige Abmeldung eines Kindes überhaupt nicht im System berücksichtigt werden. Keine gangbare Lösung ist es, das übrige Essen an die Elternschaft oder Mitarbeiter abzugeben. Dafür finden sich zwei Erklärungen. Die erste begründet zugleich, warum es auch keine Option ist, das übrige Essen zu karitativen Zwecken etwa an Die Tafeln e. V. abzugeben. „Essen, das schon am Tisch war, darf grundsätzlich nicht mehr in irgendeine Produktionskette oder Ernährungskette fließen. Das muss definitiv weg, weil Kinder draufgehustet haben könnten. Und spätestens nach drei bis vier Stunden habe ich eine Keimvermehrung“, fasst Danner die Hygienevorschriften aus der deutschen Lebensmittelhygiene-Verordnung (LMHV) zusammen. Das zweite Problem ist die verantwortungsvolle Verwendung öffentlicher Gelder. Kostet der Elternbetrag beispielsweise 3,50 Euro, sind die tatsächlichen Gesamtkosten etwa bei 7 Euro. Das Essen ist damit zur Hälfte subventioniert. Ein Elternrat könnte sich jedoch auf eine Verwendung von Resten einigen und seine Interessen gegenüber offiziellen Stellen vertreten. Insgesamt spricht das KSZE der Einrichtungsleitung eine hohe Autonomie zu. Sie kann entscheiden, dass übriges Essen, das weder erwärmt wurde noch auf dem Tisch bei den Kindern stand, nachmittags erneut gereicht wird oder die Bestellmenge unter die Kinderanzahl gelegt und nach Erfahrungswerten täglich nachjustiert wird. Einzelne Einrichtungen mit Unterbestellung und Abweichungen von 10 Prozent weniger Portionen als Kita-Plätze seien bekannt.
Die pädagogischen Ursachen für das Wegschmeißen sind vielschichtig. Ein Kind verschluckt sich und spuckt das Essen aus, es möchte bestimmte Obstsorten oder Obst mit dunklen Stellen nicht essen. Kinder spiegeln eben die Haltung der Eltern wider. Es kann auch dazu kommen, dass die
Fachkraft die von dem Kind gewünschte kleinere Portionsgröße nicht akzeptiert. Gerade da, wo die Kinder dem Lebensmittel schon vor seiner Endbestimmung auf dem Teller begegnen, entsteht das Potenzial, eine wertschätzende Grundhaltung zu Lebensmitteln aufzubauen. Am Ende bleibt die Frage nach dem Wie allerdings stehen, doch der Fachkraft kommt die pädagogische Schlüsselrolle zu. Nachhaltigkeit ist das Prinzip der Stunde.
Zusammenfassend bedeutet es gutes Leben in einem lebenslangen co-edukativen Lernprozess. Die pädagogische Arbeit am Thema kann vielfältig sein, aber in jedem Fall sollte sie stattfinden. Die kindlichen Sinne anzusprechen, ist gerade bei Lebensmitteln eine dankbare Aufgabe. Die Vielfalt von Kartoffel-Sorten – es gibt über 4000! – zu entdecken, ein wöchentlicher Kochtag, der Besuch beim Imker oder auf dem Bauernhof sind Beispiele dafür.
Je regelmäßiger die Kinder Lebensmitteln und dem Thema ihrer Entstehung begegnen, desto wahrscheinlicher ist die gelungene Anregung. Den Jahreszyklus erfährt man im Garten am eindrucksvollsten. Hier lernen die Kinder alles über das Wachstum, während sie bei Aussaat, Anbau, Gießen und Pflege der Pflanzen Selbstwirksamkeit und Verantwortung erfahren. Hirnforscher Gerald Hüther und Kinderarzt Herbert Renz-Polster etwa thematisieren
das vielschichtige Potenzial von ersten Naturerfahrungen und verorten in der Natur vier „unverhandelbare Quellen“ kindlicher Entwicklung: Freiheit, Unmittelbarkeit, Widerständigkeit, Bezogenheit. Und ein Tomatensalat aus den ersten frisch geernteten Tomaten wird mit sehr viel geringerer Wahrscheinlichkeit den Weg in die Tonne finden. Stellen wir uns neben die Kinder und erblicken, riechen und schmecken wir gemeinsam mit ihnen eine Welt, in der das Essen nur noch auf dem Teller landet.
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