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Fröhlich kommt Marlene an einem sonnigen Montag in die Kita, rennt lachend auf die anderen Kinder zu und spielt mit ihnen. Doch schon am nächsten Tag ist alles anders, sie klammert sich fest an ihren Vater, der sie in die Kita bringt, weint und lässt sich schwer beruhigen. Das Verhalten der Vierjährigen, die seit einem Dreivierteljahr in der Kita ist, gibt den Erzieherinnen und Erziehern Rätsel auf. Marlenes Mutter haben sie nur einmal bei der Anmeldung gesehen, meistens wird das Kind von seinem Vater oder seiner Oma in die Kita gebracht. Die Mutter sei oft krank und im Krankenhaus. Im Elterngespräch, sechs Wochen nach der Eingewöhnung, war das wechselhafte Verhalten von Marlene schon Thema gewesen. Der Vater schob es auf den Wohnungs- und Kita-Wechsel. Er sei so froh darüber, wie wohl sich Marlene in der Kita fühle, und dankte den pädagogischen Fachkräften für ihre Arbeit.
Das Kita-Team war einerseits froh über die Rückmeldung des Vaters, doch andererseits blieb die Irritation über Marlenes Stimmungswechsel. Noch erstaunter waren die Erzieherinnen und Erzieher, als Marlene eines Morgens von einer unbekannten Frau in die Kita gebracht wurde. Sie stellte sich als Familienhelferin vor. Auf die Fragen der pädagogischen Fachkräfte, was denn passiert sei, wollte sie nicht antworten. Das falle unter den Datenschutz.
Meiner Erfahrung nach ist das eine typische Situation. Die Kita erfährt nicht, dass und welche unterstützenden Hilfen in einer Familie eingerichtet sind, meist mit Verweis auf den Datenschutz. Das Datenschutzproblem wäre allerdings leicht zu lösen, wenn das Jugendamt in Rücksprache mit den Eltern zum Beispiel Fachkräfte der Kita zu einem gemeinsamen
Gespräch einladen würde. Wie sich später herausstellte, war die Mutter von Marlene psychisch krank. Die Familienhelferin sollte den Vater dabei unterstützen, den Alltag mit dem Kind zu bewältigen, damit Marlene nicht in eine Pflegefamilie muss. Die Mutter fiel als verlässliche Bezugsperson aufgrund ihrer Erkrankung, der schwierigen Medikamenteneinstellung und häufiger Klinikaufenthalte aus. Von Marlenes Verhaltensweisen in der Kita wusste die Familienhelferin nichts. Der Vater schwieg wohl darüber und zur Kita hatte sie keinen Kontakt.
Wenn die Erzieherinnen und Erzieher von Marlenes schwieriger Lebenslage gewusst hätten und wenn sie in den Hilfeprozess einbezogen worden wären, hätten sie nicht nur Marlenes Verhalten besser verstehen können, sondern auch gezielter helfen können. Und sie hätten den Hilfeprozess des ASD (Allgemeiner sozialer Dienst des Jugendamts) unterstützen können. Die Pädagoginnen und Pädagogen hätten bewusst intervenieren und die Kita als sicheren, verlässlichen Ort für Marlene stärken können. Der Vater hätte offen berichten können, was Marlene bewegt, wenn sie wieder weinend und sehr verunsichert in die Kita kommt. Die Fachkräfte hätten das im Spiel, beim Malen und beim Trösten aufgreifen können. Wenn sie gewusst hätten, dass eines der Themen die Auswirkungen der psychischen
Erkrankung von Marlenes Mutter auf Marlene selbst ist, hätten sie die Wichtigkeit von eindeutigem Verhalten besprechen und einheitliche Reaktionsweisen aller Erwachsenen zu Hause und in der Kita vereinbaren können. Zum Beispiel, wenn in der Kita plötzlich ein Kind ein anderes schlägt oder anschreit. Oder wenn Marlene in der Kita von einem Kind oder zu Hause von ihrer Mutter angeschrien wird, dann wäre es hilfreich, ihr zuzuhören und auf sie einzugehen: „Jetzt hast du dich erschreckt, oder? Du weißt gar nicht, warum der Max oder die Mama so
schreien.“ In diesem Fall gelang es nicht, den ASD dafür zu gewinnen, eine pädagogische Fachkraft der Kita zu einer Helferrunde einzuladen. Das Team des ASD sah diese Bedeutung nicht ein.
Es wird vonseiten des ASD noch zu selten gesehen, dass Kita und Schule Orte sind, an denen die Kinder einen großen Teil ihres Alltags verbringen. Deshalb verfügen die Erwachsenen dort über wichtige Informationen zum Verhalten und Befinden der Kinder. Und was noch viel wichtiger ist: Sie können, wenn sie in Hilfeprozesse eingebunden werden, einen
wertvollen Beitrag zur Unterstützung der Kinder leisten. Oft kennen pädagogische Fachkräfte die Kinder viel besser als die Mitarbeitenden vom Jugendamt. Sie sehen die Kinder täglich, Familienhelferinnen und Familienhelfer dagegen nur ein- bis dreimal in der Woche. Und die Mitarbeitenden des ASD nur alle paar Wochen oder gar Monate. Bei der oft
hohen Fluktuation im ASD – zwei bis drei wechselnde zuständige Sozialarbeitende sind meiner Erfahrung nach keine Seltenheit – sind die pädagogischen Fachkräfte in Kita und Schule diejenigen, die neben den Eltern die Kinder am längsten kennen und mit dieser Kenntnis eine Kontinuität im Hilfeprozess darstellen könnten. Falls die Problematik gesehen wird, dass Kinder zum Beispiel das Verhalten und Erleben eines kranken Elternteils widerspiegeln, wird dann eventuell für die Kinder eine psychologische Behandlung veranlasst. Diese kann hilfreich sein. Gezielte Interventionen in Kita, Hort oder Schule haben dagegen meiner Erfahrung nach eine größere Effektivität und Nachhaltigkeit, weil sie
sich auf das Alltagsverhalten beziehen und im Alltag verankert werden.
Im Alltag bestehen viele Missverständnisse und Vorurteile, sowohl im ASD als auch in den Bildungsinstitutionen. Da ich in beiden Bereichen gearbeitet habe, sind mir diese bestens vertraut. Aus Kita und Schule kommen die Vorwürfe, dass der ASD zu wenig tue, nicht in Kontakt trete, Anrufe der Pädagoginnen und Erzieherinnen nicht beantwortete oder zu spät oder gar nicht das Leid der Kinder und Familien sähe. Vonseiten des ASD werden pädagogische Fachkräfte oft als besserwisserisch, unqualifiziert und unnötig Druck machend eingestuft. Diese gegenseitigen Vorurteile sind das Ergebnis
mangelnder Kenntnisse über die alltägliche Arbeit, die unterschiedlichen Wahrnehmungen, Einschätzungen, Risikobeurteilungen und die jeweiligen Chancen der verschiedenen Rollen.
Es gibt erprobte Methoden, um die Zusammenarbeit zwischen ASD und Kita zu verbessern:
Beim Aufbau von Kooperationsformen kann auch auf die Erfahrungen des Modellprojekts der Qualitätszirkel im Bereich der frühen Hilfen zurückgegriffen werden. Dort werden anonymisierte Fälle anhand eines Leitfadens besprochen, der unter anderem auf Methoden von Balintgruppen zurückgreift. Balintgruppen sind Arbeitsgruppen von Ärzten, in
denen unter Moderation eines Psychotherapeuten über eine Arzt-Patient- Beziehung gesprochen wird, die ein Teilnehmer aus seiner Erinnerung vorstellt. Die Unterschiedlichkeit der Betrachtungsweisen ist explizit erwünscht. Kitas könnten in die bestehenden Qualitätszirkel einbezogen werden. Oder auch wie im erwähnten Beispiel könnten Einzelfälle nach demselben Ablaufschema innerhalb eines runden Tisches besprochen werden.
In Pforzheim führten wir das Modellprojekt „Erziehungs- und Bildungspartnerschaften
mit Eltern“ von 2005 bis 2008 durch, das vom Landesjugendamt gefördert wurde. Im Rahmen dieses Projektes wurden
Förderpläne für Kinder in Kita und Schule erstellt. Darin steht, dass Kinder von allen Beteiligten wie Eltern, Erzieherinnen und Erziehern und – wenn der ASD in dem Fall involviert war – auch den zuständigen pädagogischen
Fachkräften und Familienhelferinnen und Familienhelfern bei der Erreichung des gemeinsam erarbeiteten Förderziels mit konkreten Maßnahmen unterstützt werden. In einem Fall war das Ziel, dass ein Kind lernen sollte, eigene Grenzen
zu sichern und die Grenzen anderer einzuhalten. Die gemeinsam verabredete Intervention war: „Wir sagen stopp, das mag ich nicht, dass du mich schlägst.“ Und wenn beobachtet wurde, dass jemand die Grenzen des Kindes überschritt, fragten die Erwachsenen: „Magst du, dass dich der schlägt? Was kannst du tun?“ Da das Kind in der Kita und zu Hause von verschiedenen Personen immer dieselben Interventionen erlebte, war dieses Vorgehen äußerst effektiv. So konnten vielfältige Ressourcen genutzt werden, und das Kind bekam eine eindeutige Orientierung. Das war nicht nur im Einzelfall hilfreich, weil Kinder und Eltern eine abgestimmte Unterstützung aller Beteiligten erfuhren, sondern auch,
weil sie nachhaltige Wirkung auf die beteiligten Institutionen und Personen hatte. Das Vertrauensverhältnis wurde gestärkt und übertragbare Erfahrungen für Vorgehen im Einzelfall wurden gesammelt.
Zu dem Argument, dass all dieseVorschläge zusätzlichen Zeitaufwand für die pädagogischen Fachkräfte bedeuten würden, lässt sich Folgendes sagen: Es kostet mehr Zeit und Nerven, wenn sie sich immer wieder beraten und rätseln müssen, was diese Kinder brauchen, wenn sie Frustrationen erleben, weil ihre Kontaktaufnahme mit dem Verweis auf Datenschutz abgeblockt wird. Oder wenn sie das Gefühl haben, alleingelassen und nicht ernst genommen zu werden. Für alle Beteiligten bringt eine verbesserte Kooperation eine effektivere und intensivere Unterstützung der betroffenen
Kinder und Familien, wenn der Alltag der Kinder in Kitas und Schulen in die Hilfeplanung einbezogen und dadurch genutzt wird. Die Eltern des Modellprojektes bewerteten die Zusammenarbeit von ASD und den beteiligten Kitas äußerst positiv: „So viele Menschen wollen uns helfen.“ Und aus dem Erleben konnten ganz neue Lösungskräfte entstehen.
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