Sie beraten Fachkräfte und Teams, die traumapädagogisch arbeiten. In welchen Situationen kommen die Leute zu Ihnen?
Hedi Gies: Besondere Situationen, besondere Kinder – das sind die Themen bei uns. Vergangenes Jahr haben wir Fachkräfte aus einer Kita beraten, in der es gebrannt hat. Die Kinder haben das damals mitbekommen, das war eine hoch belastende Situation für sie. Ein Kind hatte sogar Feuer gefangen – da war große Not. Hier will ich erst mal wissen: Was brauchen Sie jetzt? An welcher Stelle braucht wer Hilfe? Ich habe dann auch den Kontakt zu einer Therapeutin für das betroffene Kind hergestellt und beim Jugendamt um Unterstützung gebeten. Danach kam die Mitarbeitende, die das mit dem Kind erlebt hat, zu mir in Supervision. Wenn eine Kindeswohlgefährdung vermutet wird, kommen die Leute auch zu uns, und wenn sie ein Trauma hinter dem Verhalten eines Kindes vermuten. Auch wenn ein Kind sich gar nicht begrenzen lässt, sein Verhalten alle überfordert. Auffällig ist aber: In den Jahren vor 2015 war ich hauptsächlich in Kitas mit Kindern mit besonderem Förderbedarf. In einer „ganz normalen“ Kita war ich damals fast gar nicht. Als aber die vielen Kinder mit Fluchterfahrung kamen, stieg der Bedarf sehr. Manche wollen einfach auch wissen: Was genau ist ein Trauma? Und wie erkennen wir, ob wir traumatisierte Kinder in der Kita haben?
Können Sie beim Erkennen eines Traumas weiterhelfen?
In der Traumapädagogik gehen wir nicht detektivisch vor. Wir wollen nicht wissen: Was genau ist passiert? Denn: Wenn das menschliche Bewältigungssystem überfordert ist, sprechen wir von Trauma. Es kann also sein, dass ein Kind mit Fluchterfahrung nicht traumatisiert ist, ein Kind, das schon immer hier in seiner Familie lebte und nicht gut versorgt wird, aber schon. Wir lesen die Bewältigungsstrategien. Was zeigt das Kind? Vermeidungsverhalten, auffälliges Verhalten, lässt es sich nichts sagen, will es ständig die Kontrolle behalten, überschreitet es Grenzen? Wir schauen nach den Auffälligkeiten und ziehen daraus Rückschlüsse.
Ich muss also gar nicht wissen: Was ist dem Kind passiert? Sondern: Wie kann ich ihm jetzt beistehen?
Ja. Und wir sagen immer: Traumapädagogik schadet auch keinem nicht-traumatisierten Kind. Im Gegenteil: Es ist hilfreich für alle Kinder. Es geht um die Haltung. Wir sprechen davon, dass jedes Verhalten einen guten Grund hat. Und das ist megaradikal! Aber es heißt nicht, dass wir jeden Grund tolerieren. Wir machen keine Kuschelpädagogik, sondern wir sagen: Es ist wichtig, dass wir das Verhalten des Kindes verstehen. Aber wir müssen nicht damit einverstanden sein.
Für Fachkräfte bedeutet das aber auch, dass sie das Verhalten des Kindes aushalten müssen. Wie kann man damit umgehen?
Das ist mit Sicherheit eine besondere Herausforderung. Ich tue mich aber schwer damit, immer nur das Belastende zu nennen. Im Kita-Betrieb sind die Stressfaktoren vielfältig, nicht nur traumabedingt. Das Trauma ist aber noch was obendrauf. Ein Kind, das Traumaerfahrung erlebt hat, wird Traumadynamik in die Gruppe mitbringen. Nicht die Kinder spalten, sondern die Traumaenergie. Man hat manchmal das Gefühl, dass es Ärger gibt, sobald ein betroffenes Kind WERKSTATT Wer Kraft für andere haben will, muss zuerst auch gut zu sich selbst sein. Hedi Gies meint: Selbstfürsorge muss dringend einen festen Platz in der Erzieherinnenausbildung bekommen. im Raum ist. Schon ist das Team gespalten in der Frage, was man hier nun machen muss. Ordentlich Grenzen setzen, sagen die einen, die anderen wollen dem Kind besonders viel Aufmerksamkeit geben. Da ist es wichtig, das Kind in den Mittelpunkt zu setzen und sich zu fragen: Was ist denn jetzt hilfreich? Was braucht das Kind? Meist können diese Kinder ihre Bewältigungsstrategien nicht steuern. Das können sie lernen, das braucht Zeit. Aber es geht! Wir brauchen hier Fachkräfte, die verstehen, dass ein Kind etwas, das es am Morgen noch konnte, weil es auf einem mittleren Stresslevel war, am Nachmittag nicht mehr kann.
Wie bringt man denn die Fachkräfte zusammen, die sich bei der Frage nach dem Umgang mit einem traumatisierten Kind uneinig sind?
Hier hilft es, wenn das Team mit dem guten Grund arbeitet. Wir müssen uns fragen, was ein Kind so Essen stopfen lässt, was es dazu bringt, die Gruppenräume zu verwüsten oder anderen Kindern alles wegzunehmen. Hier arbeiten wir mit der „weil“-Frage: „Das Kind tut das, weil …“. Damit kommen wir tiefer zum Thema. Das im Team zu kultivieren, hilft. Besonders anstrengend ist hier: Die Nervensysteme sind sehr ansteckend. Wir sind kaum im Raum, schon 26 TPS 9|2021 WERKSTATT nehmen wir die Energie, die das traumatisierte Kind verbreitet, auf. Die Kunst der Traumapädagogik ist es, hier auf seinem eigenen Stresslevel zu bleiben und sich nicht anstecken zu lassen. Das braucht Training und viel Selbst-Verstehen. Wann gehe ich hoch? Wann ziehe ich mich zurück? Die Traumapädagogik arbeitet mit den Kindern – und mindestens genauso intensiv mit den Erzieherinnen in der Kita. Wenn die sich verstehen, wenn die wissen, wie sie ticken, haben wir schon die halbe Miete.
Man muss sich also viel mit sich selbst beschäftigen und mit den anderen im Team?
Absolut. Das ist die große Aufgabe. Oft gibt es nur wenig Zeit für Teambesprechungen – der ganze Tag ist voll. Das Thema Selbstfürsorge wird oft ganz vergessen. In der Weiterbildung haben wir das konsequent vom ersten bis zum letzten Modul dabei. Was brauchst du, um diese Arbeit machen zu können? Wie kannst du gesund und munter in die Rente kommen? Das lernen die Leute in der Ausbildung nicht – gut für sich selbst zu sorgen, damit sie die Kraft haben, für andere da zu sein. Es geht immer nur ums Du und nicht darum, was man tun kann, um selbst stabil zu bleiben. Dabei wäre das so wichtig. Denn die Stabilität der Erzieherin überträgt sich auf die Kinder.
Das müsste also dringend rein in die Erzieherinnenausbildung?
Ja, unbedingt. Wir üben Stabilisierung vom Gegenüber – aber was brauchen wir selbst? Ich würde jedem Team einer Kita einen Notfallkoffer wünschen: Was brauchen wir, wenn wir stressige Phasen haben? Was kann unserem Team dann helfen? Der Koffer ist dann voll mit Anregungen, die uns helfen, wenn es nicht so gut geht. Atmen gehört in diesen virtuellen Koffer zum Beispiel rein. Denn wenn wir im Stress sind, atmen wir nur bis zum Kehlkopf. Wir müssen aber im Stress lernen, tief zu atmen. Denn der größte Stressmuskel, den wir haben, ist das Zwerchfell. Ein Atemzug ist schon oft eine ganz wichtige Hilfe, damit ich nicht aus Affekt reagiere – sondern innehalte und so die Chance habe, noch einen Fuß in die Tür zu kriegen. In den Teamnotfallkoffer gehören auch ganz konkrete Sachen wie ein Badezusatz, Schokolade, Kakaopäckchen. Nach einem besonders stressigen Tag kann ich mir dann nehmen, was ich brauche, um mich wohlzufühlen. Ich hatte mal ein Team, das Brillen in den Koffer getan hat. Sie wollten zeigen, dass man Dinge mal aus einer anderen Perspektive sehen muss. Damit kommen wir in die Handlungsoption. Denn Trauma ist Ohnmacht. Wenn wir verstehen, dass das Gegenteil von Ohnmacht nicht Macht ist, sondern Allmacht, dann verstehe ich auch, warum manche Kinder so allmächtig durch die Kita rennen: Sie wollen nie wieder Ohnmacht fühlen. Sie wollen alles bestimmen, alles kontrollieren. Die Ohnmacht geben sie dann an die Fachkräfte weiter. Dann fühlen sich diese plötzlich ohnmächtig. Dabei ist wichtig, zu wissen: Nicht alle Kinder gehen zur Allmacht. Es gibt Kinder, die eher täteranteilig reagieren. Kein Kind ist Täter, aber sie sind voller Aggression, laut und draufgängerisch. Dann gibt es die opferanteiligen Kinder, die sehr leise sind und sich gern wegducken. Und dann gibt es die dritte Gruppe, die oft vergessen wird: Das sind die retteranteiligen Kinder. Das sind diejenigen, die immer für alle sorgen und eine hohe Anpassungsleistung haben, damit keiner auf sie guckt. Das ist die schwierigste Gruppe, weil ein retteranteiliges Kind nie in die Allmacht geht, sondern immer eher sagt: Ich bin nicht so wichtig. Das sind die Kinder, die als Erste den Tisch zu decken anfangen oder die Spielsachen wegräumen, und man weiß nicht so genau: Ist das nun soziale Kompetenz bei diesem Kind oder etwas anderes? Das ist oft gar nicht so leicht zu unterscheiden.
Was bedeuten die Begriffe Übertragung und sekundäre Traumatisierung in der Traumapädagogik?
Übertragung heißt, die Energie meines Gegenübers geht auf mich über – ich fühle also, was dieser Mensch fühlt. Das hat mit Empathiefähigkeit zu tun und mit den Spiegelneuronen. Damit kann ich die Wut des Kindes spüren, werde selbst wütend, auf das Kind, die Eltern, die Situation. Erlebt ein Kind Gewalt im häuslichen Umfeld, wird es in der Kita relativ sicher Dinge produzieren, sodass andere auch Aggression entwickeln und das Bedürfnis haben, das Kind zu begrenzen. Das ist eine klassische Übertragung. Die sekundäre Traumatisierung funktioniert auf ähnliche Weise, ist aber keine Übertragung. Hier geht ein Trauma auf mich über, das ich selbst nicht erlebt habe. Das können wir gar nicht verhindern. Was wir verhindern können, ist, dass wir davon Schaden nehmen. Wir müssen uns bewusst machen: Es gibt das. Viele wissen das nicht und denken, sie hätten ein Burnout oder wären nicht belastbar, wenn sie etwa die Albträume des Kindes haben. Hier muss ich gute Mechanismen haben, um mich zu schützen, sonst kann das körperliche Folgen haben. Supervision kann hier helfen oder der Wechsel in eine andere Gruppe. Die Einrichtung ist auch gefragt. Eine Leitung kann, wenn sie um all das weiß, traumasensibel leiten und feinfühlig schauen: Was brauchen die Mitarbeitenden? Wer hat welche Stärken?
Auch hier zeigt sich wieder: Man muss auf sich selbst achten – gerade, wenn man in der Kita arbeitet …
Das Thema Achtsamkeit ist wichtig, ja. Auch wenn ich das Wort schon fast nicht mehr hören kann. Es hat oft den Beigeschmack: Jetzt muss ich auch noch auf mich aufpassen und jede Woche Yoga, Pilates, Meditation machen. Ich bin also auch noch verantwortlich dafür, dass es mir selbst gut geht. Und wenn das nicht so ist, bin ich selbst schuld. Dieser Eindruck sollte nicht entstehen. Es darf nicht der Freibrief für Träger werden, die Verantwortung auf die Einzelnen abzuwälzen.
Wann sollte sich ein Team denn unbedingt professionelle Hilfe holen?
Ich schaue hier immer: Was sind die Themen der Kinder – und wie spiegelt sich das im Team? Ein ganz typisches Spiegelungsphänomen hab ich mal selbst erlebt: Ich war Supervisorin in einem Team, das mit Nichtsesshaften arbeitete. Als ich dort hinkam, hab ich nicht erkannt, wer Klient und Klientin und wer Sozialpädagoge war. Es gab in diesem Raum nichts Heiles. Die Verwahrlosung hat sich gespiegelt. Auf die Kita übertragen, können Sie sich eine Kita in einem Brennpunkt vorstellen. Die Themen, die dort präsent sind, werden vom Team aufgenommen und gespiegelt: Der Umgangston ist rau, man spricht kalt miteinander. Wenn die Spiegelungsphänomene so krass werden, erkennt man sie selbst oft nicht mehr. Hier braucht es eine gute Leitung, die handelt. Und dann eben Hilfe von außen holt.
Gab es schon Anfragen, bei denen Sie gesagt haben: Das kann ich nicht machen, da müssen Sie woanders hin?
Ja, das gibt es immer wieder. Wenn es etwa sehr therapeutisch wird. Wir können ja nicht davon ausgehen, dass alle Kita-Mitarbeitenden sicher gebunden aufgewachsen sind. Wenn es hier eigene traumatische Erfahrungen gibt und ein Kind mit Trauma kommt, das den Finger unbewusst in die Wunde legt, mache ich eine Schnittstellenberatung hin zu einer Therapie.
HEDI GIES ist Sozialpädagogin, systemische Familienberaterin und Familientherapeutin sowie Supervisorin. Sie leitet das Institut für Trauma und Pädagogik in Mechernich in Nordrhein-Westfalen, das zum Ziel hat, gesellschaftlich und institutionell, pädagogisch und individuell die Entwicklung der Traumapädagogik mitzutragen.
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