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Wie kamt ihr zu eurem traumapädagogischen Konzept? Diese Frage höre ich oft, und wenn ich dann an unsere Geburtsstunde zurückdenke, ist eines klar: Mein Team und ich waren am Anfang die Lernenden. Von wem wir gelernt haben? Von den Expertinnen für herausfordernde Lebensumstände – denn das sind die uns anvertrauten Mädchen. Ohne die konsequente Anerkennung der Lebensleistung und ihrer Expertenschaft hätten wir das Konzept nicht mit Leben füllen können. Wir sehen uns im Dienst der Mädchen und jungen Frauen, sind somit sehr wachsam und aufmerksam im Hören der Bedarfe und Bedürfnisse. So haben wir das Konzept wahrhaft partizipativ entwickeln können.
Die Traumapädagogik, so glaube ich, ist in ihren Wurzeln und Grundhaltungen letztlich eine Menschenrechtsprofession. Man muss sich ganz klar ausrichten auf Werte und Haltungen, weniger auf Theorien und Konzepte, die natürlich auch ihren Sinn haben, aber zuallererst geht es um Haltungen. Dennoch braucht es natürlich Wissensvermittlung sowie Fort- und Weiterbildung. Vierzig Traumapädagoginnen und Traumafachberater aus allen Arbeitsfeldern unserer Einrichtung haben wir ausbilden lassen. Nach und nach konnte sich so eine gemeinsame Sprache entwickeln und eine neue Haltung etablieren. Auch unsere Mädchen haben wir in den gleichen Inhalten fortgebildet sowie die Mitarbeitenden in der Verwaltung und Haustechnik.
All das ist zeit- und kostenintensiv, zahlt sich aber aus. Ebenso braucht es gründliche und wahrhaftig geführte Aushandlungsprozesse und eine Anerkennung durch alle Ebenen innerhalb der Einrichtung. Vieles braucht Raum und Zeit für Wachstum – Vertrauen kann nicht verordnet werden. Es braucht ein Zusammenwachsen oder Zusammenführen von Realität und Ideal. Wir möchten alles, was verschriftlicht ist, auch leben – und nicht nur wohlformuliert in irgendwelchen Qualitätshandbüchern finden.
Natürlich sind auch – wie überall – Gespräche im Team wichtig. Manche Mitarbeitenden fürchteten zu Beginn, dass unsere Mädchen, wenn sie traumainformiert sind, Theorien und Erklärungsmodelle kennen, dieses Wissen so für sich nutzen: Absolut jedes Fehlverhalten muss toleriert werden, denn es gibt ja einen guten Grund dafür! Oder dass sie sagen könnten: „Sorry, mein Denker war aus – ich kann nix dafür!“ All diese Befürchtungen sind nicht eingetreten, da hier auch wieder die Haltung eine Rolle spielt. Dies wird auch darin deutlich, dass wir nicht von einer Psychoedukation sprechen. Wir wollen nicht vermitteln: „Ich erkläre dir, warum du so bist, oder ich erkläre dir deine Erkrankung.“ Nein, wir wollen die Augenhöhe und uns auf den Weg des gemeinsamen Verstehens machen. Wir wollen gemeinsam neugierig erkunden, wie das Gegenüber tickt und warum jemand Dinge genau so tut, wie er sie tut.
Wichtig ist im Dialog mit den Mitarbeitenden, nicht zu vergessen, dass manche pädagogischen Fachkräfte selbst traumatische Erfahrungen gemacht haben und mitbringen. Man muss bedenken, dass Mitarbeitende, deren eigene Traumata durch die Arbeit getriggert werden können, dann als Teil der Pädagogik auch Teil oder Mitauslöser von Krisen sein können. Man muss aber auch im Blick haben, dass Mitarbeitende durch die Verhaltensweisen und Geschichten, Biografien oder aktuellen Lebensumstände der Kinder sekundäre Traumatisierungen erleiden können. Wichtig zu wissen ist ebenso, dass die Traumapädagogik so viel Heilsames bereitstellt, das jedem Kind helfen kann und wertvolle Schritte ermöglicht. Im Fachverband Traumapädagogik gibt es mittlerweile auch einen Arbeitskreis, der sich mit frühen Hilfen auseinandersetzt. So entwickelt sich auch der Fachverband fort und es wird sicherlich bald noch mehr darüber zu berichten geben.
Als Leitung und Mitarbeitende müssen wir uns alle auf neues Denken und Handeln einlassen. Durch die Anerkennung der Expertenschaft und das Ziel einer traumainformierten Pädagogik tauchten bei uns Unsicherheiten auf. Darf die bisherige Pädagogik nicht mehr praktiziert werden? War alles zuvor schlecht? Es braucht Transparenz, ein Gewinnen, ein begeistertes Infizieren. Es geht mehr um ein Ergänzen und Erweitern der Handlungsspielräume und Möglichkeiten als um ein Ersetzen und Alles-neu-Denken.
Die Einführung dieser Konzepte hat im Rückblick zu einer wesentlichen Erleichterung geführt: Die Pädagoginnen und Pädagogen können die guten Gründe für das Verhalten einordnen, ihre neu gewonnenen Haltungen helfen zu verstehen, die Krisen sind zurückgegangen. Durch den Einbezug der Mädchen bei der Konzeptentwicklung, etwa im Umgang mit selbstverletzendem Verhalten, konnten wir dieses drastisch reduzieren. Wir nutzten ihre Expertise und baten um Erlaubnis, jetzt so mit ihnen umgehen zu dürfen.
Es geht um das Bewusstsein, dass die Pädagoginnen und Pädagogen Teil der Pädagogik sind und dass sie sich letztlich als ganze Menschen hineinbegeben. Traumapädagogik funktioniert nur in wahrhafter professioneller Beziehungsgestaltung und somit müssen die Mitarbeitenden um ihr eigenes Gestelltsein in der Welt wissen. Sie sollten ihre Biografie einordnen können, um ihre Themen wissen, denn diese werden in unserer Arbeit immer wieder leicht angespielt. Das braucht wiederum ein fürsorgendes Leitungsmanagement mit dem Blick auf Selbstfürsorge, Psychohygiene und Gesundheitsmanagement. Die Leitung sollte Vertrauen in die Wirksamkeit der neuen Konzepte ausstrahlen, die Vorhaben sollten Sinn stiften und als sinnvoll erachtet werden. Nur dann können die Mitarbeitenden mitgenommen werden.
Relevant sind hier auch zuverlässige und verbindliche Gremienstrukturen, Abläufe und Informationsflüsse als flankierende stärkende Maßnahmen, auch im Sinne sicherer Orte für Mitarbeitende. Hier geht es so weit, dass reflektiert werden sollte: Gibt es noch befristete Verträge, sind die Arbeitsplätze sicher? Oder in Zeiten des Personalmangels: Sind wir ausreichend ausgestattet, um das Konzept umsetzen zu können?
Die Einführung neuer Konzepte ist wie ein Seismograf, eine Standortbestimmung. Sie zeigt Entwicklungspotenziale auf und sollte genau an dieser Stelle auch eine Aufforderung an die Leitung sein, die bisherigen Strukturen und Prozesse kritisch zu reflektieren. Die Leitung muss darauf achten, keine zu große Verunsicherung in die Einrichtung hineinzutragen. Sie sollte für Stabilität und Klarheit sorgen und transparent machen, welche Wege und Ziele verfolgt werden. Sie sollte Mitarbeitende einbeziehen und Rückmeldung einfordern. Das Ziel muss klar sein, der Weg dorthin auch, Umwege und Rastplätze sind erwünscht. Auch unsere Einrichtung soll im traumapädagogischen Sinn ein sicherer Ort sein. Das heißt nicht, dass alles klar sein muss, sondern dass Kritik und Anregungen ernst genommen werden, verstanden werden wollen und Umsetzungsprozesse mit Beteiligung der Mitarbeitenden und, soweit möglich, mit den Betreuten vorgenommen werden sollten. Das ist wohl der mühsamere, aber langfristig stabilere Weg.
Aber was ist das nun genau, dieser im traumapädagogischen Kontext oft zitierte sichere Ort? Die Gestaltung sicherer Orte bezieht sich hier nicht nur auf die Räumlichkeiten, sondern auch auf die professionelle Beziehungsgestaltung zwischen Kind und pädagogischen Fachkräften. Außerdem meint der Begriff den in der Einrichtung stattfindenden, emotional sicheren Dialog und die Bereitstellung von Gremien und einem Gesundheitsmanagement, das die Selbstfürsorge der Pädagoginnen und Pädagogen in den Blick nimmt. Man könnte es auch so nennen: Der sichere Ort ist die Etablierung und gemeinsame Entwicklung einer traumasensiblen Einrichtungskultur für alle, die dort leben und arbeiten.
Das beginnt nicht nur bei den Konzepten im Alltag. Wir sprechen stattdessen von einem therapeutischen, traumasensiblen Milieu. Das bedeutet, dass wir sensibel dafür sind, wie wir miteinander sprechen, uns fragen, woran Kinder und Jugendlichen beteiligt werden. Geht es dabei nur um den Speiseplan oder noch viel vertiefter darum, was gute Pädagogik ist? So besuchte ich vor kurzem eine Podiumsdiskussion mit der bayerischen Sozialministerin Carolina Trautner und wurde von einem Kind gefragt, warum wir am Wochenende keinen Doppeldienst haben. Jetzt könnten die Fragen auftauchen: Was geht das die Kinder an? Dürfen sie Fragen zu ihrem soweit als möglich sicheren Ort stellen und den wirtschaftlichen Ressourcen einer Einrichtung? Wie viel Transparenz ist nötig? Ich denke: So viel wie möglich! Es sollte ein Beschwerde- oder Anregungsmanagement geben, die Kinder müssen wissen, wo das Büro der Einrichtungsleitung ist, und dürfen auch die Telefonnummer von ihrer Jugendamtsmitarbeiterin wissen.
Geleitet werden wir auf unserem Weg von Expertinnen, also unseren Mädchen und jungen Frauen. „Hey, ich bin normal!“, hat mir eines der Mädchen mal gesagt. Verblüfft dachte ich damals: Sie hat recht! Denn sie hat normal auf unnormale Lebensbedingungen reagiert. Dabei hat sie – wie jedes unserer Mädchen – ihren unversehrten Wesenskern nicht verloren. Manchmal waren wir sehr überrascht und zugleich gerührt, welch reife Weisheit in allen steckt. Eine junge Frau sagte mir einmal, sie stände ohne ihr Trauma nicht da, wo sie jetzt ist. Sie wollte diese Erfahrung nicht rühmen, aber zeigen, dass die Auseinandersetzung mit sich und ihrer Biografie ihr eine große Stärke schenkte.
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