Worauf kommt es bei der Erziehung wirklich an? Gibt es einen Leitfaden, wie man sie effektiv und gleichzeitig für alle gut umsetzbar gestalten kann? Diese Fragen bewegten die niederländische Pädagogin Maria Aarts in den 70er- und 80er-Jahren. Ergebnis ihrer Forschung: die MarteMeo-Methode. Dieses Konzept soll Eltern und anderen Beziehungspartnern helfen, ihre Fähigkeiten im Umgang mit Kindern zu reflektieren und auszubauen. Das große Potenzial der Methode: Sie stellt das Verhalten und das innere Erleben der Kinder in den Mittelpunkt. Marte Meo will die eigene Wahrnehmung von dem, was Kinder uns zeigen wollen, schärfen und so die pädagogische Haltung auf Wertschätzung und vor allem auf Ressourcenorientierung fokussieren. Doch wie genau geht das?
Kamera ab – Action!
Zentraler Baustein der Marte-MeoArbeit ist eine videogestützte Interaktionsanalyse. Eltern oder andere Bezugspersonen werden in alltäglichen Situationen mit ihren Kindern gefilmt. Danach sehen sie sich die Aufnahme mit geschultem Personal an, reflektieren und bearbeiten sie. Leitende Fragen sind dabei:
- Was können die Erwachsenen gut?
- Welche Kommunikationselemente können und sollten erweitert werden?
So unterstützt die Marte-Meo-Beratung die Entwicklung von Kindern, indem sie etwa den Eltern hilft, ihren Job gut zu machen und eine Umgebung mit anregenden Interaktionen anzubieten. Was aber heißt „gute Eltern sein“, an welchen Maßstäben will die Methode messen?
Die Grundlage der Methode basiert auf Beobachtungen von Eltern, die mit ihrer Erziehung erfolgreich sind, die also angemessene Fähigkeiten und Kompetenzen im Umgang mit ihren normal entwickelten Säuglingen mitbringen. In umfangreichem Filmmaterial konnten der Systemische Therapeut und Pädagoge Peter Bünder und seine Kollegen fünf Basis-Elemente herausarbeiten, die eine aufmerksame und entwicklungsfördernde Interaktion mit Kindern charakterisieren:
- Eltern nehmen die Signale ihres Kindes wahr.
- Eltern gehen auf die Signale ihrer Kinder ein.
- Eltern benennen konsequent die Signale, die sie beim Kind wahrnehmen. Außerdem benennen sie, was sie selbst tun, was gerade oder später geschieht und was das Kind tun kann.
- Eltern wechseln in ihrer Kommunikation. Im Gespräch oder im Spiel kommt eine Person nach der anderen dran und eine Handlung folgt der nächsten.
- Eltern leiten und lenken die Kommunikation. Sie geben den Kindern dadurch Struktur und gestalten die Atmosphäre.
In Beratungen mit Eltern untersuchen Experten die gefilmten Eltern-Kind-Interaktionen auf diese fünf Elemente hin. Auch achten sie auf einen angemessenen Ton und eine konstruktive Dialogtechnik. Ein guter Ton zeichnet sich durch Ruhe und Wärme aus, der dem Kind Übersicht, Sicherheit und Klarheit vermittelt. In der Dialogtechnik ist Klarheit und Übereinstimmung mit dem Kind wichtig, wie Bünder und seine Kollegen betonen. Die Situationen zwischen Eltern und Kindern sollen dabei möglichst natürlich und nicht gestellt sein. Eine weitere gefilmte Sequenz zu einem späteren Zeitpunkt kann vergleichend Fortschritte und Veränderungen verdeutlichen. Im Fokus steht jedoch immer das Aufzeigen der kindlichen Bedürfnisse und woran die Eltern diese in den spezifischen Situationen erkennen können.
Das Ziel der Marte-Meo-Methode ist die Entwicklungsförderung. Diese findet immer dann statt, wenn die Bezugsperson die grundlegenden Entwicklungsbedürfnisse des Kindes befriedigt und die momentane Entwicklungsaufgabe im Vordergrund steht. Bünder fasst die einzelnen Bedürfnisse eines Kindes so zusammen:
- Sicherheit und Versorgung, um Urvertrauen entwickeln zu können.
- Zugehörigkeit, um Bindung und Beziehung eingehen zu können.
- Die Welt in Besitz nehmen, um selbstständig zu werden.
- Kontakt und Interaktion, weil das Kind sich nur durch die Erfahrung, gesehen zu werden, selbst als Person wahrnimmt.
- Ermutigung, Bestätigung und Anerkennung, um die eigenen Fähigkeiten entwickeln zu können.
- Kooperation, um sich durch Spiel, mit Spaß und Spannung zu einem sozialen Wesen zu entwickeln.
Die Arbeit nach der Marte-Meo-Methode beinhaltet neben der Förderung kindlicher Entwicklung immer auch die begleitende Förderung elterlicher Kompetenzen. Das heißt, die gewonnenen Informationen werden den Eltern in einfacher Sprache vermittelt und möglichst individuell anhand praktischer Möglichkeiten erläutert. Deshalb ist die unterstützte Videoanalyse von so großem Wert: Die Eltern bekommen durch dieses Anschauungsmaterial unmittelbare Beispiele, wie sie die Bedürfnisse ihrer Kinder erkennen und in einem nächsten Schritt die Entwicklungsförderung in ihren Alltag integrieren können.
Aber nicht nur das Elternhaus bietet Raum für den Marte-Meo-Ansatz. Ein weiteres bedeutsames Setting ist der Kita-Alltag. Auch hier ist Marte Meo mehr als eine praktische Handlungsempfehlung. Es geht um die Verinnerlichung einer spezifischen, pädagogischen Haltung. Durch die große Arbeitsbelastung in der Kita fällt es oft schwer, jedes einzelne Kind in seiner Individualität zu sehen oder in herausfordernden Situationen den Überblick zu bewahren. Eine kollegiale Beratung hilft. Die videogestützte Interaktionsanalyse deckt dabei schonungslos eigenes Verbesserungspotenzial auf und hilft entscheidend, besonders nonverbale Zeichen der Kinder wahrzunehmen und somit Entwicklungsbedürfnisse besser zu verstehen. Im Vordergrund steht dabei auch der Nutzen von Marte Meo als entwicklungsfördernde Kommunikation.
Multitasking in der Gruppe
Das Einfinden in eine Gruppe von Gleichaltrigen und die Entwicklung sozialer Kompetenzen ist eine der wichtigsten Aufgaben, die eine Kita für die Sozialisation eines jeden Kindes bietet. Das Kind muss sich in bestehende Gruppenprozesse integrieren, es muss lernen, die eigenen Bedürfnisse zeitweise hinten anzustellen und sich in sozialen Interaktionen zurechtzufinden. Dadurch lernt das Kind sich im Miteinander mit anderen besser kennen und wird in seiner emotionalen Entwicklung gefördert. Dieses Gruppensetting ist wertvoll – und stellt das pädagogische Fachpersonal gleichzeitig vor große Herausforderungen. Im Gegensatz zu einer exklusiven Einszu-eins-Beziehung muss die Fachkraft auf drei oder vier Kinder mit unterschiedlichen Persönlichkeiten eingehen. Die individuellen Bedürfnisse unterscheiden sich ebenso wie der aktuelle Entwicklungsstand eines jeden Kindes. Demnach ist eine der bedeutendsten Aufgaben der pädagogischen Praxis, kompetent sowohl mit dem einzelnen Kind als auch mit der Gruppe als Ganzes umzugehen.
Bei diesem Balanceakt kann Marte Meo helfen. Mit fördernder Kommunikation können Fachkräfte das Handeln der Kinder genau erkennen und verbal begleiten. Kinder fühlen sich dadurch gesehen. Der Erwachsene „markiert“ das Verhalten des Kindes, was dem Kind zeigt: Ich werde gesehen, also hat das, was ich tue eine Bedeutung. Auch wenn diese kleine Intervention, das bloße Benennen der kindlichen Situation und Perspektive, so banal klingt, ist es entscheidend daran beteiligt, dem Kind Selbstwirksamkeit zu spiegeln. Es kann sich als mächtiger Akteur in seiner eigenen Lebenswelt erleben. Die eigenen Handlungen beeinflussen sogar die eigene Umwelt. Versetzt man sich für einen Moment in diese kindliche Perspektive, bekommt man schnell einen Eindruck davon, welchen motivierenden und förderlichen Einfluss diese vermeintlich kleine Fokussierung haben kann. Es macht einfach ein rundum warmes Gefühl, wenn andere mich auch in unscheinbaren Situationen sehen. Eine Szene aus der Kita soll dies verdeutlichen:
Der Erzieher Michael baut mit dem zweijährigen Lukas einen kleinen Turm aus Bauklötzen. Als der Turm schon fast so hoch wie Lukas ist, beginnt der Junge, mehrere Bausteine vom Fuße des Turms rauszuziehen. Der Turm bricht unter lautem Krach zusammen. Lukas ist begeistert, klatscht in die Hände und lacht laut auf. Sein Erzieher Michael kommentiert die Szene ebenfalls lachend mit den Worten: „Du hast die Bausteine rausgezogen, deshalb ist der Turm jetzt zusammengefallen. Du freust dich über den Krach!“ Auch wenn es für uns Erwachsene ungewohnt ist, Situationen auf diese Art und Weise zu kommentieren, steckt in diesen zwei Sätze sehr viel pädagogische Kraft:
- Das Wort „Du“ macht Lukas deutlich, dass er selbst der Verursacher der Aktion ist. Er hat den Turm ganz allein zum Einsturz gebracht.
- Lukas kann durch den Kommentar den Zusammenhang zwischen Bausteine-Rausziehen und Einsturz des Turmes herstellen.
- Michael markiert das Gefühl der Freude durch den zweiten Satz. Lukas fühlt sich in seinem Affekt gesehen und lernt, diesen mit einem Wort zu verbinden.
- Durch die sprachliche Begleitung findet ganz nebenher eine Sprachförderung statt, die auch noch sehr intensiv ist, weil sie in einer emotional aufgeladenen Situation stattfindet. Denn Inhalte, die mit Emotionen verknüpft sind, verinnerlichen Kinder am besten.
- Die Initiative der Situation ging von Lukas aus. Er erlebt sich selbst als Motor seiner Entwicklung.
Indem sich Michael darauf einlässt und er Lukas folgt, gibt er dessen aktuellen Entwicklungsbedürfnissen ausreichend Raum. Eine Intervention wie das Verurteilen der Zerstörung hätte Lukas in eine bestimmte Richtung gedrängt und das eigene Gefühl der Freude als falsch vermittelt. Deshalb ist der Kommentar ohne Bewertung von Bedeutung.
Hier zeigt sich, welches Potenzial in den alltäglichen Situationen steckt, wenn man diese kompetent begleitet. Die Marte-Meo-Methode bietet die Ressource, den Alltag für Kinder als wichtigen Reflexionsraum der eigenen Empfindungen und Handlungen zu etablieren. Kinder können ihre eigenen Emotionen durch die verbale Begleitung verstehen und in einem weiteren Schritt auch regulieren lernen. Durch dieses Aufzeigen der eigenen Gefühle fühlen sich die Kinder wahrgenommen und in ihrem Selbst bestätigt, was Selbstvertrauen stärkt und zu Exploration anregt. Der Ansatz ist außerdem relativ leicht in den oft stressigen Alltag einer Kita integrierbar. Er lässt sich gut in Gruppenprozesse einbinden und erweitert den Gewinn noch durch die Unterstützung von Kooperationsverhalten der Kinder untereinander.
Das zeigt sich auch in der nächsten Situation. Eine Gruppe von Kindern steht auf dem Außengelände einer Kita eng beisammen. Der vierjährigen Marie fällt ein Vogelnest in einem Baum auf. Sie sagt: „Da ist ein Vogelnest!“ Erzieherin Heike, die dabeisteht, greift den Kommentar auf und sagt laut in die Runde: „Marie hat ein Vogelnest in der Baumkrone entdeckt. Schaut mal!“ Die anderen Kinder kommen dazu, schauen zu Marie und folgen ihrem Blick. Schnell entsteht ein Gespräch über Vögel, ob dort Küken leben und was die Vogel-Mama gerade macht. Wie im Einzelkontext befriedigt der Kommentar der Erzieherin auch hier viele Entwicklungsbedürfnisse. Jedoch wird das Ganze durch die Dimension Gruppe erweitert. Marie erlebt sich als Teil einer sozialen Umwelt, die durch die eigene Beobachtung etwas für die Gemeinschaft beiträgt und diese mitgestaltet. Die ausgeprägte Beobachtungsgabe einer pädagogischen Fachkraft ermöglicht es, Aufmerksamkeit zu wecken und als Moderator zu fungieren. Dabei muss sie Folgendes beachten:
- Initiativen der Kinder bewusst wahrnehmen.
- Erkennen, worauf die Aufmerksamkeit gerichtet ist.
- Die Aufmerksamkeit der Kinder auf Situationen lenken, die ein Erlebnis mit anderen ermöglichen.
- In Situationen kleine Schritte benennen, Kinder aufeinander beziehen und gemeinsame Erfahrungen markieren – dabei das Gleichgewicht zwischen Steuerung und Zurückhaltung wahren.
- Positiv und anerkennend auf erwünschtes Verhalten reagieren.
- Zum Schluss positive Endsignale setzen und das Gruppengeschehen präsentieren. Im vorliegenden Beispiel wäre dies die Moderation und Kommentierung der Gemeinschaftserfahrung der Kinder.
Der Marte-Meo-Ansatz entfaltet mit relativ geringem Aufwand in Gruppenprozessen großes Potenzial. Er scheint also wie geschaffen für den Alltag der institutionellen Betreuung, da Einrichtungen diese pädagogische Haltung auch mit geringem Personalaufwand verinnerlichen können. Anders als aufwendige Projekte oder Angebote fließt die Förderung in den normalen Alltag der Kinder mit ein.
Die hier beschriebene pädagogische Haltung ist am Ende nur ein Teil der umfangreichen Marte-MeoMethode. Ihr volles Potenzial kann sie erst bei zusätzlichem Einsatz der videogestützten Interaktionsanalysen entfalten. Diese sind im Rahmen verschiedener Beratungssettings von unschätzbarem Wert. Die Förderung der Reflexionsfähigkeit der pädagogischen Fachkräfte (kollegiale Fallberatung), der Aufbau pädagogischer Kompetenzen (Anleitung von Berufsanfängern) oder die Unterstützung elterlicher Erziehungskompetenzen sind hierbei die Hauptanwendungsgebiete. Dabei erfordert jeder Einsatz die Motivation der Teilnehmer, denn für Reflexion braucht es freiwilliges Engagement. Zusätzlich muss der Kostenträger für diese umfassende Anwendung auch eine angemessene Finanzierung in Form von Fachkraftstunden, Equipment und zeitlichen Ressourcen sicherstellen.
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