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Ende des Jahres 2017 waren nach Schätzungen der UNHCR ca. 68,5 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Mitte 2021 ist die Zahl bereits auf ca. 84 Millionen Flüchtlinge gestiegen. Davon sind fast die Hälfte (42%) Kinder und minderjährige Jugendliche, die sich mit ihren Eltern, anderen Verwandten, fremden Erwachsenen oder gar alleine auf den Weg in ein vermeintlich sichereres Leben gemacht haben.
Aktuell sind in den zurückliegenden Wochen ca. 270 000 (Stand Mitte März 2022) Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, insbesondere Frauen und Kinder, in Deutschland angekommen – mit traumatischen Erlebnissen von Krieg, Zerstörung, Leid, Angst und Furcht in unvorstellbarem Maß.
Bereits 2015 hat die Technische Universität München in einer Untersuchung festgestellt, dass jedes fünfte Kind mit Fluchterfahrung unter posttraumatischen Belastungsstörungen (im weiteren Text PTBS) leidet und die Häufigkeit des Auftretens somit 15-mal höher liegt als in der Allgemeinbevölkerung. Für die Arbeit mit Kindern mit Flucht- und/oder Kriegserfahrung ist es wichtig, sich zunächst noch einmal bewusst zu machen, wie es zu einer PTBS kommen kann.
Traumatische Ereignisse haben vielfältige Facetten und hinterlassen ganz individuelle Spuren. Kinder sind vor, während und nach der Flucht besonders betroffen von Situationen mit lebensbedrohlichem und katastrophalem Ausmaß, die tiefgreifende Verzweiflung und Ängste auslösen und die körpereigenen Abwehr- und Bewältigungsmechanismen völlig überfordern. Solche Situationen sind oft verbunden mit der Erfahrung von absoluter Ohnmacht und Hilflosigkeit. Dies können zeitlich unterschiedlich lange traumatische Geschehnisse wie Überfälle, Unfälle, das Mit- oder Selbsterleben von Gewalt, Folter, Verfolgung, Missbrauch, Tod, Erschießung und Ermordung von Angehörigen und Völkermord bis hin zu monate- oder jahrelang andauernden Erlebnissen wie Beschuss und Bombardierungen, Fliegeralarmen und die Suche nach Schutzraum, Ausharren in Luftschutzkellern, Flucht und Unterbringung in Flüchtlingscamps und der Verlust von Hab und Gut sowie wichtigen Menschen sein. Wenn Kinder solchen Situationen schutzlos ausgeliefert sind, kann es zu unterschiedlichen körperlichen und psychischen Reaktionen kommen. Manchmal entwickelt sich aus der völligen Überforderung beispielsweise eine Dissoziation (Abspaltungen) oder eine Depersonalisation (das Heraustreten aus dem eigenen Körper), um die Situation psychisch aushalten zu können und ein Weiterleben zu ermöglichen.
Das Urvertrauen des Kindes in die Menschheit und das sich entwickelnde Weltbild sind derart sensibel gestört, dass sich gerade bei langanhaltenden Erlebnissen ein großes Risiko für eine Traumafolgestörung zeigt.
Je jünger ein Kind ist, desto häufiger sind PTBS zu erwarten. Neben den oben beschriebenen äußeren Faktoren hängt die Schwere einer Traumafolgestörung auch von der Persönlichkeit und dem Entwicklungsstand des einzelnen Kindes ab. Kinder mit großem Selbstbewusstsein, guten Kommunikationskompetenzen und starken Resilienzfaktoren sind möglicherweise, aber nicht zwingend weniger betroffen als Kinder mit wenig Selbstwertgefühl, eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten und einer verzögerten oder geschwächten Persönlichkeitsentwicklung.
Bei plötzlich oder unerwartet wiederkehrenden intensiven Erinnerungserlebnissen, die eine traumatische Situation wieder aufleben lassen, kann es sich um sogenannte Intrusionen oder Flashbacks handeln. Kinder spielen Erlebtes vielleicht in der Krippe/Kita im Puppenhaus oder im sozialen Rollenspiel nach und versuchen die Situation damit zu verarbeiten. Hier spricht man vom posttraumatischen Spiel.
Häufig auftretende Ängste sind ein wichtiger Indikator für PTBS. Diese können ganz spezifisch, etwa bei bestimmten Geräuschen, Gerüchen und bestimmten Situationen, auftreten oder sich generalisieren (also langwährend/ständig und ohne erfindlichen Anlass) auftreten. Sie äußern sich möglicherweise in übergroßen Trennungs- oder Verlustängsten gegenüber Bezugspersonen oder durch große Ängste vor fremden Menschen.
Kinder mit PTBS (ver)meiden häufig Situationen und Orte, die sie an das Trauma erinnern und versuchen damit neue Stressreaktionen zu umgehen. Sie tragen häufig eine motorische Unruhe in sich, leiden unter Konzentrationsstörungen, schlechtem Schlaf, sie können aggressives Verhalten zeigen und befinden sich sozusagen in einem ständigen Alarmzustand. An körperlichen Symptomen können Bauch- und Kopfschmerzen sowie Appetitlosigkeit auftreten. Manche Kinder zeigen ein regressives Verhalten und können längst erreichte Entwicklungsschritte nicht mehr abrufen.
Die Behandlung einer PTBS gehört in die Hände speziell ausgebildeter und erfahrener Therapeut:innen. Sie ist nicht die Aufgabe von pädagogischen Fachkräften in der Krippe oder Kita. Dennoch sind Erzieherinnen und Erzieher in Krippe und Kita für Kinder mit Traumafolgestörungen sehr wichtige Bezugs- und Schlüsselpersonen, die ihnen im Alltag helfen, ihre Erfahrungen zu verarbeiten. Die Kita/Krippe ist für Kinder mit Kriegs- und Fluchterfahrung der erste Ort in einer neuen Welt, der Sicherheit und Geborgenheit geben kann.
Kinder mit PTBS brauchen Erzieherinnen, die zuverlässig und liebevoll sind, die ihnen hilfsbereit zur Seite stehen, die für einen strukturierten Tagesablauf ohne Überforderung sorgen, die ihnen positive Konfliktlösungsstrategien aufzeigen, die mutig vorangehen, die Verständnis und Geduld haben und ein starkes Vorbild sind – Bezugspersonen, zu denen Kinder ein tiefes Vertrauen aufbauen können.
Kinder mit PTBS brauchen andere Kinder, mit denen sie ein neues soziales Miteinander üben können, eine Gruppe, in der sie Kind sein dürfen und nur kind- und altersgerechte Aufgaben übernehmen müssen. Sie brauchen ein soziales Gefüge, in dem neue Freundschaften entstehen können und neue positive Erfahrungen mit Menschen gemacht werden können. Aber Kinder mit PTBS brauchen natürlich auch familiären Rückhalt. Erzieherinnen können Eltern/Familien in ihrer neuen Lebenssituation unterstützen und hilfreich zur Seite stehen in allen Fragen der Erziehung und Bildung. Das wird sich positiv auf die Kinder auswirken. Kinder mit PTBS brauchen Netzwerke. Jeder Austausch und jede Zusammenarbeit mit Therapeut:innen, Kinderärzt:innen, Beratungsstellen und anderen unterstützenden Institutionen und Einzelpersonen hilft einen Schritt weiter in eine gute Zukunft.
Kinder mit PTBS brauchen grob gesagt eine neue Chance: Die Möglichkeit, Bilder und Szenen des Schreckens, die ein Leben lang unvergesslich bleiben, zu kompensieren und zu verarbeiten, damit sie mutig in die Zukunft schauen können. Kinder mit PTBS brauchen Sie! Helfen Sie mit, den Kitaalltag so zu gestalten, dass diese Kinder ein Leben lang von Ihrer Unterstützung profitieren können.
Heike König leitet eine große Kita mit mehreren Krippenkinder-Gruppen. Sie berichtet aus der Praxis in Pflege und Gesundheit und über das, was im Alltag auffällt und mehr Gehör – auch in der Öffentlichkeit – braucht.
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