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Täglich erfahren Kinder massive psychische und physische Verletzungen: Sie werden Opfer von Krieg und Vertreibung, erleben Zerstörung und Gewalt. Kein Wunder: Die weltweiten Kriegsgebiete nehmen zu, die Zahl der Menschen, die ihren Lebensort gezwungenermaßen verlassen müssen, wächst seit Jahren kontinuierlich an. Das machen die Zahlen des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) erschreckend deutlich. Doch nicht nur in
Kriegs- und Krisenregionen sind Kinder tiefgreifender, massiver Gewalt ausgesetzt, sondern auch in unserer Gesellschaft. Das beweist die Geschichte der Heimerziehung und der Kinderkurheime in den 1950erbis 1980er-Jahren ebenso wie die sexualisierte Gewalt gegen Kinder im Kontext der Kirche. Aktuellere Beispiele für das Ausmaß kindlichen Leidens gibt es leider auch mehr als genug, wie etwa den Kinderpornografie- Ring in Bergisch-Gladbach oder die sexualisierte Gewalt gegen Kinder in Lügde.
All diese Gewalterfahrungen können für Kinder traumatisierend sein. Daher ist die gewachsene gesellschaftliche Aufmerksamkeit für das Thema Trauma wichtig und gut. Auch in der Pädagogik und der Sozialen Arbeit ist ein sensibler Blick dafür angekommen. Dementsprechend weiß man inzwischen: Mit Menschen zu arbeiten, die traumatisierende Erfahrungen machen mussten, ist eine Herausforderung für die tägliche Arbeit – auch mit Kindern. Die Vielzahl an Veröffentlichungen, ebenso wie der gewachsene Markt an Weiter- und Ausbildungsangeboten zur Traumapädagogin oder zum Traumapädagogen, resultieren aus dieser Entwicklung und verbessern oft die pädagogische Arbeit vor Ort.
Mit dieser „Entdeckung des Traumas“ verschiebt sich jedoch auch die Debatte: So lässt sich eine wachsende Unschärfe in der Verwendung des Begriffs beobachten. Denn er hat nicht nur in pädagogische Handlungsfelder Einzug gehalten, sondern ist zu einem selbstverständlichen Wort in unserer Alltagssprache geworden. Er begegnet uns in Zeitungsberichten genauso wie in Gesprächen. Auf diese Entwicklung nimmt der Psychologe David Becker Bezug und kritisiert, dass der Begriff Trauma immer mehr zur „Dauermetapher für alles Furchtbare“ geworden ist. Immer häufiger würden jegliche verletzende und schmerzhafte Erfahrungen mit diesem Terminus belegt. Damit entgleitet dem Begriff das, was er eigentlich zu fassen versucht – eine „lebensgeschichtliche Erfahrung von existenzieller Bedrohung, Demütigung, Überwältigungsund Ohnmachtserfahrung“. So formuliert es die Sozialwissenschaftlerin Heidrun Schulze. Eben diese tiefe und intensive Erschütterung des Subjektes, in Situationen, denen es ohnmächtig gegenübersteht, hinterlässt nachhaltige Spuren in der Psyche. Benutzen wir den Begriff Trauma tagtäglich in anderen Kontexten, bagatellisieren wir diese Erfahrungen und die Grenzen verschwimmen. Doch auch in der Fachdiskussion hat sich die Bedeutung des Begriffs verschoben. Daher problematisieren kritische Stimmen schon seit Längerem, dass sich Expertinnen an einer psychiatrischen Diagnostik orientieren und auf beschreibbare Symptome konzentrieren. Das berge die Gefahr, dass sie die Betroffenen auf einen Opferstatus reduzieren und vor allem auf „Störungen“ schauen, die beobachtet und prognostiziert werden können, wie Heidrun Schulze anmerkt.
Aber nicht nur deswegen ist die Popularität des Traumabegriffs problematisch. Welche unbeabsichtigten Nebenfolgen sie außerdem mit sich bringt, zeigt das Beispiel von kindlichen Traumata im Zusammenhang mit Flucht: Im „Sommer der Migration“ 2015 öffnete die Regierung
für eine kurze Zeit die Grenzen und ermöglichte einer größeren Zahl von Menschen, in Deutschland anzukommen. Zahlreiche Familien fanden in der Folgezeit hier Zuflucht, unter ihnen viele Minderjährige. Damit wurde deren Aufnahme ein herausforderndes Thema, auch für elementarpädagogische
Institutionen. Die wachsende Unsicherheit der Fachkräfte führte zu einer größeren Nachfrage nach traumapädagogischen Weiterbildungen. Wie sollten sie mit den Kriegserfahrungen, welche ein Teil der neu angekommenen Kinder mitbrachte, unterstützend und angemessen umgehen?
Im Kita-Alltag erlebten die Fachkräfte nämlich auch Kinder, die tiefgreifend verängstigt waren oder durch scheinbar harmlose Auslöser getriggert wurden. Auch untermauerte die Berichterstattung – zu der Zeit vor allem die Nachrichten über den Krieg des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad gegen die Zivilbevölkerung sowie die Verfolgung der êzîdîschen Minderheit durch den IS im Irak – die Befürchtungen, im täglichen Umgang sehr oft mit Traumatisierungen konfrontiert zu werden. Und nicht zuletzt stützten erste wissenschaftliche Erkenntnisse diese Bedenken. So kam eine Untersuchung der Technischen Universität München zu dem Schluss, dass ein Drittel der geflüchteten Kinder aus Syrien traumatisiert sei und jedes fünfte in Deutschland angekommene Kind unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leide.
All das führte zu einer starken Fokussierung auf das Thema Traumatisierung. Fortbildungen dazu waren in der Folgezeit deutlich nachgefragt Und auch in den Handbüchern der vergangenen Jahre für den Kita- Alltag nimmt das Thema einen herausgehobenen Stellenwert ein – bis hin zu einer grundsätzlichen Traumatisierungsvermutung bei geflüchteten Kindern. So schreibt der Autor und Coach Volker Abdel Fattah in seinem Buch „Flüchtlingskinder in der Kita“: „Es sollte zunächst davon ausgegangen werden, dass ein Flüchtlingskind, das in einer Kindertageseinrichtung aufgenommen wird, traumatische Fluchterfahrungen besitzt und diese unweigerlich mitbringt. Darauf sollten sich die pädagogischen Fachkräfte einstellen."
Eine solche Annahme wird der Diversität der geflüchteten Menschen, ihren unterschiedlichen Erfahrungen, Lebens- und auch Fluchtgeschichten aber nicht gerecht – ebenso wenig wie andere Themen in diesen Handbüchern. Denn Autorinnen rücken oftmals vor allem die Probleme von geflüchteten Kindern in den Vordergrund: ihr Fremdheitsgefühl im deutschen Kita-Alltag vor dem Hintergrund vermeintlicher, tiefgreifender kultureller Differenz oder aber die „doppelte Sprachlosigkeit“ aufgrund unaussprechlicher Fluchterfahrungen sowie der fehlenden deutschen Sprachkompetenz. So wichtig es sein mag, Fachkräfte für die Herausforderungen, vor denen die Kinder stehen, zu sensibilisieren – gezeichnet wird ein sehr einseitiges und pauschalisierendes Bild. Dominant ist die Figur des traumatisierten, sprach- und hilflosen Kindes. Unsichtbar hingegen bleiben die Kinder in ihren Stärken und Ressourcen ebenso wie die unterstützende und stärkende Bedeutung der Familie. Dieses Bild fügt sich in die öffentliche Debatte um Flucht ein, die die geflüchteten Familien vorrangig als hilfsbedürftige Opfer, eher selten jedoch als handelnde Subjekte zeichnet. Wie wirkmächtig das Bild des traumatisierten, sprach- und hilflosen Kindes im Alltag ist, zeigt sich in Interviews mit Fachkräften. Diese wurden im Rahmen eines Projektes im Jahr 2017 durchgeführt. In den Gesprächen zeigte sich das große Engagement der Fachkräfte vor Ort sowie das Bedürfnis, den Kindern möglichst gerecht zu werden. Hierzu gehörte auch der Wunsch nach einem adäquaten Umgang mit den traumatischen Erfahrungen, die diese Kinder zum Teil gemacht hatten und deren Auswirkungen im Alltag sichtbar wurden. Doch es zeigte sich auch eine Schieflage: Angesprochen auf die Herausforderungen, berichteten die Interviewten sehr ausführlich über die Probleme im Alltag, die Schwierigkeiten und Defizite der Kinder und der Eltern. Demgegenüber waren die Antworten auf die Frage nach ihren Kompetenzen wesentlich einsilbiger. Nur schwer konnten Fachkräfte die Ressourcen und Stärken der Familien – Kinder wie Eltern – beschreiben. Es wurde deutlich: Sie finden im Alltag zu wenig Beachtung.
Deswegen besteht die Gefahr, dass Kinder im Zuge der Traumadebatten in ihren Stärken und Ressourcen unsichtbar werden – eine Tendenz, die durch das „psychiatrische Denken“ verstärkt wird, wie die Pädagogin Lena Hartmannsberger kritisch anmerkt. Denn dieses Denken verwandelt „das starke Ich des überlebenden Kindes in das defizitäre Subjekt des traumatisierten Kindes“.
Doch es ist nicht nur problematisch, dass die Stärken der Kinder immer unsichtbarer werden, umso populärer der Traumabegriff wird. Auch andere Aspekte sind bedenklich. So kritisieren viele schon seit Längerem die sukzessive Entpolitisierung des Traumabegriffs, die vor allem mit der Psychiatrisierung des Begriffs einhergeht. In diesem Rahmen sieht man traumatisierte Menschen immer weniger als Opfer einer Gewalttat, sondern nimmt sie vor allem als krank und behandlungsbedürftig wahr. In den Hintergrund tritt dementsprechend eine zentrale Frage, die Monika Jäckle, Bettina Wuttig und Christian Fuchs in ihrem Beitrag „Traumatische Gespenster“ im „Handbuch Trauma – Pädagogik – Schule“ formulieren: Warum leidet die traumatisierte Person und wer ist dafür verantwortlich? Richtet man die Perspektive darauf, wird sichtbar, dass hinter dem Leiden von Kindern nur selten Unfälle oder Katastrophen stehen – die traumatisierenden Situationen sind mehrheitlich menschengemacht.
So geht verloren, was in den 1970er-Jahren den politischen Hintergrund der Traumadiskussion bildete: einerseits die Anerkennung der psychischen und sozialen Folgen von Gewalt, andererseits aber auch der Blick auf ihre Ursachen und den Zusammenhang mit Machtund Herrschaftsverhältnissen. Darauf macht Ariane Brenssell aus der Perspektive der kritischen Psychologie aufmerksam. Vielleicht erklärt genau diese Entpolitisierung der Traumadebatte eine weitere Schieflage, die sich im Blick auf die geflüchteten Kinder zeigt. Denn in der Diskussion, in den Handbüchern wie auch den Interviews werden vor allem die vergangenen Erfahrungen der Kinder im Herkunftsland oder auf dem Weg nach Deutschland thematisiert. Die Lebensbedingungen der Kinder und Familien – angekommen in Deutschland – bleiben hingegen weitgehend im Schatten. In den Blick geraten damit vergangene Erlebnisse, auf die man kaum mehr Einfluss nehmen kann – auch, da sie Folgen internationaler Politik sind. Die gegenwärtige Situation der Kinder – die Realitäten der engen Gemeinschaftsunterkünfte, die Belastungen, die mit einer drohenden Abschiebung einhergehen, schleppend umgesetzte Familienzusammenführungen, die Erfahrungen rassistischer Ausgrenzung – bleibt in den Debatten dagegen weitgehend unbeachtet. Doch es ist in der Traumaforschung unbestritten, dass Lebensbedingungen und ein Leben in Sicherheit zentrale Momente für den Heilungsprozess nach einer Traumatisierung sind. Damit erhalten die Lebensbedingungen von Kindern und Familien mit Fluchtgeschichte eine zentrale Bedeutung. Und zwar, um die Erfahrung verarbeiten zu können – genau aus diesem Grund müssen sie mehr beachtet werden.
Der sensibilisierte Blick auf die Traumatisierung von Kindern bringt für die pädagogische Praxis auch ungewollte Nebeneffekte und Herausforderungen mit sich – trotz allem Kompetenzgewinn. Daher ist es gut, sich diese zu vergegenwärtigen. Damit wird zum einen daran erinnert, im Alltag die Stärken und Ressourcen der verletzten Kinder ebenso wie deren resilienten Anteile nicht zu übersehen. Zum anderen gilt es, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Traumatisierungen rahmen und ermöglichen, nicht zu vergessen – auch, um der Gefahr einer individualisierenden Perspektive zu entgehen. Denn hinter den traumatisierenden Erlebnissen ebenso wie den (Lebens-)Bedingungen, die einen Heilungsprozess erschweren oder unterstützen, stehen menschengemachte Strukturen. Und ihnen wohnt das Potenzial zur Veränderung inne.
Nicht zuletzt ist das eine ethische Frage. Die Soziale Arbeit versteht sich explizit als Menschenrechtsprofession. Deswegen ist es wichtig, sich über das pädagogische Handeln hinaus für die Lebensbedingungen traumatisierter Kinder stark zu machen. Denn das ist die Voraussetzung dafür, dass Kinder ihre Erfahrung verarbeiten und in der Folge heilen können.
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