Eines sollten wir wissen: Nicht jedes Kind aus der Ukraine hat Traumatisches erlebt. Und nicht jedes Kind, das ein traumatisches Erlebnis hatte, ist traumatisiert. Dennoch sind die Erkenntnisse aus der Traumapädagogik wichtig. Denn das, was traumatisierten Kindern gut tut, tut auch allen anderen gut. Wir müssen also keine Diagnosen stellen. Die Erkenntnisse aus der Traumapädagogik geben allen Kindern Sicherheit und Halt. Sie stärken ihr Vertrauen in sich selbst und in ihre Umgebung.
Die folgenden Punkte helfen, die eigene Rolle zu klären und den Kindern und Müttern aus der Ukraine empathisch und professionell zu begegnen.
1. Die eigene Haltung gibt Halt
Wer Menschen in schwierigen Situationen Orientierung und Halt geben will, braucht einen inneren Kompass. Das erste, das Halt gibt, ist deshalb die eigene Haltung. Wie sieht meine eigene Haltung aus? Wie kann ich Zugang zu ihr finden, sie überdenken und entwickeln? Die folgenden Positionen helfen, Antworten auf diese Fragen zu finden.
Das Geleistete respektieren: Machen wir uns bewusst, was Menschen auf der Flucht vor dem Krieg geleistet haben: Sie haben die Angst vor drohendem Unheil ausgehalten, das durchdingende Geräusch der Sirenen ertragen und Nächte in U-Bahnschächten überstanden. Sie mussten Abschied nehmen vom Vater oder Ehemann, nicht wissend, wann und ob sie sich wiedersehen. Sie haben auf die Schnelle Koffer gepackt, haben sich auf den Weg gemacht ins Unbekannte. Es ist unsere Aufgabe, das zu respektieren oder zu „würdigen“, wie es die Pädagogin und Expertin für Traumapädagogik Wilma Weiss formuliert.
Gute Gründe annehmen: Das bedeutet, anzunehmen, dass Kinder für das, was sie tun, einen Grund haben. Jedem Verhalten, das wir als problematisch betrachten, und jedem Widerstand, den ein Kind leistet, liegen Bedürfnisse zugrunde, die wir erkennen, beachten und befriedigen sollten. Wenn ein Kind seinen Rucksack auch beim Essen und Spielen nicht ablegen möchte, dann kann das seinen Grund darin haben, dass es jederzeit zur Flucht bereit sein möchte. Oder, dass es Essen sammeln und im Rucksack verwahren möchte, weil es erfahren hat, dass Vorsorge für das Überleben wichtig ist. Wenn wir uns auf die Suche nach den Gründen machen, haben wir einen anderen Zugang zu einem Kind, als wenn wir davon ausgehen, dass wir schon wüssten, was mit dem Kind los ist.
Einen sicheren Ort bieten: Die Kita kann Kindern und Müttern ein Ort der Sicherheit sein und ein verlässliches Beziehungsangebot machen. Die Kita schafft Normalität. Sie gibt vertraute Strukturen zurück, bietet den Kindern das, was sie auch in ukrainischen Kitas erlebt haben: verlässliche Tagesabläufe, mit anderen Kindern spielen, gemeinsam essen. Fachkräfte
berichten, dass es für alle entlastend ist, wenn sich ein oder zwei Teammitglieder um die Aufgaben kümmern, die mit der Ankunft der Kinder und Mütter in der Kita anfallen. Die Aufgabe der Leitung ist es, diese Aufgabenverteilung zu klären und mitzutragen.
Freude schaffen: Ruhe und Ausgleich tragen viel zur inneren Sicherheit bei. Genauso wichtig sind aber Momente der Freude. Freude trägt Belastung. Wer auch in schweren Zeiten Spiel und Spaß erlebt, stärkt sein Immunsystem, baut Stress ab und bahnt sich den Weg, um neue Lernerfahrungen zu machen. Fröhlichkeit bringt Energien zurück. Hoffnung wird genährt für die kommende Zeit, deren Ausgang nach wie vor unbekannt ist.
Selbstwirksamkeit und Partizipation ermöglichen: Für alle Menschen, die traumatische Erlebnisse hatten, ist es wichtig, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen und sich zu beteiligen. Es ist unsere Aufgabe, den Kindern – und auch ihren Müttern – Möglichkeiten hierfür einzuräumen. Das bedeutet, zu spüren, zu hören und zu erkennen, was jedes Kind und jede Mutter selbst tun kann. Es bedeutet auch, Hinweise zu geben, nichts einzufordern und Kinder gut zu beobachten.
2. Traumatische Erlebnisse und die Folgen
Viele ukrainische Kinder haben Traumatisches erlebt. Sie mussten von heute auf morgen ihr Zuhause verlassen. Sie haben Sirenen gehört, Raketeneinschläge gespürt und zerstörte Häuser gesehen. Sie mussten sich vom Vater, der Tante und ihren Freunden trennen. Für die Kinder bedeutet das die Unterbrechung wichtiger Beziehungen – unvorbereitet, mit Tränen, Schmerz und Angst verbunden. Sie erleben diesen Schmerz auch bei ihren Müttern.
Was kennzeichnet eine traumatische Erfahrung? Es handelt sich dabei um ein Ereignis, das mit extrem viel Stress und mit diesem subjektiven Erleben der Bedrohung verbunden ist. Hinzu kommt das Gefühl der Hilflosigkeit. Für betroffene Kinder ist die Welt plötzlich ein Ort der Bedrohung. Sie haben gelernt: Es kann immer und überall etwas Schlimmes passieren. Das Alarm- und Stresssystem des Körpers, das eigentlich nur aktiv wird, wenn eine reale Gefahr droht, ist bei vielen betroffenen Kindern nun dauerhaft aktiv. Sie sind dadurch leichter reizbar und reagieren viel schneller auf Stress.
Viele Kinder, die eine traumatische Erfahrung gemacht haben, prüfen ihre Umgebung und Menschen auf Gefahren hin. Diese Prüfung ist anstrengend und lange nicht abgeschlossen. Immer wieder versuchen sie, sich zu vergewissern, welche Gefahren von bestimmten Menschen, Situationen und Veränderungen ausgehen. Sie sind häufig misstrauisch, sodass sie nicht so schnell vertrauen können, sich stattdessen immer wieder vergewissern müssen. Das heißt für uns: Geduld haben. Und bitte keine Dankbarkeit erwarten.
Uns sollte auch bewusst sein: Nicht jedes traumatische Erlebnis führt zu einer Traumatisierung. Ob ein Kind aufgrund einer traumatischen Situation mit einer Trauma-Störung reagiert, hängt sehr von den persönlichen Bewältigungsstrategien und von weiteren Faktoren wie der Beziehungsfähigkeit und dem Verhalten der Bindungspersonen ab. Für die Kinder ist es wichtig zu sehen, wie ihre Bindungspersonen – Mütter und Fachkräfte – mit der Situation umgehen. Wenn sie den Kindern einen sicheren Ort bieten, Momente der Freude und der Zuversicht schaffen, den Kindern aber auch die Möglichkeiten geben, sich zu beteiligen, sind die Chancen gut, dass sie die schwere Zeit in ihr Leben integrieren und keine dauerhafte Belastungsstörung entwickeln.
3. Worauf sollten Sie achten?
Die Kinder zu begleiten, heißt, sie gut zu beobachten. Pädagogische Fachkräfte wissen und können das. Kinder in besonderen Situationen – wie nach traumatischen Erlebnissen – zeigen häufig besondere Verhaltensweisen. Die folgenden Tipps helfen Ihnen, dieses Verhalten einzuordnen und angemessen darauf zu reagieren.
Rückschritte: Folgen von traumatischen Erlebnissen können Rückschritte in der Entwicklung des Kindes oder Stillstand in bestimmten Bereichen sein. Das kann die motorische, kognitive oder auch die sprachliche Entwicklung betreffen. Hier gilt es, die Kinder gut zu beobachten und die Expertise der Mütter einzuholen.
Tipp: Beziehen Sie hier die Mütter ein. Sie können von der Entwicklung des Kindes berichten. Wie haben sie ihr Kind bislang erlebt? Was hat es gern und gut gemacht?
Posttraumatisches Spiel: Das posttraumatische Spiel ist kein fröhliches Kinderspiel. Es gleicht eher einer zwanghaften Wiederholung bestimmter Spielabläufe. Das traumatische Erlebnis wird dabei nicht genau nachgespielt. Das Spiel ist vielmehr ein unbewusster Versuch des Kindes, das Erlebnis zu verarbeiten. Es kommt zu dissoziativen Zuständen. Wahrnehmung, Denken, Handeln und Fühlen, die normalerweise stimmig miteinander assoziiert, also verbunden sind, sind dann voneinander getrennt. Einen dissoziativer Zustand kann man daran erkennen, dass Kinder wie weggetreten wirken und in einen Zustand der Benommenheit geraten. Sie nehmen ihre Umgebung nicht bewusst wahr und erleben abrupte Stimmungswechsel. Die Kinder selbst bemerken das in der Regel nicht.
Tipp: Holen Sie das Kind vorsichtig aus dieser Situation, damit es sich mit dem aktuellen Dasein verbinden und in das Hier und Jetzt finden kann: „Schau Tatjana, ich bin es, Julia.“
Kinder schützen sich: Kinder meiden Orte, Menschen oder auch Gespräche, die sie an schlimme Erlebnisse erinnern. Sie schützen sich auf diese Weise, und es ist wichtig, das zu respektieren. Schon ein Gespräch kann mit so viel Erinnerung, Gefühlen und Stress verbunden sein, dass es für das Kind zu anstrengend und zu bedrohlich ist.
Tipp: Erzwingen Sie keine Gespräche mit dem Kind. Vermeiden Sie im Austausch mit Kolleginnen, Müttern oder Dolmetschern Gespräche über Krieg, die die Kinder beunruhigen könnten. Hören Sie zu, wenn die Kinder von sich aus über die Situation sprechen. Fragen Sie die Mütter, wie die Kinder am Telefon mit dem Vater sprechen. So schwer es ist, die Mutter als Bindungsperson kann dem Kind die Sicherheit geben, die es braucht.
Unwohlsein und Schmerz: Durch Stress und unruhigen Schlaf ist oft die Gesundheit geschwächt. Es kann sein, dass das Kind ein Fremdgefühl im Körper, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder andere diffuse Schmerzen ohne eindeutige aktuelle Ursache hat.
Tipp: Verwenden Sie eine Handpuppe, die zeigt, wo es ihr weh tut. Die Puppe greift sich an den Bauch oder an den Kopf. Das Kind nickt und zeigt auch auf die Stelle am eigenen Körper. Eine andere Handpuppe bringt ein warmes Sandsäckchen oder einen kühlen Gegenstand. Ein Stofftier summt eine Melodie, ein anderes zeigt ein ukrainisches Kinderbuch mit vielen Bildern. Dies alles sind Beispiele für Methoden der Stabilisierung, die über alle Ländergrenzen hinweg hilfreich sind und verstanden werden.
4. Was brauchen Kinder mit Kriegserfahrung?
Kinder, die Erfahrungen mit Flucht und Krieg gemacht haben, brauchen Sicherheit und Halt. Wie kann das erreicht werden? Was können Mütter und andere Bezugspersonen tun? Was kann die Kita den Kindern geben?
Äußere Stabilität: Sie entsteht durch einen geregelten, verlässlichen Tagesablauf, durch gute Trennungssituationen, einen beruhigenden Mittagsschlaf, Essen und Trinken ohne Druck und Zwang und durch Rückzugsmöglichkeiten, die Sie in der Kita schaffen.
Übergangsobjekte: Sie sind wichtige Begleiter im Leben eines Kindes. Dazu gehören Stofftiere, die auch als Übergangsobjekte bezeichnet werden. Sie dienen der Affektregulation und helfen den Kindern, mit negativen Emotionen umzugehen und Ängste abzuwehren.
Gute Vorbilder: Kinder hören am Wortklang und sehen an den Augen, wie Pädagoginnen und Mütter miteinander im Kontakt sind. Ein freundlicher, offener und empathischer Umgang stärkt das Vertrauen der Kinder in die Menschen in ihrer Umgebung. Das gibt ihnen Halt.
Beständige Bezugsperson: Bezugspersonen sollten vor allem direkt nach der Ankunft nicht ständig wechseln. Aus der Resilienzforschung ist bekannt, dass bereits ein stabiler Mensch genügt, um ein Kind so zu stärken, dass es nicht an den widrigen Ereignissen zu Grunde geht. Diese stabile Person kann eine Erzieherin oder eine Sozialpädagoge sein. Jemand, der in Kontakt mit dem Kind ist, der selbst stabil ist und sich für das Kind interessiert.
Einbeziehen und Gemeinschaft: Kinder in der Kita mit einbeziehen, besonders sprachlich. Auch mal was mitnehmen dürfen und wiederbringen. So spüren die Kinder, dass sie angenommen werden, dass wir uns für sie interessieren.
Bedürfnisse erkennen: Beobachten Sie die Kinder gut. Welche Bedürfnisse haben sie? Brauchen sie Bewegung, Essen, Spiele?
Mut und Offenheit: Fragen Sie mutig die Mütter: Wo wohnen Sie? Wer unterstützt sie? Wie war der Kindergarten in der Ukraine? Was war schön? Nehmen Sie die Haltung des Nichtwissens ein. Damit ist gemeint: neugierig sein, zuhören, um die Welt des anderen besser zu verstehen. Verzichten Sie auf Aussagen wie: „Das kenne ich, das ist nichts Neues, das ist doch kein Problem.“ Zeigen Sie den Müttern, dass sie an ihrem Leben und ihrer Erfahrung interessiert sind. Dies können Sie einbeziehen und in den gemeinsamen Alltag integrieren.
Kontakt zu Muttersprachlern: Laden Sie mal auch mal eine Person ein, die sich mit den Müttern in ihrer Landessprache unterhält.
Ein geregelter Tag, ein Stofftier von zuhause und die Möglichkeit, sich einzubringen – diese und die anderen Punkte haben eines gemeinsam. Sie zeigen: Die Tür ist offen. Von beiden Seiten.
Rita Freitag ist Diplomsozialpädagogin, Lehrtherapeutin für Systemische Beratung und Familientherapie und Dozentin für Traumapädagogik.
Peggy Radtke ist Fachreferentin für Kinderschutz beim Deutschen Kinderschutzbund Landeverband Sachsen. Sie ist Systemische Beraterin (DGsP), Dozentin „Kinder in guten Händen“® und Elternkursleiterin „Starke Eltern, Starke Kinder“®.
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