Seit Beginn der Corona-Pandemie haben Sie ein Auge auf die Ängste und Sorgen der Kinder. Was war der ausschlaggebende Punkt, der Ihrem Team klar machte: Darauf müssen wir achten?
Birgit Aschekowski: Wir haben einen Stempel gekauft, auf dem das Coronavirus zu sehen ist. Diesen haben wir morgens auf die Hände der Kinder gedruckt, mit dem Ziel, dass sie sich im Kindergarten so häufig die Hände waschen, dass der Stempel am Nachmittag verblasst ist, oder gar nicht mehr zu sehen. Das hielten wir für eine gute Idee, um das häufige Händewaschen zu etablieren und die Kinder daran zu erinnern.
Am nächsten Tag erzählten uns Eltern, dass ihr Kind große Angst bekam und das Virus so schnell wie möglich abwaschen wollte. Wir hatten vorher nicht darüber nachgedacht, dass es auch Angst machen kann, ein Bild des Virus auf der Hand zu haben. Die Kinder hatten zu dem Zeitpunkt natürlich schon verstanden, dass das Coronavirus gefährlich ist und man sich auf keinen Fall damit anstecken sollte. Im Gespräch erfuhren wir dann, dass die Eltern des Kindes selbst große Angst hatten, sich anzustecken. Diese Sorge haben sie an ihr Kind weitergegeben.
Wie haben Sie nach dem Elterngespräch reagiert?
Birgit Aschekowski: Wir haben im ganzen Team über den Vorfall gesprochen und den Stempel direkt verbannt und nicht mehr verwendet. Wir haben ausführlich darüber reflektiert, weil ja auch für uns die Umstände und Ängste der Kinder neu waren. Wir hielten es für das Beste, den Stempel gar nicht mehr zu thematisieren. Rückblickend würde ich meinem Team empfehlen, noch ein klärendes Gespräch mit den Kindern führen, um ihnen die Angst zu nehmen und unser Handeln zu erklären.
Wie haben Sie es stattdessen geschafft, die nötigen Hygienemaßnahmen bei den Kindern zu verinnerlichen?
Birgit Aschekowski: Durch regelmäßiges Händewaschen. Die Fachkräfte haben ihre Vorbildfunktion genutzt und sich selbst häufig die Hände gewaschen und auch die Kinder deutlich häufiger dazu aufgefordert. Neben den üblichen Zeitpunkten nach dem Toilettengang oder vor den Mahlzeiten kamen weitere Zeiten dazu, zum Beispiel morgens direkt nach dem Betreten der Einrichtung. Inzwischen ist das ganz normal geworden und es spricht auch niemand mehr über den Grund dieser Maßnahme.
Sind im Lauf der Pandemie noch andere Ängste der Kinder deutlich geworden?
Birgit Aschekowski: Viele Kinder in unserer Kita haben sehr engen Kontakt mit ihren Großeltern. Manche wohnen mit ihnen in einem Haushalt oder in unmittelbarer Nähe. Als klar wurde, dass gerade die älteren Menschen vor dem Virus geschützt werden müssen, machten sich einige Kinder Sorgen um ihre Großeltern. Sie berichteten uns, dass sie Oma und Opa gerade nicht mehr sehen durften, oder nur am Gartenzaun Kontakt zu ihnen hielten. Ein Kind wartete ungeduldig auf die Impfung seiner Großeltern hin und berichtete uns ausführlich über deren jeweiligen Impfstatus. Kurz nachdem seine Verwandten die vollständige Impfung gegen Corona erhalten hatten, wurde der Junge selbst im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung geimpft. Er kam dann am nächsten Tag ganz erleichtert und froh in den Kindergarten, weil er nun auch endlich „gegen Corona“ geimpft war. Wir und seine Eltern mussten ihm dann leider erklären, dass seine Impfung ihn vor einer anderen Krankheit schützt.
Haben Sie den Eindruck, dass die Kinder den neuen Alltag auch in ihr Spiel integrieren?
Birgit Aschekowski: Corona gespielt hat bei uns bisher noch niemand. Aber die Kinder haben sich inzwischen an den Alltag mit den Schutzmaßnahmen gewöhnt. Masken an Erwachsenen oder älteren Geschwistern, die mit zum Abholen kommen, irritieren sie gar nicht mehr. Sie wissen, dass sie untereinander kein Essen mehr tauschen oder teilen sollen und machen das auch von sich aus nicht. Wenn sie sich verabreden wollen, denken sie das Virus direkt mit und sagen Dinge wie „Lieber erst, wenn Corona vorbei ist“ oder „Nur, wenn dann alle gesund sind“. Und neulich wollten sich zwei eng befreundete Kinder einen Abschiedskuss geben und entschieden sich dann doch dagegen mit den Worten „Wir wollen uns ja nicht mit Corona anstecken“. Bei den älteren Kindern gab es eine Phase, in der sie das Virus gemalt haben. Ich war erstaunt, wie gut sie sich mit dessen Beschaffenheit auskannten und wie detailreich die Zeichnungen waren.
Und wie sieht es mit den Schnelltests aus, machen die den Kindern Probleme?
Birgit Aschekowski: Seit wir Coronafälle in der Kita hatten, müssen sich die Kinder noch häufiger testen lassen. Das fand bisher ausschließlich zu Hause statt. Da bekamen wir eine Zeit lang viel Rückmeldung von den Eltern, dass sich die Kinder zu Hause nicht testen lassen wollten oder sich dagegen wehrten. Jetzt scheint das kein Problem mehr zu sein. Um besser kontrollieren zu können, wie häufig die Kinder getestet wurden, zeigen uns die Eltern nun die negativen Testergebnisse. Wir geben den Familien inzwischen auch die Möglichkeit, dass wir die Kinder in der Kita testen. Ein Kind möchte jetzt nur noch bei uns von einer Erzieherin getestet werden und macht das problemlos mit. Da haben wir mal wieder gemerkt: Die Kinder packen das, die gewöhnen sich daran.
Was haben Sie aus den Erfahrungen mit den Kindern gelernt, das Sie immer noch berücksichtigen?
Birgit Aschekowski: Ich glaube, dass der Umgang mit dem Virus learning by doing war. Im ersten Jahr der Pandemie habe ich mich sehr viel mit anderen Hamburger Kita-Leitungen ausgetauscht. Wir haben uns gegenseitig berichtet und Ratschläge gegeben. Durch den Vorfall mit dem Stempel ist uns noch mal mehr bewusst geworden, wie wichtig der Kontakt zu den Familien ist. Das habe ich auch für die folgenden Lockdowns und Schließzeiten mitgenommen: Wir fragen die Eltern direkter: Wie geht es euch? Wie können wir euch helfen? Was beschäftig euch zu Hause? Dieser Austausch war für einige Eltern sehr sinnvoll und hilfreich. Ich kann mich kaum daran erinnern, vor der Pandemie weinende Eltern in meinem Büro oder am Telefon gehabt zu haben. Inzwischen ist das schon oft vorgekommen. Gerade die Mütter sind immer noch häufig überfordert, belastet oder hilflos, da sie oft den Großteil der Care-Arbeit übernehmen. Jetzt noch stärker in der Coronazeit. Wenn ich weiß, was die Eltern belastet, kann ich daraus auch leichter auf die möglichen Sorgen und die Stimmung der Kinder schließen.
Was würden Sie inzwischen anders machen, wenn Sie wieder bemerken, dass die Kinder etwas bedrückt?
Ich habe vor kurzem einen Vortrag der Traumapädagogin Corinna Scherwath gehört. Sie hat darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, mit Kindern über die Dinge zu sprechen, die uns Erwachsene beschäftigen und den Kindern vor allem ihre Handlungsfähigkeit und damit ein Stück Kontrolle zurückzugeben. In Bezug auf Corona heißt das zum Beispiel, den Kindern nicht nur zu sagen „Corona ist gefährlich für Oma und Opa, deshalb dürft ihr sie nicht mehr besuchen“, sondern auch zum Handeln zu animieren: „Du kannst mit ihnen übers Internet telefonieren oder ihnen ein Bild malen, das wir mit der Post schicken“. Oder „Wir dürfen im Kindergarten keinen Geburtstagskuchen mehr essen, aber du darfst kleine Tütchen mit Gummibärchen mitbringen“. Das gilt für alle bedrohlichen Situationen. Neben Corona war hier in Hamburg zum Beispiel gerade der Sturm und die damit einhergehenden Überschwemmungen Thema. Dann haben wir erklärt: Ja, ihr habt gehört, dass die Elbe über die Ufer getreten ist, aber genau dafür gibt es extra Flächen, die ruhig mal unter Wasser stehen können. Das passiert öfter und geht auch wieder vorbei. Ihr könnt jetzt vielleicht eine Weile nicht euren üblichen Spazierweg gehen, aber dafür entdeckt ihr andere schöne Orte.“ Also gilt für Kinder wie für Erwachsene: Reden hilft. Wir müssen ständig miteinander in Kontakt bleiben, damit wir erfahren, wie es den anderen geht.
Birgit Aschekowski leitet mit einer Kollegin zwei Kitas in Hamburg. Im Interview spricht sie über eine der Gruppen im Elementarbereich.
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