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Die kindliche Entwicklung beobachten – unbestritten eine Kernaufgabe pädagogischer Praxis. Seit die Ein- und Zweijährigen einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz haben, können Fachkräfte Entwicklungsschritte und -prozesse beobachten, die Kinder früher in ihren Familien gemacht haben. Laufenlernen zählt dazu. Viele kommen krabbelnd oder mitten in der Übungsphase in die Krippe. Pädagogische Fachkräfte sind darauf eingestellt, diese wichtigen Situationen zu beobachten. Die Beobachtungen sind Anlass für den Austausch mit Eltern, für die Vorbereitungen passender Unterstützungsmöglichkeiten sowie für Bildungs- und Entwicklungsdokumentationen.
Letztere nehmen anhand gezielter Fragen beziehungsweise Items unterschiedliche Entwicklungsaufgaben in den Blick. Dabei berücksichtigen sie sämtliche für die Altersgruppe relevanten Kompetenzen – auch die bereits vor der Aufnahme in die Kita entwickelten. Laufenlernen fällt in den Bereich der Körpermotorik. Je nachdem, welche Entwicklungsnorm man anhand der Vergleichsgruppe zugrunde legt, ist von Kindern zwischen zwölf und fünfzehn Monaten zu erwarten, dass sie frei laufen können. Mit achtzehn Monaten haben Kinder diesen Entwicklungsschritt meist bereits vollzogen. Andernfalls müsste man das jeweilige Kind und seine Motorik genauer im Blick behalten und vielleicht sogar überprüfen lassen, ob ein Problem dahintersteckt.
Eine andere Perspektive eröffnet sich, wenn man Laufenlernen prozesshaft beobachtet. In dem Fall stellt sich nicht die Frage, was ein Kind wann kann, sondern wie es den Entwicklungsschritt vollzieht. Erstaunlicherweise muss man sich dann unter Umständen fragen, ob Laufenlernen im Bereich der Körpermotorik überhaupt richtig verortet ist. Vier Beispiele:
Vielleicht gibt es bei jedem Kind einen besonders wichtigen Impuls, der das Laufenlernen vorantreibt und ganz unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Laufen ist sicherlich eine motorische Tätigkeit, allerdings scheint diese Perspektive letztlich zwar richtig, aber auch enorm verkürzt zu sein. Laufenlernen ist immer mehrdimensional und Ergebnis einer integrativen Entwicklung, die motorische, psychische, soziale und weitere Anteile hat.
Dazu kann man Laufenlernen als Rekapitulation sehen. Das Kind zeichnet in seiner Individualentwicklung die Menschheitsentwicklung nach. Seit mehr als drei Millionen Jahren kann der Mensch aufrecht gehen. Das sowie die Sprache und die Kultur sind zentrale Wesensmerkmale im Vergleich zu anderen Spezies. Der Motor seiner Entwicklung ist also schon in den Genen des Kindes verankert.
Aber der Ausgangspunkt und die Bedeutung des Laufenlernens sind individuell unterschiedlich, und die Beobachtung dieser Facetten des Bildungsprozesses ist viel spannender als das Ergebnis. Das Kind wird somit irgendwann laufen, sofern keine Beeinträchtigungen das verhindern.
Der Mythenforscher Joseph Campbell beschrieb in den 1940er-Jahren erstmals die Struktur der Heldenreise. Es handelt sich dabei um eine Ablaufstruktur, in der sich Entwicklungen, Ereignisse und Geschichten erzählen lassen. Im Laufe seines Lebens muss der Mensch sich immer wieder Herausforderungen stellen und etwas Neues lernen. Er kommt gar nicht umhin, sich zu entwickeln und zu verändern. Aber nicht jede Entwicklung ist automatisch eine Heldenreise. Bei ihr geht es nämlich vor allem um herausfordernde Entwicklungsaufgaben, bei denen man Hürden und Widerstände überwinden muss. Gerade sie lassen uns wachsen, wenn wir uns ihnen stellen.
Die Heldenreise nimmt frei von normativen Vorstellungen individuelle Entwicklung prozesshaft in den Blick. Sie ist geeignet, um Eltern und Fachkräften, aber auch den Kindern selbst Strategien und Ressourcen zu spiegeln. Da die Heldenreise per se narrativ angelegt ist, kann sie auch eine Entwicklungsgeschichte erzählen und eignet sich somit als qualitatives Verfahren. Folgende Struktur liegt ihr zugrunde:
Wie wir die Heldenreise für die Entwicklungsdokumentation verwenden können, verdeutlicht das Beispiel von Lisa, die wir zu Beginn schon kennenlernen durften. Die Entwicklung wird nicht in den objektiven Dimensionen, sondern in der individuellen Bewältigung der Aufgaben dargestellt. Die Erzählung wurde in einer dem Märchen ähnlichen Form verfasst. Die Struktur der Heldenreise ist aber nicht auf diese Erzählgattung beschränkt, sondern wäre auch als einfacher Bericht oder Brief möglich. Für die kindliche Entwicklung ist das Märchen jedoch überaus gut geeignet.
Die gewohnte Welt: Es war einmal ein kleines Mädchen namens Lisa. Sie lebte mit ihren Eltern in einem kleinen Haus und freute sich jeden Tag aufs Neue, die Welt zu entdecken. Im Frühling hatte sie sitzen und kurz darauf krabbeln gelernt. So konnte sie sich mit ihren Spielzeugen beschäftigen und sich alle Ecken des Wohnzimmers anschauen.
Der Ruf des Abenteuers: Doch Lisa merkte auch, dass die anderen Kinder in der Kita nicht krabbelten, sondern sich ganz anders bewegten. Sie liefen auf ihren Beinen. Lisa hatte noch keine Idee, wie sie das auch schaffen konnte. Vorerst zog sie es vor, weiter zu krabbeln. Aber immer wieder beobachtete sie in der Kita die anderen Kinder beim Laufen.
Begegnungen mit Mentoren und das Überschreiten der ersten Schwelle: Im Sommer, kurz nach ihrem ersten Geburtstag, fing sie damit an, sich an den Gegenständen (kleine Helfer oder Mentoren) ihrer Umgebung hochzuziehen. Besonders gut gefiel ihr zu Hause der Kamin. Der stand mitten im Wohnzimmer, sodass sie von dort aus alles sehen konnte. Und manchmal brannte im Kamin eine Kerze. Auch das mochte Lisa sehr.
Bewährungsproben, Verbündete und Feinde: Eines Tages entdeckte Lisa einen Greifbogen aus Holz. Als kleines Baby hatte sie oft daruntergelegen und sich mit den herabhängenden Spielzeugen beschäftigt. Aber nun stand er unbenutzt herum. Lisa merkte, dass man den Greifbogen vor sich herschieben konnte. Auf diese Weise spazierte sie nun durch das Wohnzimmer. So entdeckte sie das Gehen. Es war ihr eine sichtliche Freude, auf ihren eigenen Beinen vorwärtszukommen. Und wenn der Greifbogen einmal nicht da war, ging sie einfach an den Möbeln entlang oder hielt eine erwachsene Hand. So ging es zu Hause und auch in der Kita. Nur loslassen wollte sie noch nicht. Wer sie sah, meinte, sie müsse eigentlich längst ohne Gehhilfe vorankommen. Doch Lisa ließ sich Zeit. Vielleicht fehlte ihr noch das letzte bisschen Sicherheit. Es vergingen mehr als zwei Monate. Und eines Tages, als sie wieder am Kamin stand und sich am Licht der Kerze erfreute, geschah es: Lisa ließ los – zunächst nur für einen Moment. Nun stand sie frei im Raum. Und schließlich wagte sie ihren ersten eigenen Schritt ganz allein. Es folgte gleich ein zweiter.
Die entscheidende Prüfung: Lisa nahm ihre ganze Konzentration zusammen und ging weiter. So kam ihr eine Erkenntnis: Sie konnte laufen. Und das ganz ohne Hilfe.
Die Belohnung: Lisa gewann Bewegungsfreiheit und hatte Freude. Und sie bekam Anerkennung, denn mit ihr freuten sich auch ihre Eltern, Großeltern und die Erzieherinnen in der Kindertagesstätte.
Der Rückweg und der neue Alltag: Von diesem besonderen Tag an war Lisa nur noch aufrecht unterwegs und wurde mit der Zeit auch immer sicherer. Das Laufen war nun keine große Sache mehr und Lisa war danach ganz schnell bereit für viele neue Herausforderungen. Rennen. Hüpfen. Tanzen.
Die Heldenreise ist als qualitatives Verfahren gut geeignet, um kindliche Entwicklungen in den Blick zu nehmen und prozesshaft zu beschreiben. Wenn es darum geht, einem Kind seine Ressourcen zu spiegeln, lohnt sich besonders ein Blick in die bewältigten Hürden, Aufgaben und Prozesse der Vergangenheit, ganz unabhängig vom Alter. Das Leben bietet dem Menschen viele spannende Prüfungen, von denen einige eine Heldenreise sind.
Bei all diesen Themen geht es immer nur am Rande um deren Ergebnisse. Im Zentrum der Betrachtung steht der Weg dorthin. Und hier lassen sich durchaus Muster entdecken: Wird Jonas immer so überaus zielstrebig vorgehen, wenn er etwas möchte? Wird Lisa sich weiterhin nur aus einem stabilen Sicherheitsgefühl neuen Herausforderungen stellen? Wird Jana sich auch in Zukunft bei Bezugspersonen absichern? Wird Leon bei zukünftigen Aufgaben ebenfalls von seiner guten Beobachtungsgabe profitieren?
Die Heldenreise als innere Erfahrungs- und äußere Erzählstruktur kann diese Abenteuer abbilden und so Ressourcen bewusst machen. In dieser Weise fördert sie immer auch die Resilienz: Wer seine Entwicklungsprozesse bewusst wahrnimmt, wird in seinem Selbstbewusstsein gestärkt.
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