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Die ersten Infektionen, die selbst genähten Masken, das Social Distancing und die ersten Schul- und Kitaschließungen – all das ist jetzt fast drei Jahre her. Zeit, um ein erstes Fazit zu ziehen, welche gesellschaftlichen Entwicklungen die Corona-Pandemie und die mit ihr verbundenen Maßnahmen nach sich ziehen. Verschiedene Stellen haben genau das gemacht und bereits jetzt zeigt sich: Die Auswirkungen sind vielfältig und äußerst komplex – natürlich auch die auf die kindliche Entwicklung. Der Artikel „Verursacht ein Lockdown psychische Probleme?“ von Nils Metzger auf zdf.de zeigt dabei ein komplexes Dilemma auf: Fachkreise stellen eine eindeutige Zunahme von psychischen Belastungen für Kinder- und Jugendliche fest. Diese jedoch in eine Kausalität mit den getroffenen Präventionsmaßnahmen, wie etwa Kontaktreduzierung zu bringen, ist schwierig. Auch wir als Autoren möchten an dieser Stelle ausdrücklich keine Kritik an den politisch ergriffenen Maßnahmen äußern.
Vielmehr geht es uns darum, die Bedeutung der Pandemie für Kinder und Jugendliche greifbar zu machen und die gesundheitlichen Gefährdungen durch das Virus mit den sozialen und psychischen Folgen zu verbinden. Es scheint klar: Eltern und Kinder sind seit Beginn der Pandemie mit äußeren und oft auch inneren Krisen konfrontiert und reagieren darauf sehr unterschiedlich. Was kann die Pandemie im Hinblick auf junge Eltern und ihre Kleinkinder bedeuten und langfristig mit sich bringen?
Dazu möchten wir, auf Basis eines beziehungsorientierten und psychodynamischen Entwicklungsverständnisses, einen Blick auf die entstehende Bindung zwischen Eltern und Kindern in den ersten Lebensjahren legen. Was zunächst abstrakt klingt, wird im pädagogischen Alltag erfahrbar: Wir haben es häufig mit verunsicherten Eltern zu tun, die über einen längeren Zeitraum hinweg wenig Begegnungen mit anderen Eltern hatten. Und wir sehen Kinder, die bei ihrem Eintritt in die frühe Fremdbetreuung zum einen Ängste der Eltern mit sich tragen und zum anderen ganz konkret unter erschwerten Bedingungen die ersten Erfahrungen mit anderen Kindern machen mussten. Wir begegnen auch Kindern aus Familien, die – verstärkt durch die Pandemie – in psychisch schwer belasteten Beziehungen aufgewachsen sind. Ein tieferer Blick kann dabei helfen, die Herausforderungen der Eltern unter den pandemischen Bedingungen besser zu verstehen. Denn: Wir können Krisen und Konflikte nicht isoliert betrachtet. Probleme der Eltern und Probleme der Kinder sind immer verwoben und nicht voneinander losgelöst.
Das hauptsächlich vom britischen Kinderarzt und Psychoanalytiker John Bowlby erarbeitete Konzept der Bindungstheorie geht von einem zwischen Mutter und Säugling sich gegenseitig bedingenden System aus, das psychische und körperliche Funktionsebenen hat. In den ersten Lebensjahren wird von dieser Beziehung ausgehend der Grundstein der emotionalen Entwicklung des Kindes gelegt. Warum könnte dieses Bindungssystem in Corona-Zeiten so wichtig sein?
Der Psychoanalytiker Martin Dornes beschreibt die Bindungstheorie als äußerst relevant für eine Perspektive auf die postmoderne Gesellschaft. Schließlich geht es bei Bindung auch immer um Sicherheit versus Unsicherheit. Ein Spannungsfeld, in dem wir uns in unserer Leistungsgesellschaft in vielen Bereichen befinden. So ist die Individualität eine Idealvorstellung in unserer Gesellschaft, die viele Freiheiten mit sich bringt. Gleichzeitig bedingt die Annäherung an dieses Ideal, dass alte Strukturen wie Familiensysteme, Arbeitswelt oder Gemeinschaften immer brüchiger werden. Dies wiederum bringt Unsicherheiten mit sich. Wie bewältigen Kinder diesen Balanceakt?
Denken wir an den pädagogischen Raum der Kita. Im besten Fall bietet dieser für Kinder ein sicheres Umfeld zur Exploration, zur Entwicklung. Zudem bietet sich die Chance, sich etwas Eigenes außerhalb der familiären Strukturen zu schaffen. Die Erfahrungen, die Kinder in der Kita machen können, sind etwas Besonderes, weil sie sich von den familiären Beziehungserfahrungen unterscheiden. Sie machen die Erfahrung, nicht nur das Kind ihrer Eltern, sondern auch ein Kind mit anderen Bindungen zu sein. Um diese Bindungen neu eingehen zu können braucht es jedoch die Sicherheit der bestehenden.
Die während der Pandemie notwendigen Maßnahmen, erschwerten diesen Prozess. Ein Beispiel aus dem Kita-Alltag:
Die dreijährige Tina kommt im Sommer 2020 in die Kita. Bis auf eine Mutter-Kind-Gruppe hat sie keine Kontakte in Gruppen sammeln können. Durch die Infektionsschutzmaßnahmen muss die Mutter Tina am Eingang der Kita abgeben. Eine Eingewöhnung, wie sie in der Konzeption vorgesehen ist, kann zu diesem Zeitpunkt nicht stattfinden. Tina muss sich sofort von der Mutter trennen und hat keine Möglichkeit, schrittweise in die neue Situation hineinzuwachsen.
Warum ist diese Szene bindungstheoretisch herausfordern? Eine zentrale pädagogische Aufgabe innerhalb einer Eingewöhnung ist es, dass das Kind schrittweise eine Bindung zu den Fachkräften aufbauen kann. Dabei entsteht im besten Fall ein Beziehungsdreieck, bestehend aus Bezugspersonen wie Mutter oder Vater, dem Kind und der Fachkraft. Wichtig ist, vor allem in den ersten Tagen, dass ein Kind die jeweilige Bezugsperson immer wieder aufsuchen kann, um sich im Sinne eines emotionalen Auftankens Kraft für den neuen Beziehungsaufbau zu holen.
Die Infektionsschutzmaßnahmen, so notwendig sie zur Bekämpfung der Corona-Pandemie waren und sind, stellen uns Fachkräfte vor große Herausforderungen. Die etablierten Eingewöhnungskonzepte konnten nicht durchgeführt werden. Mit diesen Schwierigkeiten sind die Kinder sehr unterschiedlich umgegangen. Während einige Kinder ihren Frust und ihre Trauer offen nach außen getragen haben, spielten sich bei anderen Kindern die Konflikte innerhalb der Psyche ab.
In der Reflexion der vergangenen Jahre und eventuell auftretender Verhaltensauffälligkeiten sollte man diesen Umstand immer mitbedenken. Auch wenn Trauer nicht offen gezeigt wird, bedeutet das nicht, dass der Übergang in die Fremdbetreuung völlig konfliktfrei stattfindet. Weitere Probleme ergaben sich auch in der eingeschränkten Alltagsgestaltung im Hinblick auf Ausflüge, Aktionen oder Elternkontakte, die die fördernde Umwelt einer Kita ausmachen. Sicherheiten wurden in der Zeit der Pandemie für Fachkräfte wie für die Kinder zu Unsicherheiten, und die Aufnahme von neuen Bindungen wurde entscheidend erschwert.
Die Herausforderungen im pädagogischen Bereich lassen sich jedoch nicht ohne die Situation der Familien während der Pandemie denken. Aus diesem Grund ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, unter welchem Druck die Familien seit Beginn der Pandemie stehen. Wir müssen fragen, welchen Einfluss die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung auf innerfamiliäre Bindungen hatten, da diese auch immer in Wechselwirkungen zu den Bindungen in der außerfamiliären Betreuung stehen.
Zunächst wollen wir auf Basis dieser Annahme einen bindungstheoretischen Blick auf mögliche Familiendynamiken während der Pandemie richten. Der Soziologe und Psychologe Martin Dornes weist in seinem sehr empfehlenswerten Buch „Die emotionale Welt des Kindes“ eindrücklich darauf hin, dass ein unsicheres Bindungsverhalten seine Ursachen im Wesentlichen in den frühen Beziehungen zu den Eltern hat. Vielleicht war genau das die Erfahrung von Tina aus unserem Beispiel? Ein unsicheres Bindungsverhalten und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten bei der Trennung von der Mutter, wären in der Corona-Zeit auf ohnehin schwierige Bedingungen in der Kita getroffen. Und wie war diese Zeit wohl für Tinas Eltern? Laut Dornes kommt es zu einem unsicheren Bindungsverhalten eher durch alltäglich Zurückweisungen als durch dramatische, traumatisierende Umstände. Wie verfügbar waren die Eltern von Tina während der Corona-Zeit? Waren sie vielleicht in der neuen Situation des verbreiteten Homeoffice mit Schwierigkeiten konfrontiert, ihr Familienleben zu organisieren? Oder waren vielleicht eigene Ängste im Hinblick auf die Pandemie präsent und erschwerten den Eltern in der ersten Zeit das Einlassen auf ihr Kind?
Wir halten fest: Trotz der immensen Herausforderungen, die diese Pandemie an uns alle stellt, kann man die Ursache für Probleme nicht alleine am Umstand der Pandemie festmachen. Der Grund für auffälliges Verhalten bei Kindern darf niemals allein Corona heißen. Es lässt sich jedoch die These aufstellen, dass uns die Zeit mit Corona insgesamt verwundbarer gemacht hat und bereits latent problematische Faktoren deutlicher hervorgetreten sind. Die Arbeitsbedingungen innerhalb der Elementarpädagogik sind schon seit Jahren immer wieder kritisch betrachtet worden. Die Pandemie hat nur noch deutlicher gemacht, wie schwierig es in der Praxis ist, sich wirklich auf die Kinder einzulassen, sind wir doch tagtäglich mit Personalproblemen und mehr konfrontiert.
Auch im Hinblick auf innerfamiliäre Dynamiken ist die Pandemie nicht als einziger Grund für Probleme zu sehen. Die wichtigste Frage, welche Auswirkung die Pandemie auf die Kinder und Familien hat, lässt sich am ehesten individuell beantworten. Vielleicht haben manche Familien durch die besonderen Bedingungen sogar etwas Positives gewonnen? Für manche Familien war der Rückzug auf den sozialen Binnenraum vielleicht etwas Schönes. Andere Eltern waren schon vor der Pandemie ängstlich, belastet und Bindungsmuster schreiben sich oft über Generationen fort. Zudem dürfen wir nicht vergessen, was uns die Resilienzforschung lehrt. Manche Kinder wachsen auch trotz widrigster Bedingungen psychisch gesund heran.
Wir werden die Bedeutung dieser Pandemie also, wenn überhaupt, nur schrittweise verstehen und nur dann, wenn wir ins Gespräch gehen und danach fragen. Dazu bietet sich beispielsweise ein Raum in Elterngesprächen. Kinder wie Tina aus unserem Fallbeispiel verdienen in jedem Fall unsere Aufmerksamkeit. Es ist daher wichtig, dass wir Fachkräfte im Hinblick auf die Bindungstheorie geschult sind. Nur dann werden wir den Beziehungsbedürfnissen der Kinder gerecht. Unsichere Bindungsmuster, belastete Beziehungsdynamiken oder sogar Traumata schreiben sich ohne pädagogische oder auch therapeutische Interventionen ansonsten über Generationen fort. In Zukunft kommt es also nicht so sehr darauf an, was diese Zeit der Pandemie mit uns gemacht hat, sondern was wir aus dieser Zeit machen und lernen.
Als Schlussfolgerung lässt sich aus unserer Sicht die Notwendigkeit formulieren, die subjektive Bedeutung der Corona-Zeit für die Menschen, mit denen wir tagtäglich arbeiten, mitzudenken. Das scheint vielleicht auf den ersten Blick etwas praxisfern. Aber: Wir werden in jedem Fall innerhalb der Pädagogik auf die Folgen der Pandemie reagieren müssen. Diese Reaktion kann nur gelingen, wenn sie auf einem Verstehensprozess basiert, der immer den Menschen eingewoben in biografische Zusammenhänge und Beziehungsdynamiken im Blick hält. Also müssen wir uns fragen: Welche Bedeutung hat Corona für die Familien und Kinder, mit denen wir arbeiten? Wie wird diese Zeit von den Eltern gefühlsmäßig besetzt? Inwiefern erhalten wir durch das Mitdenken der Situation vieler kleiner Kinder, die in dieser Zeit geboren und mit der pandemischen Zeit unmittelbar konfrontiert wurden, ein tieferes Verständnis für deren Entwicklung? Und welche Bedarfe ergeben sich bei Eltern und Kindern, die durch diese Zeit gegangen sind?
Die Zeit der Pandemie ist also als Erfahrung der Familien in unserer Arbeit wichtig. Nur dann geben wir dieser Ausnahmesituation ausreichend Raum und können Entwicklungsverläufe als das sehen, was sie sind: Entwicklungsverläufe von Kindern, die zu Zeiten einer Pandemie aufgewachsen sind.
Bohl, Christin; Karnaki, Pania; Cheli, Simone et al. (2022): Psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen in der Coronazeit. Prävention und Gesundheitsförderung. https://doi.org/10.1007/s11553-022-00946-0 (zuletzt aufgerufen: 25.10.22)
Dornes, Martin (2000): Die emotionale Welt des Kindes. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.
Fürstaller, Maria et al. „Wenn Tränen versiegen, doch Kummer bleibt. Über Kriterien gelungener Eingewöhnung in die Kinderkrippe. In: Frühe Kindheit Ausgabe 1/11. https://liga-kind.de/fk-111-datler/ (zuletzt aufgerufen: 25.10.22)
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