Zuerst war da die Notbetreuung. Dann kam 2021 und hat noch einen oben draufgesetzt: Kitas mussten Gruppen oder die komplette Einrichtung schließen. Die Schließungen kamen kurzfristig und das Ausmaß war für Familien und das Kita-Personal völlig neu. In der Forschung und in der medialen Öffentlichkeit spricht man in solchen Situationen von „Krise“. Das auffälligste Merkmal: die Zeitdimension. Krisen sind meist unerwartet eintretende Ereignisse, die schnelle Entscheidungen unter wenig vorhandener Wissensgrundlage und Ungewissheit verlangen. Was bisher verbindlich und gewiss war, wird plötzlich in Frage gestellt und Alltagsroutinen geraten durcheinander.
Wie genau liefen die Schließungen in Kitas ab? Welche unerwarteten Dynamiken hatten sie und welche Herausforderungen mussten das Team und die Leitung bewältigen? Das Deutsche Jugendinstitut hat genau diese Fragen in einer Interview-Studie untersucht. Die Ergebnisse zeigen: Die Kitas haben verschiedene Strategien genutzt, um die Schließungen zu managen – unterschiedlich erfolgreich. Ein Blick auf die Strategien lohnt, denn sie haben nicht nur in der Pandemie geholfen – man kann sie bei jeglichen plötzlichen Veränderungen und bedrohlichen gesellschaftlichen Herausforderungen anwenden, wie wir sie nun etwa auch mit dem Krieg in der Ukraine spüren.
1. Informelle Strukturen
Wenig Informationen und keine konkreten formalen Vorschriften: Das war der Pandemie-Alltag in der Kita. Bei einer kurzfristigen Schließung mussten Leiterinnen, Trägervertreterinnen, Eltern und zum Teil auch behördliche Mitarbeitende eigene Behelfsstrategien entwickeln, um zusammenarbeiten zu können. Inoffizielle Messenger-Gruppen und E-Mail-Verteiler, spontane Teamgespräche und Telefonate zwischen Leitern und Trägervertretern: Auf diesen Wegen tauschte man die neuesten Kenntnisse und Anforderungen etwa zu rechtlichen Aspekten oder zur Infektionsverbreitung aus. Der Austausch unterstützte die Fachkräfte auch emotional und es entwickelte sich ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Parallel zu den formalen, behördlichen Verfahrenswegen bildeten sich in den Kitas eher informelle Strukturen und persönliche Netzwerke. Das ermöglichte es den Fachkräften, schneller zu handeln und die auftretenden Probleme in den institutionellen Steuerungsstrukturen, wie langsame bürokratische Abläufe oder unzureichende rechtliche Regelungen, abzupuffern.
2. Vitamin B
Die Studie zeigt, dass es Leiterinnen und Leitern gut gelungen ist, proaktiv die meist sehr langsamen bürokratischen Prozesse rund um die Schließung und Wiedereröffnung der Kita zu überbrücken, wenn sie persönliche Kontakte, etwa zu Vertreterinnen der Verwaltung und der Politik, nutzen. So konnten sie Insiderwissen erhalten, etwa welche Labore schnelle Testergebnisse liefern oder wann Anfragen an das Gesundheitsamt gestellt werden. Außerdem konnten sie durch Kontakte auch behördliche Vorgänge beschleunigen, wie die Ausstellung von Quarantänebescheiden. Gute Beziehungen waren in diesem Fall keine moralisch verwerfliche Angelegenheit, sondern äußerst wichtig, um auch an den Wochenenden Informationen zu bekommen. Gute Kontakte halfen, Entscheidungen unter Ungewissheit zu fällen und deren Risikopotenzial zu minimieren.
3. Ungewissheit
Bei den Kita-Schließungen kam es immer wieder zu Widersprüchen. Das mussten Kita-Leiterinnen, aber auch Trägervertreterinnen sowie Eltern aushalten. Einerseits waren offizielle Regelungen noch nicht festgelegt und bürokratische Vorgehensweisen langsam und schwerfällig, andererseits mussten schnelle Entscheidungen getroffen werden, die rechtlich relevant waren, wie das Aussprechen eines Betretungsverbotes oder die Anordnung für das Personal zunächst zu Hause zu bleiben. In der Studie zeigt sich außerdem: Zwischen dem eigenen moralischen Empfinden der Fachkräfte und der Logik von behördlichen Vorgehensweisen lagen oft Welten. Während Behörden den Kita-Betrieb trotz hoher Infektionszahlen wegen noch nicht valider Testergebnisse weiterführten, plädierten Leiterinnen dafür, ihre Kitas zu schließen. Stattdessen mussten sie unterschiedliche Quarantänezeiten der Teammitglieder überblicken und den Personaleinsatz koordinieren. Es war schwer, die individuellen und subjektiven Erfahrungen mit den behördlichen Vorgehensweisen zu vereinen. Die häufige Neuorientierung, Improvisation und Suche nach Informationen kosteten Kraft, Ressourcen und zeitlichen Mehraufwand. Die Ergebnisse der Studie zeigen jedoch, dass es in einer Krise wenige Mittel gegen dieses Missverhältnis gibt. Sie müssen also ausgehalten und individuell austariert werden. Hilfreich ist dabei eine proaktive und offene Kommunikation.
4. Die Familien im Blick
Kita-Leitungen mussten eine Art Leerlauf überbrücken – und diesen gegenüber den Eltern kommunizieren. Hier half vor allem eine präventive Strategie: Die Eltern zu laufenden Prozessen und nächsten Schritten transparent informieren, wie in einer Art Live-Ticker. Auch wenn zunächst kaum sachlich relevante Inhalte vermittelt werden konnten, schätzten die Eltern die Transparenz sehr und zeigten gegenüber der kurzfristigen Kitaschließung mehr Verständnis. Sie wünschten sich genügend Informationen, um Entscheidungen treffen zu können. Nur so konnten sie abwägen, ob der Arbeitgeber vorinformiert werden muss, ob Großeltern das Kind abholen oder die Betreuung zuhause über die Quarantäneverordnung hinaus verlängert wird.
5. Kritik an Bürokratie
Durch die intensive Zusammenarbeit mit Behörden haben sich neue Formalisierungen in den Kita-Alltag eingeschlichen. So mussten Leitungen neben Anwesenheitslisten auch andere Vorgänge schriftlich erfassen und dokumentieren, wie Testergebnisse, Erkältungssymptome oder Aufenthaltszeiten des Personals in unterschiedlichen Gruppen. Das standardisierte Vorgehen entlastete bei Improvisation und Zeitverzögerung und ermöglichte Orientierung und Planbarkeit. Jedoch bemerkten einige Befragte auch, dass die Qualität sowie persönliche Begegnungen im Team und mit den Kindern unter zu viel Bürokratie litten.
In der Pandemie und vor allem während den Kita-Schließung haben Fachkräfte neue Strategien und Kompetenzen entwickelt, die auch in zukünftigen Krisensituationen helfen können: Der unkonventionelle Einsatz von Kontakten über den „kurzen Draht“, das vorausschauende und proaktive Kommunizieren in oft undurchsichtiger Lage sowie Gelassenheit und Vermittlungsgeschick angesichts nicht vereinbarer Interessen. Dabei ist zu erwarten, dass die Erfahrungen aus der Covid-19-Pandemie das Anforderungsspektrum an Kitaleitungen auch längerfristig verändern.
Informationen zur Studie:
Die Studie „Soko-Corona“ zu infektionsbedingten Kita-Schließungen in der Covid-19-Pandemie wurde von Januar bis Dezember 2021 am Deutschen Jugendinstitut, Abteilung Kinder und Kinderbetreuung in München durchgeführt. Insgesamt wurden die Daten von zwanzig einstündigen telefonisch geführten Interviews ausgewertet. Die Kitas, die an der Studie teilgenommen haben, wurden durch Weiterempfehlungen in Netzwerke ausgewählt. Pro Kita wurden sukzessive Leiterinnen, Trägervertreter, Elterngremien und zum Teil die zuständigen Personen im Gesundheits- oder Jugendamt befragt. Die ausführlichen Ergebnisse der Studie stehen voraussichtlich zum Ende des Jahres 2022 unter https://www.dji.de/ueber-uns/projekte/projekte/soko-corona.html zur Verfügung.
Ihnen hat der Artikel "Leider geschlossen: Was man aus einer Pandemie lernen kann" gefallen? Weitere Tipps, Wissenswertes und Ideen finden Sie in unserer Fachzeitschrift TPS. Hier bestellen!