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Meike ist dreizehn Jahre alt und muss den Müll wegbringen. Das gehört zu ihren wöchentlichen Aufgaben. „Meike!“, ruft der Vater laut und bereits ärgerlich, weil der Mülleimer übervoll ist. Und Meike? Sie stellt sich taub und reagiert nicht. So interveniert der Vater ein zweites Mal, deutlich lauter. Darauf Meike: „Was ist?“ Der Vater: „Der Mülleimer ist übervoll.“ Meike: „Ich weiß.“ Der Vater: „Also bring ihn raus!“ Meike: „Mach ich nachher.“ Der Vater: „Das hast du gestern schon gesagt, passiert ist nichts.“ Meike: „Das heißt noch lange nicht, dass ich heute den Müll nicht rausbringe.“
Ich denke, Sie kennen alle solche oder ähnliche Szenen aus der eigenen Kindheit oder aus Sicht einer pädagogischen Fachkraft. Lassen Sie uns schauen, was passiert ist: Vater und Tochter manövrieren sich in eine Spirale zunehmender Aggressivität hinein. Emotional geht es vermutlich beiden nicht gut. Aus dem berechtigten Anliegen des Vaters, dass sich alle Familienmitglieder an der Hausarbeit beteiligen, erwächst ein Machtkampf zwischen den beiden.
Der Vater kann mit folgenden Strategien versuchen, diesen Machtkampf zu gewinnen: „Wenn der Müll bis heute Abend nicht weg ist, dann darfst du nicht …“ Das ist eine klare psychische Bestrafung. Körperliche Strafen gegenüber Kindern sind via Gesetz und Kinderrechtskonvention verboten. Doch wie sieht es mit psychischer Bestrafung und seelischer Verletzung aus? Hier brauchen Eltern und Fachkräfte noch viel Sensibilisierung. Eine hilfreiche Frage wäre: Welche Motive sollen das Mädchen veranlassen, den Müll nach unten zu bringen? Angst vor Strafe oder eine eigene innere Motivation? Letzteres entspricht allen aktuellen Erziehungshaltungen in den Bildungsplänen und dies sollen und wollen Pädagoginnen und Pädagogen in ihren Köpfen und Herzen fest verankern.
Der Vater kann es auch so versuchen: „Wenn du den Müll jetzt rausbringst, darfst du heute Abend länger aufbleiben.“ Das ist Belohnung oder schon Bestechung. Viele Menschen finden Belohnungen wichtig, weil sie damit das Kind stärken wollen. Doch Belohnungen sind nicht unterstützend für die kindliche Entwicklung, denn sie machen abhängig. Dies gilt für greifbare Belohnungen wie „Dann darfst du ins Bauzimmer“ wie für verbales Lob „Das hast du toll gemacht“. Ein Kind versucht schnell, ein Verhalten zu wiederholen, um Eis, Lob, Zuwendung usw. zu bekommen – und verliert damit seine innere Motivation zum Handeln. Jesper Juul zeigt das sehr eindrücklich in seinem Buch „Dein kompetentes Kind“.
Meikes Vater kann auch seine Macht als Erwachsener ausspielen und Druck ausüben: „Solange du die Füße unter meinen Tisch setzt …!“ Marshall Rosenberg spricht hier von bestrafender Macht. Viele Fachkräfte wollen es nicht wahrhaben: In der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern gibt es grundsätzlich ein Machtgefälle. Erwachsene haben Macht über Kinder. Je kleiner das Kind, umso größer ist die Macht des Erwachsenen. Jeder Erwachsene, auch die Fachkraft in der Kita, ist körperlich, ökonomisch, sozial und emotional mächtiger als das Kind. Diese Tatsache gilt es zunächst grundlegend anzuerkennen.
Gleichzeitig passiert in der Begegnung zwischen Erwachsenen und Kindern noch etwas anderes: Ein Erwachsener kann ein Kind nicht dazu zwingen, dass es macht, was der Erwachsene von ihm will. Das Kind isst, schläft oder hört auf zu weinen, wann es will. In Momenten, in denen wir das erleben, fühlen wir uns meist macht- und hilflos – und reagieren möglicherweise mit Gewalt. Zwang und Gewalt sind in pädagogischen Beziehungen nicht akzeptabel, sie verletzen die Würde des Kindes und lösen in jedem Fall aktiven oder passiven Widerstand aus. Ob das Gegenüber drei, dreißig oder neunzig Jahre alt ist, spielt keine Rolle. Das Kind hört auf zu kooperieren.
In manchen Situationen allerdings ist Machtausübung von Erwachsenen gegenüber Kindern notwendig. In Gefahrensituationen etwa, wenn ich an einer roten Ampel ein achtzehn Monate altes Kind festhalte. Dann wende ich eine beschützende Form von Macht an. Ich sorge für mein Bedürfnis nach Sicherheit für das Kind und mich.
Belohnung, Bestrafung und auch Machtausübung sind nicht zieldienlich und vor allem nicht ethisch vertretbar. Der Vater kann dabei nur verlieren – auch dann, wenn der Müll aus der Wohnung ist. Er verliert langfristig die stabile und vertrauensvolle Beziehung zu seiner Tochter. Doch was können Eltern und Fachkräfte tun? Was ist ethisch und entwicklungspsychologisch korrekt? Die Haltung der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg kann uns Leitlinien aufzeigen. Wenn Rosenberg von Schülerinnen oder Schülern gefragt wurde, was er so macht, sagte er meist: „Ich zähme Wölfe.“ Er meinte damit keine Wölfe in der Natur, sondern uns Menschen und die Art, wie wir miteinander kommunizieren. Wölfe in der Kommunikation sind wir dann, wenn wir einander beschimpfen, uns verbal verletzen und unsere Bedürfnisse ignorieren. Rosenberg verwendet dafür das Bild vom knurrenden, zähnefletschenden Wolf. Die Gewaltfreie Kommunikation kann helfen, das Kommunikationsmuster Wolf zu verlassen und wieder eine einfühlsame Verbindung zu uns selbst und zu anderen aufzunehmen. Rosenberg führt hierzu das Bild der Giraffe ein. Die Giraffe ist das Landtier mit dem organisch größten Herzen. Wir brauchen ein bildlich sehr großes Herz, wenn wir einfühlsam zu uns selbst und zu anderen sein wollen. Daher heißt die Gewaltfreie Kommunikation auch Sprache des Herzens. Wir können diese Sprache neu oder wieder lernen.
Folgen Sie mir in die Haltung der Giraffe und in die Sprache des Herzens. Dies ist gar nicht schwer und beginnt so: In einer Situation beobachten Sie, was ist, und stellen alle Bewertungen weit nach hinten. Sie nehmen die Gefühle, die angenehmen und die unangenehmen, bei sich selbst und beim anderen wahr. Achten Sie auf Ihre eigenen Bedürfnisse und die des Gegenübers. Bedürfnisse meinen das, was Menschen wirklich brauchen – Geborgenheit, Autonomie, Selbstwirksamkeit. Sie sind nicht zu verwechseln mit Wünschen. Anschließend sprechen Sie eine Bitte oder eine konkrete Frage aus.
Schauen wir noch einmal zu Meike und ihrem Vater: Der Vater beobachtet, dass der Müll noch in der Wohnung ist und Meike auf dem Bett liegt und Musik hört. Er nimmt seine Gefühle wahr – vor allem Ärger, vielleicht auch Traurigkeit. Seine Bedürfnisse nach Gerechtigkeit und einem sauberen Zuhause sind verletzt. Jetzt kann der Vater seine Tochter in Giraffensprache ansprechen: „Ich sehe, dass der Müll noch in der Küche steht. Das ärgert mich. Ich möchte, dass wir die Hausarbeit gerecht unter uns aufteilen, und ich möchte eine saubere Wohnung. Bitte bring jetzt den Müll weg.“ Der letzte Satz ist eine Bitte und keine Forderung. Denn es geht um Bedürfnisse und nicht um Machtausübung eines einzelnen Erwachsenen.
Was tun, wenn Meike sagt: „Ich habe jetzt echt keine Lust. Mach ich später.“ Dann beginnt der Prozess von vorn. Dazu schauen wir mal auf Meikes Gefühle und Bedürfnisse. Sie hatte vielleicht einen anstrengenden Tag in der Schule, ist erschöpft und müde und will einfach ausspannen. Der Vater könnte sagen: „Du hattest heute einen harten Tag, oder? Und jetzt genießt du Bett und Musik. Dennoch, mir sind Sauberkeit und Gerechtigkeit wichtig. Was kannst du mir anbieten?“ Meike: „Ok, dann bring‘ ich den Müll halt direkt nach dem Abendessen raus.“
Dieser Weg ist tatsächlich mühsam und braucht manchmal noch ein bis zwei Umwege. Doch alle gewinnen. Der Vater fühlt sich gut, denn er hat etwas für seine Bedürfnisse bekommen – gewaltfrei. Meike fühlt sich gut, sie hat mit ihrem Vater erlebt, dass er sie sieht und ihre Bedürfnisse wahr- und ernst nimmt. Sie hat einen Vater erlebt, der sie gleichwürdig behandelt. Dies stärkt ihr Selbstgefühl und die Eltern-Kind-Beziehung. Sicher sagen jetzt viele: Ja, aber in so vielen Situationen geht das nicht. Es ist zwar oft nicht leicht, aber einen Versuch ist es immer wert. Ein sogenannter Machtkampf mit einem Kind kostet meist mehr Kraft und Zeit als der Giraffenweg. Der Kampf beschädigt den Selbstwert des Kindes und obendrein die Beziehung, zu Hause ebenso wie in Kita und Schule.
Was können wir also tun, wenn ein Kind oder Erwachsener nicht kooperieren will oder kann? Wir wiederholen den Prozess der Giraffe immer wieder mit Geduld, wie folgende Szene aus einer Alltagssituation in der Kita zeigt:
Metin ist fünf Jahre alt. Er trägt ein T-Shirt und will mit seinen Freunden in den Garten. Die Außentemperatur beträgt zwei Grad. Metin will in seinem T-Shirt rausgehen und seine Jacke nicht anziehen. In Wolfssprache sagt eine Fachkraft: „Wenn du keine Jacke anziehen willst, bleibst du eben drin!“ Der Giraffenweg könnte so aussehen:
Fachkraft: „Metin, es ist sehr kalt draußen, bitte zieh deine Jacke an.“
Metin: „Will keine Jacke, mir ist so warm.“
Fachkraft: „Oh ja, ich sehe, dass dir sehr warm ist. Du hast einen ganz roten Kopf.“ (Beobachtung)
Metin: „Siehste, ich brauche keine Jacke.“
Fachkraft: „Doch, ich möchte, dass du eine Jacke anziehst (Bitte), es ist sehr kalt draußen, und ich will nicht, dass du dich erkältest.“ (Bedürfnis)
Metin: „Meine Jacke kratzt so.“ (Gefühl und indirektes Bedürfnis)
Fachkraft: „Kratzt deine Jacke, wenn dir so warm ist?“ (Bedürfnis aufgenommen)
Metin: „Ja, das ist doof.“
Fachkraft: „Kannst du dir vorstellen, etwas anzuziehen, das nicht kratzt?“ (Bitte und Frage)
Metin: „Mal sehen.“
Fachkraft: „Gut, wollen wir mal bei den Ersatzsachen schauen?“
Das machen beide und finden einen Fleece-Pulli, der für Metin akzeptabel ist. Nach einer Weile schaut die Fachkraft nach, ob Metin nicht friert.
Wann fällt die Giraffenhaltung besonders schwer? Das passiert oft dann, wenn wir selbst nicht gut für unsere eigenen Bedürfnisse gesorgt haben. Wenn etwa eine Fachkraft wegen Personalmangels keine Pause gemacht hat und nun hungrig und müde ist. Hier beginnt die Giraffenhaltung bei mir selbst und bedeutet, trotz allem auf die Pause zu achten.
Wie kann ich Giraffenhaltung und Giraffensprache lernen? Das Lernen beginnt mit dem inneren „Ja, das will ich“. Üben lässt es sich zu Beginn gut in alltäglichen und stressarmen Situationen. So kann ich mich im Gespräch mit einer Kollegin bewusst beobachten und auf meine Gefühle und Bedürfnisse achten. Auch alle privaten Bezüge bieten sich zur Übung an. Mit etwas Erfahrung gelingen auch herausfordernde Situationen, wie ein Elterngespräch. Hier ist es überaus hilfreich, vorab die eigenen Gefühle und auch Bedürfnisse anzuschauen und sich wohlwollend auf mögliche Gefühle und Bedürfnisse der Eltern einzustimmen. Vielleicht entdecken Sie in der Vorbereitung, dass es Ihnen ähnlich geht wie den Eltern? Hier können Sie gut anknüpfen. Für das Lernen der Gewaltfreien Kommunikation ist es sehr wichtig, mit sich selbst geduldig zu sein. Wenn etwas heute noch nicht gelungen ist und mein Wolf mal wieder zu Wort kam, gibt es viele Gelegenheiten, erneut den Giraffenweg zu üben.
Das Bild vom Kind als kompetente und eigenständige Persönlichkeit fordert auf der Kommunikationsebene eine Haltung im Sinne der Gewaltfreien Kommunikation geradezu heraus. Es geht nicht um die Frage, ob Fachkräfte mit Kindern wertschätzend und auf Augenhöhe (also in Giraffenhaltung) kommunizieren wollen – sie sollen es. Die Frage lautet eher: Wie können Fachkräfte diese Haltung lernen und einüben, und welche Unterstützung brauchen sie dazu? Wenn Sie diesen Artikel und weitere Fachliteratur lesen, ist das ein guter Anfang. Doch zur Umsetzung braucht es mehr. Sehr hilfreich für die Praxis sind Teamfortbildungen zur Gewaltfreien Kommunikation. Diese bieten die Chance, dass sich Fachkräfte gegenseitig beim Lernen unterstützen können. Ein Kita-Team hatte während einer Fortbildung nach Erinnerungsankern für den Alltag gesucht. Sie wollten den Giraffenweg einschlagen und haben deshalb an unterschiedlichen Orten in der Kita Bilder von Giraffen oder Spielzeuggiraffen platziert. Beim Blick auf eine Giraffe im Pausenraum und sogar in der Toilette erinnerten sie sich an das Ziel: Wir wollen die liebevolle Giraffensprache lernen.
Falls auch Sie die Giraffensprache üben wollen, fangen Sie doch gleich an. Ein Kind, eine Kollegin und viele andere werden sich freuen.
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