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Die Aufsichtspflicht – ohne sie zu beachten geht es in der Kita nicht. Das weiß jede pädagogische Fachkraft. Und trotzdem: Kinder wünschen sich Rückzugsorte, ganz ohne Erwachsene. Die können unterschiedlich aussehen:
Die Düsseldorfer Altstadt ist eine der größten Partymeilen in Deutschland. Spielplätze sind rar. Aber auch hier wohnen Familien mit Kindern. Wo spielen diese Kinder? Ein Kinderbeteiligungsprojekt der Arbeiterwohlfahrt ging dieser Frage ethnologisch nach. Projektbeteiligte suchten die Altstadt an Nachmittagen nach Kindern ab. Tatsächlich fanden sie spielende Kinder. Dazu mussten sie allerdings in die Knie gehen: Die Kinder hatten sich kaum einsehbare Verstecke zwischen und unter den zahlreichen Tischen, Stühlen und Bierbänken geschaffen, die tagsüber zu Bergen zusammengebunden sind.
Während einer Hospitation in einer Kita beobachtete ich, dass sich die Kinder mit verschiedenen Materialien Höhlen bauten. Oft mussten sie diese Rückzugsorte wieder abbauen, wenn die Gruppe etwa den Tisch für andere Zwecke brauchte. Eine dauerhaftere Rückzugsmöglichkeit fanden wir in einem alten, großen Schrank. Nachdem wir einige Luftlöcher gebohrt hatten, ist der Schrank heute ein beliebter Rückzugsort für kleine Kindergruppen. Eine Ampel signalisiert, ob das Öffnen der Türen von außen erlaubt oder unerwünscht ist. Die Erzieherinnen und Erzieher dürfen aber ab und zu auch bei Rotlicht in den Schrank schauen, „aber nur, wenn ihr es gar nicht mehr anders aushaltet“. Die wegen der „Ruhe im Karton“ nervös gewordene Fachkraft schaut dann oft in vergnügt glucksende Kindergesichter.
Die Kita Rieselfeld in Freiburg im Breisgau besuchen Kinder vom Krippen- bis Hortalter. In einer Kinderkonferenz beschwerten sich die älteren Kinder, dass die jüngeren oft das einrissen, was sie am Vortag aufgebaut hätten. Als Lösung wurde entwickelt, dass die älteren einen eigenen Raum erhalten. Dazu machte die Kita den Gartenschuppen zum Horthaus. Hier spielen Kinder überwiegend in Eigenregie, an einigen Tagen auf Wunsch der Kinder auch getrennt nach Mädchen oder Jungen.
An meinem zweiten Arbeitstag in einer neuen Kita kamen mir die beiden Fünfjährigen Patrick und Katja entgegen. „Wohin des Weges?“, fragte ich sie. Zu meinem Erstaunen sagten sie, für ihre Erzieherin Angelika die Tageszeitung an einem Kiosk holen. Der Kiosk befindet sich einige hundert Meter entfernt am U-Bahnhof, weit außerhalb des Sichtbereiches der Kita. Ich ließ die Kinder ziehen und ging unmittelbar zu ihrer Erzieherin. Im Gespräch mit ihr habe ich erkannt: Nichts war für die Kinder reizvoller, als sich ohne unmittelbare „Auf-Sicht“ außerhalb des Kindergartens zu bewegen. Der Auftrag, die Zeitung am Kiosk holen zu dürfen, war ein Top-Job in der altersgemischten Gruppe, der natürlich den erfahrenen Kindern vorbehalten war. Ein echtes, selbst erworbenes Privileg also: Es lohnte sich in dieser Gruppe, älter und kompetenter zu werden.
Die Aufsichtspflicht ist ein Teil der Personensorge, die nach Paragraf 1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches die Pflicht und das Recht der Eltern umfasst, das Kind zu pflegen, zu erziehen und zu beaufsichtigen. Beaufsichtigung soll einem doppelten Schutzzweck dienen: Zum einen geht es um den Schutz der Kinder vor Gefahren, in die sie sich selbst begeben oder die ihnen durch Dritte zugefügt werden könnten. Zum anderen will man vermeiden, dass Kinder andere Menschen verletzen oder Gegenstände kaputt machen. Diese Personensorge wird Betreuungskräften durch einen Vertrag für einen Teil des Tages übertragen. Für sie gelten die gleichen Anforderungen wie für Eltern – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Pflicht zur Aufsicht beginnt mit der Übergabe des Kindes an die Fachkräfte und endet, wenn das Kind am Nachmittag die Kita verlässt.
Sehr wichtig für ein professionelles Verständnis der Aufsichtspflicht ist die erzieherische Hauptverantwortung, die im Kinder- und Jugendhilfegesetz – im achten Buch des Sozialgesetzbuches – formuliert ist. Dort heißt es zu Beginn in Paragraf 1: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ Das wird konkretisiert durch die nachfolgende Aussage in Paragraf 9: „Bei der Ausgestaltung der Leistungen und der Erfüllung der Aufgaben sind [...] die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes oder des Jugendlichen zu selbstständigem, verantwortungsbewusstem Handeln […] zu berücksichtigen.“
Der Gesetzestext stimmt insofern mit dem pädagogischen Auftrag vollständig überein, Aufsicht als „Erziehung zur Selbstständigkeit“ zu verstehen. Das für sich und für andere sicherste Kind ist das kompetente Kind, das Gefahren gut einschätzen und damit umgehen kann. Es ist dann in der Lage, sich auch ohne unmittelbare Anwesenheit von Erwachsenen sicher und aufmerksam zu bewegen. Kinder sind umso sicherer, je weniger sie ihre Sicherheit an Erwachsene delegieren oder abgeben. Stattdessen muss man positive Anreize zur Selbstständigkeit setzen. Die Kinder sind meist motiviert, das in sie gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen. Nun stellt sich nur die Frage: Dürfen Kinder zeitweilig auch ohne unmittelbare Aufsicht sein? Grundsätzlich kann das mit einem Ja beantworten:
Die konkreten Umstände bleiben immer neu zu bestimmen. Es gibt viele Faktoren, die abstecken, in welchem Maß man der Aufsichtspflicht nachkommen sollte. Die wichtigsten davon sind das Alter und die Reife des Kindes, die räumlichen und örtlichen Bedingungen sowie die Art der Tätigkeit. Der Gesetzgeber überlässt mit guten Gründen die Entscheidung darüber den handelnden Personen: Nur sie können diese unterschiedlichen Faktoren situationsgerecht einschätzen.
Ein pädagogisch und rechtlich verantwortlicher Umgang mit der Aufsichtspflicht und eine Pädagogik, die die Neugier und den Entdeckerdrang der Kinder unterstützt, sind damit keine Gegensätze, sondern bedingen sich. Auch Rechtsexperten wie der ehemalige Richter Simon Hundmeyer bestätigen, dass auf der Grundlage moderner pädagogischer Konzepte begründete Erziehungsmaßnahmen rechtlich nicht falsch sein können. Aber was bedeutet dieses Verständnis von Erziehung und Aufsichtspflicht für die Praxis?
Das Early-Excellence-Konzept, der Situationsansatz und andere reformpädagogische Konzepte erkennen den subjektiven Wert des eigenständigen Kinderspiels an. Der grundsätzlich positive Blick auf das Handeln der Kinder geht davon aus, dass dieses für die Kinder sinnvoll und allermeistens auch entwicklungsfördernd ist. Dies zeigt eine Reflexion der anfangs beschriebenen Erfahrungen:
Die Düsseldorfer Altstadtkinder nehmen es auf sich, einen oft täglich wechselnden Rückzugsort zu suchen. Denn hier ist der Weg schon das Ziel: Sich durch das Möbellabyrinth zu schlängeln hat Abenteuercharakter. Die gefühlte Illegalität – „Kinderspiel hier verboten!“ – macht das Abenteuer umso spannender, und das Auffinden eines optimalen Verstecks fühlt sich wie eine Belohnung an.
Die Achtsamkeit der Fachkräfte beschert den Kindern mit dem Schrank einen ungewöhnlichen Rückzugsort. Er befriedigt auch das Bedürfnis, sich zeitweise mit den engsten Freundinnen und Freunden von der Öffentlichkeit abzugrenzen. Den Kindern bliebe sonst auf der offenen Bühne des Kindergartens kaum ein geheimer Ort.
Der eigene Hortraum im Gartenschuppen ist eine Erweiterung der Höhle im Schrank. Hier ist eine altersgemäße Selbstorganisation unter den Gleichaltrigen möglich. In vielen unterschiedlichen Aspekten bereiten sich ältere Kinder auf die Herausforderungen und Tätigkeiten der Erwachsenenwelt vor. Manche Kinder erproben ein breites Repertoire von Wissens- und Handlungsmöglichkeiten, andere entwickeln ein ausgeprägtes Interesse für ein spezielles Thema. Für alle ist die Interaktion mit den Peers zentral wichtig. Vieles davon geschieht im informellen Raum und ist intrinsisch motiviert. Dafür brauchen Kinder dieses Alters eigene Räume, die sie in der Schule selten finden.
Der Top-Job des Zeitungsholens ist eine meiner Erfahrung nach leider selten gewagte, aber lohnende Zumutung für Kinder. Während sich alle vorherigen Szenen noch im Raum der mittelbaren Aufsicht bewegen, gibt es hier ein vollkommenes Überlassen im Vertrauen aufeinander. Bedingungs- und voraussetzungslos ist es dennoch nicht: Es gehen immer zwei Kinder gemeinsam, der Weg ist von vielen Spaziergängen gut bekannt, es gibt vereinbarte Regeln und die Kioskbesatzung ist informiert.
„Seien wir ehrlich: Leben ist lebensgefährlich“, textete Erich Kästner. Ein Leben ohne Risiko wäre kein gutes Leben. Und auch kein nachhaltig befriedigendes Arbeitsleben. Deshalb braucht die Aufsichtspflicht immer auch eine nötige Portion Vertrauen. Und das werden die Kinder bald belohnen.
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