17.10.2023
Ingrid Miklitz

Berührt

Kindern sinnliche Erfahrungen mit der Natur ermöglichen

Einen Sonnenaufgang erleben, im Sommerregen baden, das Gras unter den nackten Füßen spüren – so simpel dies ist, so selten ermöglichen wir solche Erfahrungen. Dabei werden Kinder, die sich mit allen Sinnen in ihrer Umwelt beheimaten können, die Natur lieben und Verantwortung übernehmen.

TPS-Praxismappe für die Kita

Ich erinnere mich an mein Enkelkind Amalia – an die eher unscheinbaren Dinge, die sie als Zweijährige auf dem Feldweg fand. Und immer war es der gleiche Weg und immer war der Feldweg eine Quelle ihrer unbändigen Entdeckungsfreude: patschen, matschen, au_ eben, umdrehen, wegwerfen, in den Mund nehmen, beriechen, in die Tasche stecken… Ihr ernsthafter Gesichtsausdruck, oft mit der Zunge im Mundwinkel, begleitete diese Situationen ungeteilter Aufmerksamkeit. Solche Momente zeigen uns: Das Kind fühlt sich wohl in diesem Moment. Es wirkt entschlossen und völlig mit sich im Reinen. Und es signalisiert: Traut mir etwas zu!

Wenn wir als pädagogische Fachkräfte Naturräume für solche und andere Erfahrungen aufsuchen und zulassen, dass Kinder sich darin weitestgehend selbstbestimmt bewegen, dann steht einer sinnesreichen Weltentdeckung nichts mehr im Weg! Das heißt nicht, dass Kinder Waldwege nach Belieben verlassen sollten. Pflanzen und Tiere haben hier ihr Zuhause und Anspruch auf Schonung ihrer ohnehin raren Rückzugsräume.

Die Natur ist sozusagen „im Fluss“: Jeden Tag hebt sich der Vorhang auf ihrer „Bühne“ neu – und oft unerwartet. Zum Beispiel, wenn einzelne Blätter der am Feldweg stehenden Bäume auf den Weg fallen und die Kinder zu einem Blätterrate- Fühlspiel inspirieren. Fachkräfte dürfen sich aus der Rolle der „Bildungsanimateure“ eher zurückziehen; geleitet von einer Pädagogik mit der Hand in der Tasche: Eingreifen, wo es notwendig ist. So eröffnen sich für Kinder wertvolle, allsinnlich erfahrbare Naturerlebensräume. In gewissem Sinne bekommen sie dadurch die Chance einer Beheimatung in den von ihnen genutzten Draußenräumen. Beheimatung bedeutet hier: Vertraut werden mit dem näheren Lebensumfeld. Die Kinder erahnen und begreifen nach und nach, was in den allsinnlich erkundeten Naturräumen in Wald und Flur lebt, welche Pflanzen und Tiere hier ihr „Zuhause“ haben. Menschen, die in der Natur beheimatet sind, ist es ein Herzensanliegen, in ihrem näheren Lebensumfeld Verantwortung für sie zu übernehmen.

Die Erde berühren

Jeden Kita-Tag können wir damit beginnen, die Erde „hautnah“ zu berühren. Im wahrsten Wortsinn: Kein Pflasterstein, kein Schuh, kein Strumpf soll die Kinder daran hindern, ein unmittelbares Fühlerlebnis zu haben. Und wenn dazu die frühen Morgenstunden genutzt werden, bekommt die Berührung eine besondere Qualität: Das frühe Tun, die morgenfrische Empfindung eröffnet den neuen Tag, schafft ein Sinneserlebnis, bevor das viele „Andere“ die Aufmerksamkeit und die Sinne der Kinder beansprucht und überlagert.

Mit nackten Füßen und behutsamen Schritten entdecken die Kinder in diesem Morgenritual die Erde und den Rasen im Außengelände ganz neu: Warme Kinderfüße sinken im oft noch morgenkühlen Gras ein. Manchmal ist es noch taufeucht, an kalten Tagen von Raureif bedeckt. Es erzählt dem aufmerksamen Barfußkind etwas über das Wetter, die Bodenbeschaffenheit, die Bodentemperatur, den Wind, die Wolken und vieles mehr. Und die Körper der Barfußgänger:innen spüren, dass es da unten an den Füßen langsam kälter wird. Das bringt den Kreislauf in Schwung und weckt selbst die noch etwas Verschlafenen. Wenn die Kinder vorher mit einem goldenen, imaginären Schlüssel ihre Lippen verschlossen haben und ihre Ohren spitzen, dann dürfen sie erleben, dass sie diesen Lebensraum in der Früh noch mit anderen Lebewesen teilen: kriechend, überfliegend und vielleicht sogar hüpfend. Die Lungen nehmen die frische Morgenluft auf – und bei niedrigeren Außentemperaturen erleben die Kinder, wie sich ihr warmer Atem sichtbar mit der Umgebungsluft verbindet. Sie merken: Alles wird eins und eins ist alles – und ich bin ein Teil davon.

Ein Bad im Sommerregen

Hunderte Tropfen auf der Haut. Sie fallen aus einer großen Regenwolke. Welch ein Kinderglück und unvergleichliches Gefühl  – ganz anders als unter der Dusche! Beim Herunterrinnen kitzeln die Tropfen angenehm auf der Haut, stauen sich an manchen Körper- und Kleidungsstellen. Die ersten Kinder haben bis auf eine kurze Hose alles ausgezogen. Ich stehe in meinem Badeanzug mittendrin. Wir beobachten, wie sich einzelne Tropfen vereinigen und in kleinen, mäandernden Tropfenrinnsalen den Weg über unsere Körper hin zur Erde finden. Wir stehen im Außenbereich der Kita – und genießen einfach nur. Die ersten Kinder werden zu Regentropfen-Fängern. Bald heben sie ihre Arme zum Himmel empor, bald versuchen sie, mit einer Mulde in den Handinnenflächen Tropfen zu sammeln. Ein Kind führt den Tropfenschatz zum Mund. Hui, nun kommt etwas Wind auf – es fühlt sich nun kühler an. Die Kinder halten sich warm. Sie rennen umher, springen, schütteln oder streifen mit der Handkante die Tropfen ab. Ich erahne, was Kindern entgeht, denen man diese wundervolle, sinnliche Erfahrung vorenthält. Dabei macht nur mit, wer möchte. Immer mehr Kinder entledigen sich ihrer Kleidung und sind dabei beim Sommerregenbad. So einfach – so wahrhaftig! 

Baumtastspiel

In einem Waldstück oder auf einer Baumwiese sollen Bäume blind ertastet und anschließend anhand der Tasteindrücke wieder erkannt werden. Dazu brauchen wir Augenmasken, zum Beispiel Schlafbrillen. Es sollte aber den Kindern überlassen werden, ob sie lieber mit Schlafbrille oder mit geschlossenen Augen laufen. Hier der Ablauf: Es gibt einen Ausgangspunkt. Von hier führt ein Kind seine:n Partner:in zu einem Baum. Das „blinde“ Kind ertastet den Stamm und geht danach „blind“ zurück zum Ausgangspunkt. Nun wird die Maske abgelegt und das Kind versucht nun sehend, „seinen“ Baum anhand der Tasteindrücke wieder zu finden. Anschließend werden die Rollen getauscht. Wichtig ist, dass die Kinder unmittelbar danach über ihre Erfahrungen sprechen können.

Mögliche Reflexionsfragen:

  • Wie war es für mich, „blind“ durch den Wald geführt zu werden?
  • Gab es Situationen, in denen ich mich nicht gut gefühlt habe?
  • Habe ich den Weg anders wahrgenommen, als ich blind zum Baum geführt wurde?
  • Habe ich mich sicher gefühlt?
  • Woran habe ich meinen Baum erkannt?
  • Welche Borkenstrukturen (die Borke und der darunter liegende Bast bilden die Rinde) habe ich ertastet? Z. B. glatt (Buche), tiefgefurcht in Längsrichtung (Eiche), papierartig (Birke) oder schuppig (Platane).
  • Was habe ich am Stammgrund ertastet? Z. B. Moos, Feinreisig, niedrige Zweige oder eine Rindenverletzung. Dieses Tastspiel machten wir vorher im Team im selben Gelände.

Dadurch, dass wir es selbst erlebt hatten, konnten wir uns besser in die Lage der Kinder hineinversetzen und notwendige Vorkehrungen treffen: Die Schlafbrillen richtig anlegen, das sichere Führen demonstrieren, Bodenvertiefungen markieren, sperren oder auffüllen, den Treffpunkt kennzeichnen etc.

Ingrid Miklitz, Dipl.-Sozialwissenschaftlerin; Vorsitzende des Landesverbandes der Wald- und Naturkindergärten BW e.V., Herausgeberin der Zeitschrift „Draußenkinder“, Autorin

Bildquellen Kristyna Davidova /gettyimages.de
Leitung Pädagogische Fachkraft Hort Kindergarten Krippe Nachhaltigkeit Zukunft Umwelt/Natur/Nachhaltigkeit
Bitte warten Sie einen Moment.