30.07.2021
Christian Peitz

Lisas heldenhafte Reise

Das Leben hält viele Prüfungen bereit. Laufenlernen ist eine der ersten, der wir uns stellen müssen. Unseren Autor fasziniert allerdings weniger, dass Kinder irgendwann gehen können, sondern vielmehr der Weg dorthin. Wie Fachkräfte dieses besondere Abenteuer auf außergewöhnliche Weise dokumentieren können, verrät er in diesem Artikel.

Die kindliche Entwicklung beobachten – unbestritten eine Kernaufgabe pädagogischer Praxis. Seit die Ein- und Zweijährigen einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz haben, können Fachkräfte Entwicklungsschritte und -prozesse beobachten, die Kinder früher in ihren Familien gemacht haben. Laufenlernen zählt dazu. Viele kommen krabbelnd oder mitten in der Übungsphase in die Krippe. Pädagogische Fachkräfte sind darauf eingestellt, diese wichtigen Situationen zu beobachten. Die Beobachtungen sind Anlass für den Austausch mit Eltern, für die Vorbereitungen passender Unterstützungsmöglichkeiten sowie für Bildungs- und Entwicklungsdokumentationen.

Letztere nehmen anhand gezielter Fragen beziehungsweise Items unterschiedliche Entwicklungsaufgaben in den Blick. Dabei berücksichtigen sie sämtliche für die Altersgruppe relevanten Kompetenzen – auch die bereits vor der Aufnahme in die Kita entwickelten. Laufenlernen fällt in den Bereich der Körpermotorik. Je nachdem, welche Entwicklungsnorm man anhand der Vergleichsgruppe zugrunde legt, ist von Kindern zwischen zwölf und fünfzehn Monaten zu erwarten, dass sie frei laufen können. Mit achtzehn Monaten haben Kinder diesen Entwicklungsschritt meist bereits vollzogen. Andernfalls müsste man das jeweilige Kind und seine Motorik genauer im Blick behalten und vielleicht sogar überprüfen lassen, ob ein Problem dahintersteckt.

Der entscheidende Impuls

Eine andere Perspektive eröffnet sich, wenn man Laufenlernen prozesshaft beobachtet. In dem Fall stellt sich nicht die Frage, was ein Kind wann kann, sondern wie es den Entwicklungsschritt vollzieht. Erstaunlicherweise muss man sich dann unter Umständen fragen, ob Laufenlernen im Bereich der Körpermotorik überhaupt richtig verortet ist. Vier Beispiele:

  1. Jonas ist genau zwölf Monate alt, als er seinen ersten freien Schritt schafft. Dafür trainierte er hart und verbrachte als Vorbereitung viel Zeit mit Krabbeln. Das half, seinen Gleichgewichtssinn zu entwickeln und die Muskulatur sowie die Gelenktätigkeit zu trainieren. Beim Laufenlernen selbst hatte Jonas dagegen keine klare Methode. Er richtete sich an Tischen und Stühlen auf, ging an der Hand oder stützte sich an die Wand. Immer wieder ging er los und fiel hin. Doch das störte ihn nicht. Er probierte es, bis der Gleichgewichtssinn, die Muskulatur und die Gelenke seinem Willen folgten. Für Jonas war Laufenlernen vor allem ein Erfolg der Körpermotorik und des Durchhaltevermögens.
  2. Lisa gelang ihr erster freier Schritt mit sechzehn Monaten. Dabei waren sich Fachkräfte und Eltern einig: Sie hätte es schon früher schaffen können, allein zu gehen. Doch ihr Weg war ein anderer. Sie ging immer an der Wand entlang, um sich daran zu stützen. Ihren ehemaligen Babygreifbogen, so berichteten die Eltern, nutzte sie als Rollator. In der Kita nahm sie dafür einen Puppenwagen, wobei der weniger Widerstand bot und einige Male zu schnell wurde, sodass Lisa stürzte. Dann kam der große Tag. Lisa stand an der Wand, stützte sich wie gewohnt ab und traf eine Entscheidung: Sie ließ los und ging. Nach zwei Schritten blieb sie stehen und freute sich über den Erfolg. Dann lief sie weiter, und zwar so gut und sicher, als ob sie bereits seit Wochen frei laufen konnte. Für Lisa war das freie Gehen also Teil der psychischen Entwicklung. Sie musste, um loslassen zu können, Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten haben. Laufenlernen war ein Erfolg ihres Mutes.
  3. Jana läuft, seit sie fünfzehn Monate alt ist. Auch sie musste, ähnlich wie Lisa, erst lernen loszulassen. Allerdings bewegte Jana sich nie an der Wand entlang und schob auch keine Greifbögen oder Puppenwagen vor sich her. Jana lernte an der Hand der Eltern, der Großeltern und der Fachkräfte laufen. Sie fühlte sich sicher, wenn eine Bezugsperson an ihrer Seite war. Erwachsene Nähe war für Jana auch in anderen Situationen sehr wichtig. Aber letztlich kam auch für sie der große Tag. Sie lief an der Hand, ließ auf einmal los und ging allein weiter. Laufenlernen war für Jana ein Erfolg des Vertrauens und der Bindung. Sie konnte in ihre Fähigkeiten vertrauen, weil sie sich sicher war, dass immer eine erwachsene Bezugsperson für sie da war.
  4. Leon freute sich mit fünfzehn Monaten über seinen ersten erfolgreichen Gehversuch. Seine Eltern beschrieben ihn liebevoll als faul. Die Fachkräfte waren anderer Auffassung. Leons Arbeit war das Beobachten. Sicher, er saß auch mal irgendwo und beschäftigte sich intensiv und geduldig mit einem Spielzeug. Oft aber wirkte er eher passiv. Seine Beobachtungen galten stets dem sozialen Geschehen. Er schaute, was die anderen Kinder spielten, worüber sie sich freuten und was sie traurig machte. Zwar lief Leon auch schon oft an der Hand, aber nie aus eigenem Antrieb, sondern immer, weil die Erwachsenen ihn dazu brachten. Eines Tages weckte die Kugelbahn sein Interesse. Die war nicht neu. Leon kannte sie und hat oft gesehen, wie andere Kinder damit spielten. Doch in diesem Moment war sie frei. Leon sagte „Da!“, nahm die Hand der Erzieherin, ging gemeinsam mit ihr los, zog seine Hand aber bald zurück und vollendete den Weg zur Kugelbahn allein. Für Leon war Laufenlernen vor allem ein sozialer Erfolg. Er ließ sich vom Spiel anderer Kinder inspirieren und nahm schließlich Kontakt zu einem Gegenstand der räumlichen Umwelt auf.

Vielleicht gibt es bei jedem Kind einen besonders wichtigen Impuls, der das Laufenlernen vorantreibt und ganz unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Laufen ist sicherlich eine motorische Tätigkeit, allerdings scheint diese Perspektive letztlich zwar richtig, aber auch enorm verkürzt zu sein. Laufenlernen ist immer mehrdimensional und Ergebnis einer integrativen Entwicklung, die motorische, psychische, soziale und weitere Anteile hat.

Dazu kann man Laufenlernen als Rekapitulation sehen. Das Kind zeichnet in seiner Individualentwicklung die Menschheitsentwicklung nach. Seit mehr als drei Millionen Jahren kann der Mensch aufrecht gehen. Das sowie die Sprache und die Kultur sind zentrale Wesensmerkmale im Vergleich zu anderen Spezies. Der Motor seiner Entwicklung ist also schon in den Genen des Kindes verankert.

Aber der Ausgangspunkt und die Bedeutung des Laufenlernens sind individuell unterschiedlich, und die Beobachtung dieser Facetten des Bildungsprozesses ist viel spannender als das Ergebnis. Das Kind wird somit irgendwann laufen, sofern keine Beeinträchtigungen das verhindern.

Die Widerstände des Lebens

Der Mythenforscher Joseph Campbell beschrieb in den 1940er-Jahren erstmals die Struktur der Heldenreise. Es handelt sich dabei um eine Ablaufstruktur, in der sich Entwicklungen, Ereignisse und Geschichten erzählen lassen. Im Laufe seines Lebens muss der Mensch sich immer wieder Herausforderungen stellen und etwas Neues lernen. Er kommt gar nicht umhin, sich zu entwickeln und zu verändern. Aber nicht jede Entwicklung ist automatisch eine Heldenreise. Bei ihr geht es nämlich vor allem um herausfordernde Entwicklungsaufgaben, bei denen man Hürden und Widerstände überwinden muss. Gerade sie lassen uns wachsen, wenn wir uns ihnen stellen.

Die Heldenreise nimmt frei von normativen Vorstellungen individuelle Entwicklung prozesshaft in den Blick. Sie ist geeignet, um Eltern und Fachkräften, aber auch den Kindern selbst Strategien und Ressourcen zu spiegeln. Da die Heldenreise per se narrativ angelegt ist, kann sie auch eine Entwicklungsgeschichte erzählen und eignet sich somit als qualitatives Verfahren. Folgende Struktur liegt ihr zugrunde:

  1. Die gewohnte Welt: Wie hat sich das Kind üblicherweise beschäftigt? Wie sah sein Alltag aus?
  2. Der Ruf des Abenteuers: Wie wurde das Kind auf eine neue Herausforderung aufmerksam?
  3. Die Weigerung: Worin bestanden Schwierigkeiten? Was hat den ersten Schritt bislang verhindert? 
  4. Helfer und Mentoren: Wer hat dem Kind Mut gemacht, es gefördert oder ihm geholfen?
  5. Überschreiten der ersten Schwelle: Auf welche Weise ist dem Kind der erste Schritt gelungen?
  6. Die Bewährungsproben: Welche Schwierigkeiten mussten auf dem Weg bewältigt werden?
  7. Die entscheidende Prüfung: Wie ist dem Kind der letzte große Schritt gelungen? Was hat dazu beigetragen?
  8. Belohnung: Was hat das Kind am Ende gewonnen?
  9. Rückweg: Was bedeutet dem Kind diese Belohnung? Inwiefern ist es an dem großen Abenteuer gewachsen?
  10. Der neue Alltag: Was hat sich für das Kind verändert? Welche neuen Möglichkeiten hat es dadurch gewonnen?

Wie wir die Heldenreise für die Entwicklungsdokumentation verwenden können, verdeutlicht das Beispiel von Lisa, die wir zu Beginn schon kennenlernen durften. Die Entwicklung wird nicht in den objektiven Dimensionen, sondern in der individuellen Bewältigung der Aufgaben dargestellt. Die Erzählung wurde in einer dem Märchen ähnlichen Form verfasst. Die Struktur der Heldenreise ist aber nicht auf diese Erzählgattung beschränkt, sondern wäre auch als einfacher Bericht oder Brief möglich. Für die kindliche Entwicklung ist das Märchen jedoch überaus gut geeignet.

Ein neues Abenteuer beginnt

Die gewohnte Welt: Es war einmal ein kleines Mädchen namens Lisa. Sie lebte mit ihren Eltern in einem kleinen Haus und freute sich jeden Tag aufs Neue, die Welt zu entdecken. Im Frühling hatte sie sitzen und kurz darauf krabbeln gelernt. So konnte sie sich mit ihren Spielzeugen beschäftigen und sich alle Ecken des Wohnzimmers anschauen.

Der Ruf des Abenteuers: Doch Lisa merkte auch, dass die anderen Kinder in der Kita nicht krabbelten, sondern sich ganz anders bewegten. Sie liefen auf ihren Beinen. Lisa hatte noch keine Idee, wie sie das auch schaffen konnte. Vorerst zog sie es vor, weiter zu krabbeln. Aber immer wieder beobachtete sie in der Kita die anderen Kinder beim Laufen.

Begegnungen mit Mentoren und das Überschreiten der ersten Schwelle: Im Sommer, kurz nach ihrem ersten Geburtstag, fing sie damit an, sich an den Gegenständen (kleine Helfer oder Mentoren) ihrer Umgebung hochzuziehen. Besonders gut gefiel ihr zu Hause der Kamin. Der stand mitten im Wohnzimmer, sodass sie von dort aus alles sehen konnte. Und manchmal brannte im Kamin eine Kerze. Auch das mochte Lisa sehr.

Bewährungsproben, Verbündete und Feinde: Eines Tages entdeckte Lisa einen Greifbogen aus Holz. Als kleines Baby hatte sie oft daruntergelegen und sich mit den herabhängenden Spielzeugen beschäftigt. Aber nun stand er unbenutzt herum. Lisa merkte, dass man den Greifbogen vor sich herschieben konnte. Auf diese Weise spazierte sie nun durch das Wohnzimmer. So entdeckte sie das Gehen. Es war ihr eine sichtliche Freude, auf ihren eigenen Beinen vorwärtszukommen. Und wenn der Greifbogen einmal nicht da war, ging sie einfach an den Möbeln entlang oder hielt eine erwachsene Hand. So ging es zu Hause und auch in der Kita. Nur loslassen wollte sie noch nicht. Wer sie sah, meinte, sie müsse eigentlich längst ohne Gehhilfe vorankommen. Doch Lisa ließ sich Zeit. Vielleicht fehlte ihr noch das letzte bisschen Sicherheit. Es vergingen mehr als zwei Monate. Und eines Tages, als sie wieder am Kamin stand und sich am Licht der Kerze erfreute, geschah es: Lisa ließ los – zunächst nur für einen Moment. Nun stand sie frei im Raum. Und schließlich wagte sie ihren ersten eigenen Schritt ganz allein. Es folgte gleich ein zweiter.

Die entscheidende Prüfung: Lisa nahm ihre ganze Konzentration zusammen und ging weiter. So kam ihr eine Erkenntnis: Sie konnte laufen. Und das ganz ohne Hilfe.

Die Belohnung: Lisa gewann Bewegungsfreiheit und hatte Freude. Und sie bekam Anerkennung, denn mit ihr freuten sich auch ihre Eltern, Großeltern und die Erzieherinnen in der Kindertagesstätte.

Der Rückweg und der neue Alltag: Von diesem besonderen Tag an war Lisa nur noch aufrecht unterwegs und wurde mit der Zeit auch immer sicherer. Das Laufen war nun keine große Sache mehr und Lisa war danach ganz schnell bereit für viele neue Herausforderungen. Rennen. Hüpfen. Tanzen.

Die Heldenreise ist als qualitatives Verfahren gut geeignet, um kindliche Entwicklungen in den Blick zu nehmen und prozesshaft zu beschreiben. Wenn es darum geht, einem Kind seine Ressourcen zu spiegeln, lohnt sich besonders ein Blick in die bewältigten Hürden, Aufgaben und Prozesse der Vergangenheit, ganz unabhängig vom Alter. Das Leben bietet dem Menschen viele spannende Prüfungen, von denen einige eine Heldenreise sind.

Bei all diesen Themen geht es immer nur am Rande um deren Ergebnisse. Im Zentrum der Betrachtung steht der Weg dorthin. Und hier lassen sich durchaus Muster entdecken: Wird Jonas immer so überaus zielstrebig vorgehen, wenn er etwas möchte? Wird Lisa sich weiterhin nur aus einem stabilen Sicherheitsgefühl neuen Herausforderungen stellen? Wird Jana sich auch in Zukunft bei Bezugspersonen absichern? Wird Leon bei zukünftigen Aufgaben ebenfalls von seiner guten Beobachtungsgabe profitieren?

Die Heldenreise als innere Erfahrungs- und äußere Erzählstruktur kann diese Abenteuer abbilden und so Ressourcen bewusst machen. In dieser Weise fördert sie immer auch die Resilienz: Wer seine Entwicklungsprozesse bewusst wahrnimmt, wird in seinem Selbstbewusstsein gestärkt.

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