Eine Herausforderung im Alltag einer Kindertagespflegestelle sind Konflikte der Kinder untereinander. Sie äußern sich auch in „aggressivem“ Verhalten wie Hauen, Beißen, Schubsen, Kratzen, Haare-Ziehen. Auseinandersetzungen unter Kleinkindern werden überwiegend körperlich ausgetragen, das ist „normal“. Es fehlen zum einen die Worte und zum anderen sind die Kinder noch vor der „Ich“-Entwicklung Sie kennen ihre eigenen Gefühle noch nicht und haben noch keine oder erst wenig Impulskontrolle und Regulationsmöglichkeiten. Sich in einer Gruppe mit anderen Kindern sozial verhalten zu können ist eigentlich für sie eine Überforderung. Sie brauchen dafür den Erwachsenen als Assistenz, nicht als Moral-Instanz. Wie können Kindertagespflegepersonen körperlich ausgetragenen Konflikten unter Kindern begegnen – immer vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Kinder in ihrem Verhalten keine böse Absicht haben? Die folgenden Überlegungen sollen Ihnen helfen, die eigene Haltung und damit das eigene Handeln immer wieder neu zu überdenken und die jungen Kinder respektvoll und einfühlsam auch in konflikthaften Situationen zu begleiten und zu betreuen.
Ruhig bleiben
Wer kennt so etwas nicht: – Rahel schubst mit beiden Händen Milan von sich weg. Milan erschrickt, weint und sucht seine Bezugsperson. – Paula spielt auf dem Boden mit einem Auto – da kommt Mira, reißt ihr das Fahrzeug aus der Hand und nimmt es zu sich. – Sandro spielt intensiv mit Bechern – da kommt David und beißt ihn in den Arm. Sandro schreit auf vor Schmerz.
In solchen Situationen ist der Erwachsene intuitiv dazu verleitet, aus der persönlichen Betroffenheit heraus zu reagieren. Dabei brechen ungefiltert eigene Emotionen durch. Die Reaktion ist oft zu hastig und aufgeregt, vielleicht auch ärgerlich, man rennt hin, wird laut, ruft durch den ganzen Raum.
Hierdurch erschrecken alle Kinder und neue Konfliktsituationen können entstehen. Besonders für die Unter-Dreijährigen besteht in mehrfacher Hinsicht eine starke Abhängigkeit zur Bezugsperson. Der Erwachsene gibt die emotionale und physische Sicherheit. Es berührt die Kinder existenziell, in welchem Zustand sich der Erwachsene befindet. Ist der Erwachsene zum Beispiel aufgeregt oder angespannt, gestresst, genervt, gedanklich abwesend, so überträgt sich dies auf die Kinder.
Professionelles, angemessenes und feinfühliges Verhalten wäre eine ruhige, besonnene und reflektierte Reaktion. In meinen Seminaren zu diesem Thema verwende ich gerne das Bild eines Notarztes oder Ersthelfers am Einsatzort. Für ihn gilt: Nicht rennen! Der Retter und Helfer geht ruhig und besonnen zu Werke. Dieses Verhalten beruhigt alle Anwesenden. Für den Beginn ihres Einsatzes gilt für Notärzte: zurücktreten, still sein, sich sammeln – also cool bleiben, durchatmen, sich nicht emotional in eine Stresssituation verwickeln lassen.
Der israelische Körpertherapeut Moshe Feldenkrais sagt: „Wenn ich weiß, was ich tue, kann ich tun, was ich will.“
Ruhig agierende Erwachsene geben den jungen Kindern Sicherheit und helfen ihnen sich zu entspannen, besser in ihr Spiel zu finden und sich auch außerhalb ihres häuslichen Bereiches, fern von den Eltern, wohl zu fühlen.
Respektvoll mit Kindern umgehen
Erziehung ohne Bestrafung und Beschimpfung, ohne körperliche Übergriffigkeiten und ohne Beschämung sollte die Grundlage unseres Handelns sein. Ein Kind festhalten, ihm einfach etwas aus der Hand nehmen, es von etwas wegziehen, es am Kopf schieben, es einfach hochheben … solches Verhalten widerspricht einem respektvollen Umgang mit dem Kind. Auf solche Übergriffe zu verzichten stärkt die Beziehung vom Kind zum Erwachsenen und stärkt das Kind in seinem Selbstwert. In einer Kleinkindgruppe verlangt dieser respektvolle Umgang ein hohes Maß an Besonnenheit und Fähigkeit zur Selbstreflexion.
Die Konfliktmotive von Kleinkindern kennen
Um das Handeln der Kinder besser beurteilen zu können, muss sich der Erwachsene immer wieder vor Augen halten, dass hinter Konflikten unterschiedliche Motivationen stecken. Die Forschung spricht hier von sogenannten Konfliktmotiven, die stark vom Entwicklungsalter abhängen.
Die bekannte Verhaltensbiologin Gabriele Haug-Schnabel bespricht in ihrem Buch „Aggression bei Kindern“ das Ergebnis einer Untersuchung von Schweizer Entwicklungsforschern zum Thema „Verhalten von Kindern ab acht Monaten in einer Gruppensituation“. Folgende Konfliktmotive zeigte die Untersuchung:
- unterbrochene Handlung,
- Neugier und Exploration,
- 3erweckte Bedürfnisse,
- etwas bewirken wollen.
Ab dem dritten Lebensjahr kommen folgende Motive hinzu:
- der Wunsch nach Besitz,
- das Bedürfnis nach Aufstieg in der Hierarchie,
- Kontakt- und Erregungssuche.
Alle genannten Konfliktmotive bleiben ein Leben lang erhalten, es verändert sich nur der Umgang mit ihnen. Weitere mögliche Ursachen von aggressivem oder konflikthaftem Verhalten in einer Kleinstkindgruppe können sein:
- Panik, Angst (etwa bei zu vielen Kinder im Raum),
- die Verteidigung der eigenen Person oder eines Gegenstandes (ein Kind kommt zu nahe, ein Kind will das Spielzeug aus der Hand reißen),
- auf sich aufmerksam machen wollen,
- Abbau von zu hoher Körperspannung,
- soziale Exploration,
- Kontaktaufnahme,
- Nachahmung,
- Eifersucht. Konflikte sind etwas Natürliches zwischen Menschen.
Zu viele Konflikte sind ein Stressfaktor für die Jüngsten. „Aggressives Verhalten“ kann auch Ausdruck dafür sein, dass es für einige Kinder zu unruhig und zu hektisch ist. Andere Kinder beginnen sich unwohl zu fühlen, weil es zu laut, zu eng ist. Vielleicht schubst die Rahel den Milan, weil er ihr zu nahe gekommen ist.