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Kaum auf der Welt, schon geht es los. Kurz nach der Geburt erleben Sauglinge ihr allererstes Gespräch: ein Spiegeldialog mit der Bezugsperson. Dabei greifen der Vater oder die Mutter – oder auch andere Menschen, die sich dem Säugling liebevoll zuwenden – wohlwollend seine Signale auf und ahmen sie nach. Sie wiederholen die Laute, imitieren den Rhythmus und Tonfall, ebenso den Gesichtsausdruck, manchmal auch Bewegungselemente und fassen das Erleben in einfache Worte: „Oh, du machst ganz große Augen und schaust mich an. Jetzt erzählst du mir etwas – ‚ah, ah, grr, grr‘ – ja, so – und noch einmal – ‚ah, ah, grr, ah‘ – ja, das gefallt dir.“ Und während die Bezugsperson in erhöhter Stimmlage, die wie ein Singsang klingt, spricht, schaut sie dem Säugling mit großen Augen direkt ins Gesicht.
Diese Art der Kommunikation mit Säuglingen – auch Ammensprache, Babytalk oder intuitiver Dialog genannt – ist über die ganze Welt verbreitet. In allen Kulturen sprechen Erwachsene und altere Kinder auf diese Weise mit Säuglingen. Das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass diese Dialogform im Menschen genetisch verankert ist. Genetisch verankert sind aber nur Verhaltensweisen, die das Überleben sichern oder der Entwicklung nutzen. Das gilt auch in diesem Fall, denn der Spiegeldialog erfüllt viele entwicklungspsychologisch wichtige Funktionen.
Neurophysiologisch gesehen bildet das Spiegeln die Grundlage für die spätere Empathie-Fähigkeit des Menschen, denn es aktiviert die im Gehirn des Kindes angelegten Spiegelneuronen. Mit ihrer Hilfe können wir fühlen, was die oder der andere fühlt. Genau darin besteht die Empathie oder wie wir auf Deutsch sagen: das Einfühlungsvermögen. Der Mensch muss also schon als Säugling gespiegelt werden, damit er ab dem Trotzalter bis zur Einschulung die Kunst, sich in andere Menschen gefühlsmäßig (und nicht nur gedanklich!) hineinzuversetzen erlernen kann. Hat er jedoch in diesem Zeitraum nicht genug Spiegelerfahrungen sammeln können, so wird dieser Prozess nur schwer nachholbar sein, weil die im Gehirn angelegten Spiegelneuronen immer wieder durch Spiegelkontakte angeregt werden müssen, um nicht zu verkümmern. Denn auch hier gilt der Grundsatz: Use it or lose it.
Auch für die Selbstwirksamkeit und die Festigung der Bindung leistet der Spiegeldialog einen wesentlichen Beitrag. Denn im intuitiven Dialog bestimmt das Kind das Geschehen aktiv mit. Zunächst sucht es die Aufmerksamkeit oder antwortet auf ein Interaktionsangebot. Dann beteiligt es sich an dem Gespräch, damit es nicht abbricht, und schließlich kann es den Dialog durch deutliche Signale beenden. Auf diese Weise erlebt das Kind früh seine Autonomie und seine soziale Kompetenz: Es kann entscheiden und die Bezugsperson berücksichtigt seine Entscheidungen; außerdem kann es das Interesse anderer Menschen auf sich ziehen. Es fühlt sich dabei von seinem Gegenuber geachtet, geschätzt, angenommen, verstanden und bestätigt. Es spürt: Wie es ist und was es tut, ist gut, weil es Zustimmung bekommt. Damit erhalt es einen wichtigen Baustein für sein Selbstwertgefühl und wird so mit seinen Aktivitäten fortfahren. Dadurch, dass die Bezugsperson das Kind nachahmt, begibt sie sich auf seine Ebene, überwindet die Differenz zwischen den beiden. Völlig aufeinander bezogen, wird die übrige Außenwelt fur eine gewisse Zeit ausgeschaltet. So entsteht ein Miteinanderschwingen, das beglückende Empfinden symbiotischer Einheit, das das Kind so dringend braucht, um sein Urvertrauen bilden zu können.
Die Spiegelung vermittelt nicht nur Einheitsempfindungen, sondern auch Selbstbewusstsein, denn der Säugling erblickt in den Reaktionen seines Gegenubers seinen eigenen Ausdruck. Sein eigenes Verhalten wird ihm verdeutlicht, der Säugling erkennt sich selbst. Und last but not least wird er, weil die Imitation doch nie vollkommen gelingt, zur Weiterentwicklung seiner eigenen Fähigkeiten angeregt. Denn nun beginnt er selbst, seine Bezugsperson nachzuahmen, und lernt auf diese Weise neue Lautbildungen oder Bewegungsnuancen.
Das Spiegeln beschränkt sich als Kommunikationsform keineswegs auf das Säuglingsalter. Wir finden es auch im Erwachsenenalter wieder – etwa bei Gesprächen. Die Gesprächspartner gleichen sich in ihrer Körperhaltung, Gestik und Mimik an, sprechen, wenn sie in einem gemeinsamen Thema engagiert sind, auch in ähnlicher Lautstarke. Wertschätzend prüfen sie nonverbal, ob sie emotional übereinstimmen. Sie bestätigen sich in ihrem Verständnis, regen sich gegenseitig an, helfen sich zu mehr Bewusstheit.
Für die Beziehungsgestaltung mit entwicklungsverzögerten Kindern ist das Spiegeln besonders wichtig. Es ist das beste Mittel, um überhaupt mit ihnen in Kontakt zu treten, vor allem, wenn sie bereits Beziehungsabbruche erlebt haben und in ihrem Selbstwertgefühl verletzt sind. Das Spiegeln zeigt ihnen, dass ihr Gegenuber sie wahrnimmt, dass man ihre Äußerungen ernst nimmt und sie versteht. Das Verständnis lockt aus der Resignation und Apathie und lindert Spannungen sowie Frustrationen. Ist bereits ein vertrauensvoller Umgang gewachsen, so vermittelt das Spiegeln emotionale Einheitsempfindungen und fordert den weiteren Aufbau von Vertrauen, was gerade für beeinträchtigte Kinder mit viel Misstrauen wichtig ist.
Spiegeln lassen sich alle gestischen, mimischen und lautlichen Regungen. Jede alltägliche Situation, die einige Augenblicke der Zuwendung erlaubt, eignet sich. Man kann die präverbalen Laute eines Krippenkindes – oder kognitiv beeinträchtigten Kindes – beim Waschen und Ankleiden liebevoll imitieren und anschließend sein Erleben in einfache Worte fassen. Oder in die Melodie, die ein Kind beim Spielen vor sich hin summt, wird eingestimmt. Beliebte Redewendungen, die das Kind gewohnheitsmäßig in der Begrüßungssituation oder bei seinen Spielen benutzt, eignen sich, um den Kontakt zu stärken.
Auf der Ebene des Gesprächs kann das Spiegeln im klientzentrierten Sinne als Verbalisierung der Empfindungen eingesetzt werden. Es signalisiert dann Verständnis fur die Gefühle, selbst in schwierigen Situationen, und fordert die Selbstwahrnehmung.
Spiegeln kann nonverbal und verbal erfolgen – und das in unterschiedlicher Ausprägung und auf unterschiedlichen Niveaus. Es ist wichtig, sorgfältig zu wählen, welche Art des Spiegelns angemessen ist, das heißt, wann man nonverbal und wann verbal (und auf welchem Niveau) spiegeln sollte. Das kognitive Niveau des Spiegelns richtet sich nach den kognitiven Fähigkeiten des Kindes und seiner augenblicklichen emotionalen Verfassung. So wird man ein Krippenkind oder ein Kind mit erheblicher kognitiver Einschränkung überwiegend nonverbal und lautlich oder mit einfachen, sich wiederholenden Sätzen spiegeln. Je weiter das kognitive Entwicklungsniveau ausgeprägt ist, umso mehr treten die nonverbalen Aspekte des Spiegelns in den Hintergrund und umso wichtiger wird die sprachliche Ebene des Spiegelns.
Merkt man, dass der sprachliche Kontakt nicht funktioniert, so ist das Spiegeln auf der Handlungsebene hilfreich. Denn auch das Spielverhalten kann imitierend aufgegriffen werden. Kinder, die kaum Nahe ertragen, zeigen allmählich Interesse an ihrem Gegenuber, wenn dieses wie es selbst, ohne zu sprechen und etwas zu fordern, mit ihm am Tisch sitzt und ein Bild malt oder mit Bauklotzen ein Haus baut. Langsam öffnen sie sich und schauen nun ihrerseits, was der andere eigentlich tut. In diesem Moment kann eine Bemerkung wie „Ich male ein Haus“ helfen. Fühlt sich das Kind durch diese indirekte Ansprache nicht bedroht, so kann man hinzufugen: „Genauso wie du.“ Eventuell kann man fortfahren: „Es gefallt dir, dass wir beide zusammen malen. Nun willst du sehen, was ich male.“ Bleibt das Kind im Kontakt und zeigt Interesse, so mag sich die Frage anschließen: „Darf ich auch mal sehen, was du malst?“ Wichtig ist bei kontaktscheuen Kindern, dass sich die Spiegelung zunächst nur auf die Handlung bezieht und keinerlei Bewertung enthalt. Selbst ein Lob „Das ist aber ein schönes Haus“ kann zu viel sein und das Kind zerstört sein Bild. Denn auch ein Lob ist eine Bewertung – wenngleich eine gute – und kann Angst auslosen. Die nächste Aussage konnte lauten: „Das hast du aber nicht gut gemacht.“
Wie die Beispiele zeigen, ist es gleichgültig, ob das Verhalten als erwünscht, auffällig oder gestört gilt. Erst die glaubwürdige Wertschatzung macht das Spiegeln heilsam. Jede Nachahmung aber, die aus einem ablehnenden, geringschätzigen Impuls erfolgt, wirkt schnell wie Nachaffen und krankt das ohnehin verletzte Selbstgefühl. Fachkräfte sollten daher unerwünschtes Verhalten nicht imitieren, auch wenn man manchmal dazu in einer überfordernden Situation neigt und sich ein Ende des problematischen Verhaltens erhofft. Selbst wenn diese Art von Imitieren kurzfristig wirkt, so zerstört es doch Vertrauen und schadet der Beziehung. Das gilt generell.
Nicht zu verwechseln mit dem zerstörerischen Nachaffen ist eine andere, auf Wohlwollen beruhende Form der Nachahmung von schwierigem oder unerwünschtem Verhalten. Sie besteht im unterstutzenden Kommentar. Wenn ein Kind seinen Zorn herausschreit und dabei mit dem Fußaufstampft, kann es helfen, es verbal zu spiegeln: „Du bist sehr sauer. Dein Arger muss raus. Darum schimpfst du ganz laut und stampfst.“ Hier wird in einer schwierigen Situation die sozialvertragliche Art der Entlastung spiegelnd unterstützt. Doch sollte man sich an die Spiegelung von schwierigen Verhaltensweisen erst heranwagen, wenn man das Spiegeln in unverfänglichen Situationen geübt hat und die Methode sicher beherrscht.
Das Spiegeln nutzt auch der Bezugsperson in schwierigen Situationen, in denen sie reagieren muss, aber nicht weiß, wie. Dann hilft es, Zeit zu gewinnen, die Situation zu verstehen, Kontakt aufzunehmen, und bietet die Chance, dass sich daraus eine Losung ergibt.
Zeigt sich Widerstand gegen das Gespiegelt- Werden, so sollten wir das akzeptieren. Er ist ein Zeichen für zu viel emotionale Nähe fur den Augenblick. Oder es wurde eine ungünstige Ebene des Spiegelns gewählt. Oder die gespiegelte Verhaltensweise ist bei dem Kind mit dem Erleben von Kritik oder Strafe verknüpft.
Es gilt also:
Aus diesen Gründen erhöht das Spiegeln das bewusste, angstfreie Selbsterleben und damit den Mut, kommunikative Prozesse zu beginnen und zu gestalten, den Mut, neue Möglichkeiten auszuprobieren und eigene Losungswege zu suchen sowie die Bereitschaft zu lernen und die Fähigkeit, Erfahrungen sinnvoll auszuwerten.
LITERATUR
Bauer, Joachim (2006): Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. München: Heyne.
Senckel, Barbara (2004): Wie Kinder sich die Welt erschließen. Persönlichkeitsentwicklung und Bildung im Kindergartenalter. München: Verlag C. H. Beck
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