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Wie denken eigentlich Kinder? Das Stufenmodell des Entwicklungspsychologen Jean Piaget gilt als überholt. Wir wissen inzwischen, dass Kinder deutlich flexibler Fähigkeiten der nächsten Stufe integrieren und es lange Übergänge gibt, in denen sie die verschiedenen Formen des Denkens parallel anwenden. Außerdem stehen der Erwerb des Denkens und Sprechens in enger Wechselwirkung miteinander (Wygotsky 1978). Die Bedeutung der Umgebung und Bezugspersonen mit ihren Anregungspotenzialen gelten heute als wichtige Faktoren für die kindliche Sprachentwicklung. Für das Denken ist dies erst wenig belegt, aber ebenso anzunehmen. Fördermöglichkeiten werden zunehmend Begriffen wie „Kognitive Aktivierung“ umschrieben und in den Blick genommen. Allerdings ist die strukturelle Denkförderung über spezifische Programme oder Inhalte in der Kita und Grundschule bislang in Deutschland ein noch eher vernachlässigtes Feld. In Großbritannien oder den USA liegt der Fokus stärker auf der Förderung des sogenannten kritischen Denkens (Critical Thinking) und der Frage, wie man dies fördern kann. Das kritische Denken wird als wichtige Fähigkeit definiert, die Kindern ermöglicht, Sachverhalte zu hinterfragen, logisches Argumentieren zu erproben und Problemlösungen zu entwickeln.
Die Philosophin Ann Marget Sharp und Matthew Lipman entwickelten bereits in den 1970er- bis 1980er-Jahren Kurzgeschichten, wie zum Beispiel die Geschichte von „Pixie“. Diese sollten Kinder anregen, in Form der „Community of Inquiry“, also einer Gesprächsgemeinschaft, gemeinsam kritische Denkfähigkeiten anhand der in den Geschichten angestoßenen philosophischen Themen zu erproben. Dabei spielen auch kreative Zugänge zum Denken (Creative Thinking) und Empathie fördernde Perspektiven (Caring Thinking) eine wichtige Rolle. Insbesondere die Arbeit mit Emotionen bietet nach Sharp (2007) einen besonderen Zugang zu inneren Haltungen und Einstellungen. In der Auseinandersetzung mit diesen braucht es nach Sharp auch Einfühlungsvermögen (ebd., S. 249). Dieser Ansatz nimmt nicht nur abstrakte Denkfähigkeiten in den Fokus, sondern auch die Kreativität und die Emotionen. Diese Zugänge sind auch für Kinder im Kita-Alter bereits gut nutzbar.
Während wissenschaftlich das Feld in Deutschland noch wenig bearbeitet wurde, gibt es in der Praxis bereits zahlreiche Arbeitsformen, die Kinder in der Entwicklung von kritischen, kreativen und empathischen Denkbewegungen unterstützen. Das Erzählen von Geschichten und das Philosophieren mit Kindern haben sich in der frühen Bildung als wichtige didaktische Ansätze erwiesen. Sie stärken die Kinder in ihrem Einfühlungsvermögen und Selbstvertrauen, lassen sie andere Perspektiven einnehmen und Probleme besser lösen. Seit einigen Jahren kommt in deutschen Kitas das japanische Erzähltheater, sprich Kamishibai, zum Einsatz. Anhand großformatiger Bildkarten erzählt man damit eine Geschichte nach. Ziel ist dabei, dass die Kinder ihre Erzählkompetenzen entwickeln, also frei vor einer Gruppe sprechen und eine Geschichte sinnzusammenhängend, d. h. kohärent, vortragen können. Die Merkfähigkeit für zentrale Elemente der Geschichte und eine gute Aufmerksamkeitsspanne spielen dabei eine wichtige Rolle.
Noch etwas weniger bekannt ist der Ansatz des Philosophierens mit Kindern, der im elementarpädagogischen Bereich oft in Verbindung mit Bilderbüchern gebracht wird. Hier steht weniger die Formulierung einer möglichst kohärenten Erzählung im Fokus als die Auseinandersetzung mit offenen, philosophischen Fragen. Da es auf philosophische Fragen keine einfachen Antworten gibt, können Fachkräfte hier mit den Kindern in den Dialog gehen. So können gemeinsam Haltungen begründet, hinterfragt und weiterentwickelt werden.
Das Potenzial, beide Ansätze zu verbinden, ist bislang noch wenig erprobt. Die Idee dazu entstand in der Vorbereitung einer Sommerschule in Kooperation der Deutsch-Jordanischen Universität (Prof. Dr. Gordon Mitchell) und der HAW Hamburg. Die Grundannahme war, dass das Erzählen von Geschichten eine Basis bietet, von der ausgehend verschiedene Perspektiven erkundet und kritisches, kreatives und empathisches Denken besonders gefördert werden.
Im März 2023 fand an der GJU in Madaba, Jordanien ein Workshop mit neun Praktikerinnen sozialer Einrichtungen statt. Das Ziel war, den Prozess des Geschichtenerzählens anhand japanischer Erzähltheater mit dem Ansatz des Philosophierens mit Kindern miteinander zu verbinden und so Chancen für die Förderung der Denkfähigkeit aufzuzeigen. Wie kann die Geschichte weitergehen?
Eine dreiköpfi ge Gruppe von Praktikerinnen aus Madaba und Amman in Jordanien kam im Rahmen des Workshops das erste Mal in Kontakt mit dem Kamishibai und der Konzeption des Philosophierens mit Kindern. Eine Gruppe entwickelte den Beginn einer Geschichte von Kindern, die gemeinsam im Park spielen. Ein Kind, das einen Rollstuhl benutzt, kommt hinzu und kann aufgrund seiner körperlichen Behinderung nicht direkt mitspielen. Die Idee der Pädagoginnen war, dass die Geschichte den Kindern keine Lösung des Problems vorgeben soll. Diese sollten die Kinder selbst entwickeln und sich ein entsprechendes Ende für die Geschichte einfallen lassen.
Am zweiten Tag kamen drei Kindergruppen im Alter von circa sechs bis acht Jahren aus der staatlichen Grundschule Umamah Bint Abi Al-Aas an den Universitätscampus. Im ersten Schritt wurde den Kindern die Geschichte mit ihrem Anfang und dem Problemaufriss kurz vorgestellt. Dann bekamen die Kinder Papier, Stifte und Zeit, um in Zweiergruppen mögliche Lösungen zu erarbeiten. Die Kinder waren, obwohl sie sich zum ersten Mal an der Universität befanden, sehr aufgeschlossen und engagiert. Nach dem Malen hängten sie die Bilder an eine Stellwand und stellten ihre Enden für die Geschichte vor. Hier stand noch einmal der Austausch von Emotionen im Mittelpunkt und wie die Kinder sich in Bezug auf das Problem des Kindes und in Bezug auf die eigene Lösung fühlten.
Inhaltlich konzentrierte sich die Geschichte auf die Themen Inklusion, Spiel und Partizipation. Die meisten Kinder kannten noch keinen Rollstuhl. So mussten die Erwachsenen zu Beginn erklären, wofür man diesen benutzt und warum das Kind nicht einfach aufstehen und mitspielen kann. Die Hauptfrage an die Kinder war, ob und wie man diese Figur einbeziehen kann. Sie sollten dem Kind im Rollstuhl einen Namen geben und sich vorstellen, wie sie selbst in der Situation reagieren würden.
Ghaith und Obada, sieben Jahre alt, wollen „Ahmad" eine Schaukel bauen, damit er mit ihnen spielen kann. Obada erklärte: „Wir wollen mit ihm spielen können, also werden wir ihm eine Schaukel bauen" (Abb. 1, S. 16).
Balqees und Hala, ebenfalls sieben Jahre alt, bauten „Ahmad" ein Trampolin mit Griffen, damit er darauf spielen konnte (Abb. 2, S. 17).
Aws und Aws, sieben Jahre alt, beschlossen, mit „Koko" Basketball zu spielen, weil er da gut mitspielen könne. Zwei Gruppen entwickelten Ideen, wie sie gemeinsam das Spiel „Ali Wati“ spielen könnten (Abb. 3, S. 18). Dabei handelt es sich um ein jordanisches Volksspiel, das man normalerweise auf der Straße spielt und das mit „Hoch-Runter“ übersetzt werden kann. Es gibt einen Fänger, der jede Person auf dem Boden fangen kann. Um nicht gefangen zu werden, muss man sich auf einer erhöhten Plattform, also auf einem Baum, Tisch, Stuhl, Stufe oder Ähnlichem aufhalten und alle zehn Sekunden seinen Platz wechseln.
Basem und Abdullah malten sich bei diesem Spiel. Eines der Kinder auf ihrem Bild schiebt Kokos Rollstuhl.
Turki und Hamad beschlossen, Koko eine Rampe zu bauen, damit er mit ihnen Ali Wati spielen könne. Turki sagte: „Ich spiele gerne Ali Wati mit meinen Freunden, und ich möchte, dass Koko auch mitspielen kann.“
Inhaltlich entwickelten die Kinder hier drei verschiedene Lösungsmöglichkeiten, die zeigen, dass sie die Problematik verstanden haben, sich gut in die Perspektive des Kindes im Rollstuhl hineinversetzen können und es moralisch vertreten, das Kind zu integrieren. Ihre Ideen zur Umsetzung:
Die Umgebung muss so angepasst werden, dass das Kind im Rollstuhl mitspielen kann (Bau einer Schaukel, Bau einer Rampe).
Das Spiel selbst kann an die Situation und Bedürfnisse der Person angepasst werden: Wir spielen dann Basketball, Hoch-Runter, können auf einem Trampolin mit Griffen spielen.
Ein Kind kann demjenigen im Rollstuhl helfen, am Spiel teilzunehmen, indem es ihn an den richtigen Ort schiebt.
Indem die Kinder ihre Version der Geschichte präsentieren, stärken sie ihr Selbstwertgefühl. Vertrauensbildende Aktivitäten im Voraus können den Prozess zusätzlich unterstützen. Der Interpretationsspielraum, den der Anfang der Geschichte lässt, sorgt für individuelle Lösungsansätze der Kinder. Sie waren sehr motiviert, selbst aktiv zu werden und sich einen eigenen Schluss auszudenken, der gut an die ersten drei vorgestellten Bilder anknüpft. Ein Mädchen mit syrischem Fluchthintergrund, das laut Betreuerinnen im Klassenraum noch nie ein Wort gesprochen hatte, erzählte ausführlich von seiner entwickelten Geschichte. Die jordanischen Betreuerinnen waren sprachlos, weil sie das seit zwei Jahren in Jordanien lebende Kind noch nie hatten sprechen hören. Geschichten erzählen und philosophieren bieten in Kombination eine Chance, partizipativ mit Kindern zu arbeiten. Die ersten Erfahrungen des Workshops zeigen, dass die Kinder durch die kombinierten Methoden besonders empathisch, lösungsorientiert, kreativ und selbstbewusst handelten. Die Nutzung des Kamishibai nach klassischem Vorleseprinzip bietet im Vergleich dazu nur wenig denkanregendes Potenzial. Die besondere Chance liegt nach unserer Erfahrung in Madaba darin, die Kinder durch die Problemstellung anzuregen, intensiv nach eigenen Lösungen zu suchen und diese dann auch für andere nachvollziehbar vorzustellen. Die Arbeitsformen Bilder zu betrachten, zu malen, zu interpretieren und vorzustellen, unterstützen dabei kreative Zugänge. Das Gefühl, nicht mitspielen zu können, war für die Kinder lebensweltnah genug, um das mitfühlend-empathische Denken zu aktivieren.
Damit bietet das Angebot ein besonderes Potenzial für die Unterstützung verschiedener Denkfähigkeiten, und zwar auch schon durchaus für jüngere Kinder im Elementaralter ab ungefähr vier Jahren. Darüber hinaus ermöglicht diese Methode den Pädagog:innen, komplexe gesellschaftliche Themen wie den Umgang mit Behinderungen kritisch und auf partizipative Weise mit den Kindern gemeinsam zu erarbeiten. Eine Erprobung im deutschsprachigen Raum soll sich bald anschließen und auch eine empirische Erhebung zur Umsetzung mit Kindern verschiedener Altersgruppen ist wünschenswert.
Katrin Alt, Professorin für Kindheitspädagogik an der HAW Hamburg, Deutschland.
Muna Bata, Architektin und Leiterin einer Initiative für Kinderspiel in Amman, Jordanien.