- Shop
- Ökotopia
- Akademie
- Klett Kita Welt
- Jobbörse
- Schnäppchenecke
Dienstag um halb elf, es regnet und Mara und Sergio, beide fast fünf Jahre alt, wenden sich an ihre Erzieherin: „Sonja, wir müssen jetzt unbedingt in den Bewegungsraum und richtig toben.“ Blitzschnell geht Sonja durch den Kopf, dass der Bewegungsraum in Corona-Zeiten von der Vorschulgruppe genutzt wird und die Kinder verschiedener Gruppen nicht mischen sollen. Außerdem ist keine zweite Fachkraft da, die die Aufsicht übernehmen könnte. Was soll sie den Kindern nun antworten?
Mara und Sergio haben ihren Wunsch nach Bewegung erkannt und wissen, dass es im Gruppenraum dafür keinen Platz gibt. Sie sprechen ihr Bedürfnis aus und haben damit schon einen großen Schritt getan: Ihre Perspektive und ihren Wunsch geäußert. In dieser Kita hat das Team schon zum Thema Kinderrechte gearbeitet und auch die Kinder über ihre Rechte informiert. Aber nun gelten andere Regeln, die Pandemie erfordert ein neues Raumkonzept und strenge Hygienemaßnahmen. Wie passt das zusammen?
Partizipation, auch das hat das Kita-Team schon erarbeitet, bedeutet, den Kindern Beteiligung an allen Prozessen zu ermöglichen, die sie als einzelne und in ihren Bezugsgruppen betreffen. Alltägliche Situationen werden so gestaltet, dass die Kinder möglichst selbstständig agieren können. Kinder wollen und sollen sich selbstwirksam fühlen und so in ihrer Persönlichkeitsentwicklung wachsen. Eigentlich können die Kinder in der Freispielzeit den Raum frei wählen, in dem sie aktiv sein möchten. Aber nun gelten Corona-Regeln.
Besonders in solchen, auf den ersten Blick unlösbaren Situationen können, wir uns selbst entlasten: Wir sind alle Lernende in Sachen Partizipation, die Kinder genauso wie die Fachkräfte. Es gibt keine Patentrezepte. Beteiligung und Mitbestimmung entstehen im gemeinsamen Aushandeln und Vereinbaren von Lösungen. Erzieherin Sonja kann sich in dieser Situation entweder überfordert fühlen oder sich dieser herausfordernden Situation forschend nähern. Zuerst einmal ist es wichtig, dass sie den Kindern antwortet. Dabei zeigt sie, dass sie den Wunsch der Kinder gehört hat. Und gleichzeitig macht sie deutlich, dass sie nicht so genau weiß, wo die Kinder in diesem Moment richtig toben können. Sie ist achtsam den Bedürfnissen und Rechten der Kinder gegenüber, aber auch achtsam sich selbst gegenüber: Sie sieht die Schwierigkeiten, aber entscheidet nicht sofort. Vielleicht lag ihr die Bemerkung schon auf der Zunge: „Nein, das wisst ihr doch, das geht nicht wegen Corona!“ Doch sie hat innegehalten.
Sonja fragt sich:
Diese Fragen eignen sich zur direkten Besprechung mit den Kindern. Sonja sind die fünf Stufen der Partizipation bekannt, die das pädagogische Handeln in der Kita leiten sollen. Sie geht diese Stufen innerlich ab:
In der Situation von Sergio und Mara fragt sich Sonja zuerst, ob den Kindern die Regelung, dass die Funktionsräume als Gruppenräume genutzt werden und die Gruppen sich nicht mischen dürfen, bekannt ist? Sergio ist erst seit einer Woche wieder in der Kita, also erläutert sie die neue Regelung. Sergio reagiert: „Das geht doch nicht, wir waren sonst immer im Bewegungsraum! Woanders dürfen wir ja nicht toben.“ Erzieherin Sonja hört ihm zu und bestätigt, dass der Bewegungsraum vorher für alle Kinder frei zugänglich gewesen sei und das nach Corona auch wieder so sein wird. Im Moment können die Kinder stattdessen draußen toben. Aber es regnet gerade. Da schlägt Mara vor: „Wir ziehen unsere Regensachen und Gummistiefel an, dann können wir rausgehen.“
Sonja ist wieder mit dem Problem konfrontiert, dass sie zurzeit allein in der Gruppe arbeitet, weil ihr Kollege Ayhan in der Krippe eine Kollegin vertritt. Ihr ist klar, dass sie die Aufsicht draußen nicht gewährleisten kann. Das erklärt sie den Kindern: „Ihr meint, dass ihr in euren Regensachen draußen spielen wollt? Dann brauchen wir jemanden von den Erwachsenen, der mitgeht.“ Dafür hat Mara schnell eine Lösung: „Du kannst doch mitkommen. Wir fragen einfach die anderen Kinder, ob sie auch rausgehen wollen.“ So entwickeln die Kinder gemeinsam mit Sonja Ideen, wie ihr Bedürfnis nach Bewegung erfüllt werden kann. Gemeinsam rufen sie die Kinder der Gruppe zusammen und machen den Vorschlag, in Regensachen rauszugehen. Nicht alle Kinder wollen rausgehen, aber alle haben Lust auf Bewegung. Am Ende finden sie den Kompromiss, bis zum Mittagessen gemeinsam Bewegungsspiele auf dem freigeräumten Bauteppich zu spielen. Und gleich nach dem Essen alle nach draußen zu gehen – falls es immer noch regnet in Regensachen. Den Kindern, die nicht toben wollen, wird Sonja im Garten unter dem Sonnensegel eine Geschichte vorlesen.
Sonja fühlte sich anfangs in ihren Handlungsmöglichkeiten stark eingeschränkt. Anscheinend gab es keinen Raum und kein Personal, um dem Bewegungswunsch der Kinder nachzukommen. Dadurch fühlte sie sich unter Druck, den Wunsch abzulehnen. Stattdessen hat sie innegehalten, denn beim Bearbeiten der Partizipationsstufen und Kinderrechte im Team war ihr wichtig geworden, möglichst allen Kindern gerecht zu werden. Sie hat sich
vorgenommen, seltener machtvoll zu handeln. Also eröffnet sie durch das Informieren und Anhören der Kinder das Gespräch und gibt Raum für Lösungsvorschläge. Die Kinder bestimmen mit und entscheiden als Gruppe. Auch die Kinder, die andere Bedürfnisse äußern, erhalten die Möglichkeit, sich für etwas anderes zu entscheiden.
Für Sonja war diese Entscheidung, mit den Kindern gemeinsam Lösungen zu finden, eine echte Erleichterung. Diese gemeinsame Suche nach Handlungsalternativen war für alle eine gute Erfahrung, ganz anders als das Zurückweisen des Bedürfnisses nach Bewegung und das Vertrösten auf Zeiten nach Corona es gewesen wäre. Unsere Aufgaben als pädagogische Fachkraft bringen Macht und Verantwortung mit sich. Diese mit den Kindern zu teilen, entlastet uns selbst und hilft achtsam mit uns selbst und den Kindern zu sein. Nach dem Mittagessen freute Sonja sich, wie die Kinder begeistert, kreativ und ausgelassen in den Pfützen spielten. Die Zeit bis zum Abholen verging wie im Flug. Und den Eltern berichtete sie, wie selbstständig die Kinder ihre Regensachen angezogen und wie sehr sie das Toben genossen hatten. Bewegung tut gerade jetzt besonders gut.
Susanne Kühn ist freiberufliche Fortbildungsreferentin und Coach. Ihre Schwerpunkte sind Sprache, Mehrsprachigkeit, Zusammenarbeit mit Familien und Kommunikation. Sie lebt in Schleswig-Holstein.
Amna Janne Akeela ist Diplom-Pädagogin und war viele Jahre Kita-Leiterin in Hamburg. Jetzt arbeitet sie als Fachberaterin in den Bundesprogrammen „Sprach-Kitas“ und „Kita-Einstieg“, als freie Fortbildungsreferentin sowie als Prozessbegleiterin für „Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung“.
Klein, Lothar (2001): Mit Kindern Regeln finden. In: Kindergarten heute. Heft 3/2001. Seite 26-30. Publiziert auch in: Das Kita-Handbuch. Herausgegeben von Martin R. Textor und Antje Bostelmann.
https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/gruppenleitung-erzieherin-kind-beziehung-partizipation/mitbestimmung-der-kinder-partizipation/441
Wunderlich-Knietsch, Carola (2020), Perspektiven der Normalität in der Pandemie. Nifbe: https://www.nifbe.de/fachbeitraege/zuletzt-erstellt?view=item&id=959:perspektiven-der-normalitaet-in-der-pandemie&catid=336
Tools und Materialien: Haus Neuland https://www.partizipation-kita.de/infothek/methoden-und-praxistipps
Video: Partizipation in der Kita - Wie geht das im Alltag? Von Christel von Dieken https://www.youtube.com/watch?v=vhK0tDaW_bc
Kostenloser Online-Kurs: „Mitentscheiden und Mithandeln in der Kita“: https://www.oncampus.de/weiterbildung/moocs/kita
Ihnen hat der Artikel "Achtsamkeit für Kinderrechte – und für uns selbst!" gefallen? Weitere Tipps, Wissenswertes und Ideen finden Sie in unserer Fachzeitschrift TPS. Hier bestellen!