Eine große Einrichtung – Krippe, Kita und Hort – wandte sich mit einer Beratungsanfrage an mich und mein Team. „Seit über fünfzehn Jahren kommen Zweijährige in unsere Einrichtung“, stand in der Anfrage. „Seit einigen Monaten nehmen wir auch einige einjährige Kinder auf, was von Anfang an – vor allem wegen einer bewusst sensiblen, auf das individuelle Kind abgestimmten Eingewöhnung – überraschend gut geklappt hat. Doch bald wurden wir mit einem Problem konfrontiert, mit dem wir nicht gerechnet hatten und auf das wir deshalb auch nicht vorbereitet waren: Unser gemeinsames Mittagessen um 11:45 Uhr, bislang ein genussvolles und gemütliches Ereignis mit vielen Gesprächen und freudigen Gemeinschaftsszenen, wurde mehr und mehr zu einem Chaos. Bei unseren Zwei- und Dreijährigen hatte es mit dieser Essenszeit nie Probleme gegeben. Doch jetzt mussten wir feststellen, dass das Mittagessen selbst und die nachfolgende Übergangsbegleitung zum Mittagsschlaf für die jüngeren und der Wechsel zur Siesta-Zeit für die älteren Kinder mit den drei Einjährigen keineswegs mehr so problemlos ablief, wie wir es gewohnt waren und wir es uns für uns und die Kinder gewünscht hätten.“
Reflexion im Team
Wir haben den Beratungsauftrag angenommen. Erst durch unsere gemeinsamen Überlegungen mit dem Gesamtteam wurde deutlich, dass der besondere Schlafrhythmus der Jüngsten, nämlich deren zeitlich frühere Müdigkeit, bislang nicht genügend im Blick der Fachkräfte war und deshalb bei allen Planungen noch zu wenig berücksichtigt worden war.
Eines war den Fachkräften schnell klar: Sie mussten ihren Tagesablauf differenziert verändern, wenn sie zu einer für alle Altersgruppen passenden Lösung kommen wollten. Der erste Reflexionsschritt: Veränderung der Mittagsessenssituation für die Jüngsten. Deren Mittagessen – bislang um 11:45 Uhr – wurde nun um fünfzehn Minuten auf 11:30 Uhr vorverlegt. Schon in den ersten Probetagen zeigte sich, dass die zu diesem Zeitpunkt noch munteren jungen Kinder mit mehr Freude am Essen teilnahmen und sich mit zunehmender Geschicklichkeit weitgehend selbst versorgen wollten und konnten. Gesättigt und noch nicht zu müde gelang das Zu-Bett-Bringen ohne Aufregung und Irritation, sodass die Kinder schnell und problemlos einschliefen.
Durch diese zeitliche Entzerrung wurden auch wieder mehr Tischgespräche bei der Mahlzeitenbegleitung der größeren Kinder möglich. Auch die Rückmeldung der Hortkinder war eindeutig: Das gemeinsame Essen ist richtig gut geworden, denn jetzt können wir uns beim Essen austauschen, was wir später machen wollen, und so schon die Zeit nach den Hausaufgaben planen. Die Fachkräfte der Jüngsten berichteten nach einigen Wochen, dass es ihnen inzwischen im Gesamtteam gelinge, sich unkompliziert abzusprechen, wenn sie etwa den Eindruck hätten, dass es heute einem zwei- oder gerade dreijährigen Kind auch guttäte, am früheren Essen der Krippenkinder teilzunehmen. Diese Beobachtungen und die nachfolgende gemeinsame Reflexion im Gesamtteam trugen nicht nur zu einer besser angepassten Essenssituation für die Kleinen, sondern auch zu einer angenehmeren Siesta-Situation der größeren Kinder bei.
Dieses Beispiel zeigt, dass eine beobachtungsbasierte und reflektierte Begleitung mit Blick auf die Krippenkinder nicht nur machbar ist, sondern eine lohnende und wichtige Erfahrung darstellt.
Reflexion mit den Kindern
Reflexion ist eine besondere Art des sich Austauschens und Nachdenkens mit sich selbst und mit anderen. Reflexion kann und sollte aber auch gemeinsam in einer Kindergruppe passieren, die ein zu überdenkendes Thema ebenfalls interessant und wichtig findet. Mit großem Erstaunen reagieren Kinder anfangs darauf, wenn sie feststellen, dass viele Kinder ähnliche Gedanken haben, aber ihre Mitdiskutanten auch auf ganz andere Ideen als sie kommen können. Das ist eine wichtige Erkenntnis für Kinder: Selbst wenn alle auf den gleichen Vorgang schauen, kann ich ganz andere Schlüsse daraus ziehen und ganz andere Erwartungen haben als andere Kinder, sogar als meine beste Freundin. Das ist ein reflexives Aha-Erlebnis.
Zwei Beispiele aus dem Alltag zeigen, dass es vielfältige Situationen gibt, in denen mit den Kindern gemeinsam reflektiert werden kann:
Schönes Wetter, viele Bienen: „Kinder! Heute ist so tolles Wetter, heute bleiben wir den ganzen Tag draußen. Wir essen sogar das Mittagessen im Garten!“ Das ist eine Ansage, die viele Kinder begeistern wird. Einigen wird sie jedoch vor Augen führen, dass es dort lästige Bienen geben kann, auf deren Gift sie allergisch reagieren. Anderen wird unbehaglich zumute, weil sie den ganzen Tag draußen sein sollen, die Werkstätten geschlossen sind und ein genussvoller Rückzug ins Atelier nicht möglich ist. Vorab aber gemeinsam zu überlegen, wie man mit diesen Situationen umgehen kann, könnte die Probleme lösen und auch diese Kinder motivieren, mit einem guten Gefühl nach draußen zu gehen.
Streit auf dem Bauplatz: Es gibt Tage, die sind irgendwie anders. Drei Jungen sind im Baubereich aneinandergeraten. „Lasst uns zusammen überlegen, warum es heute im Baubereich zwischen den großen Kindern, unseren Fünf- und Sechsjährigen, nicht so gut geklappt hat. Gestern lief doch noch alles rund und tolle Gebäude sind entstanden, obwohl viele Mädchen und Jungen auf dem Bauplatz zusammen gespielt haben und – weil es so eng war – viel Rücksicht aufeinander nehmen mussten.“ Die Fachkraft geht mit den Kindern ins Gespräch. Sie bespricht mit ihnen die folgenden Fragen: „Was könnte der Grund für den heutigen Streit gewesen sein? Warum war die Konkurrenz zwischen unseren drei Bauspezialisten gerade heute wieder so groß, dass es eigentlich die ganze Zeit weit mehr um einen Wettkampf zwischen Rivalen als um ein wirklich tolles gemeinsam erstelltes Bauwerk ging?“
Diese Fragen sind eine Chance, um mit den Kindern zusammen ins Reflektieren zu kommen. Ganz wichtig ist hierbei, dass keinem der Kinder bereits vor Gesprächsbeginn ein Vorwurf zu dem „offensichtlich nicht gut gelaufenen Spiel“ gemacht wurde.
Irgendwas war anders – nur was?
Am besten sollten zuerst ausschließlich die beobachteten Fakten benannt werden, über die man in Ruhe zuerst allein nachdenken und dann gemeinsam reflektieren kann. Jeder Streit zeigt, wie wichtig achtsame Beobachtungen sind. Aber erst die Reflexion über das Beobachtete kann Schritt für Schritt für mehr Klarheit sorgen und so eventuelle Störfaktoren erkennen lassen. Warum lief es heute nicht so gut bei uns? Was war los? „Wir haben doch eigentlich gar nichts anders als sonst gemacht!“ ist eine in solchen Situationen häufig von Kindern zu hörende Aussage. Eigentlich ein Hinweis, nichts verändert zu haben. Und dennoch – also ohne bewusstes Zutun – ist es heute schiefgegangen. Niemand will die Schuld daran haben. Aber irgendetwas muss anders gewesen sein. Vielleicht hat jemand ein anderes Kind beim Spiel beeinträchtigt oder gestört. Das könnte zu Reaktionen geführt haben, die schließlich die Gesamtstimmung beeinflusst haben.
Um den Gründen für einen konfliktreichen Ablauf oder für nicht erwartete Streitereien auf die Spur zu kommen, lohnt es sich immer, sich Schritt für Schritt – möglichst zusammen mit den Kindern – den Hergang des Geschehens nochmals vor Augen zu führen.
Eine derartige Reflexion kann erfreulich oft und schnell zeigen,
- dass wir heute offensichtlich etwas Wichtiges übersehen haben;
- warum schon bei Spielbeginn keine entspannte Stimmung geherrscht hat, weil vielleicht die Vorgeschichte noch nicht für alle Kinder geklärt war und deshalb noch auf das neue Spiel Einfluss genommen hat;
- ob der unkomplizierte Spielverlauf gestern einfach bessere Voraussetzungen hatte, auf die wir auch heute hätten achten müssen.
Es ist professionell und wichtig, dass in Einrichtungen mehrheitlich reflektiert wird, was und warum etwas nicht klappt oder womöglich immer noch nicht klappt. Oder was mal wieder vergessen wurde, dringend nachgeholt oder möglichst bald verändert werden müsste.
Reflexion des Erfolgs
Beim Nachdenken muss den Fachkräften bewusst werden, dass es mindestens genauso wichtig ist, detailliert darüber nachzudenken, was genau das Spiel heute so toll gemacht hat. Was könnte zum hohen Engagement der Kinder beigetragen haben? Denn diese Reflexionsthemen sind erfolgsmotiviert, können sogar teamvernetzend wirken, wenn man sich vor Augen führt – gemeinsam reflektiert –, wer alles durch seine Gedanken und sein Zutun zum Erfolg beigetragen hat. Schauen wir auf ein Beispiel aus einer Wiener Einrichtung.
Ein unbeschreiblich guter Hortnachmittag: Nach einem tollen Tag spricht die Fachkraft am folgenden Tag mit den Kindern: „Warum hatten wir alle gestern einen so unbeschreiblich guten Tag zusammen? Lasst uns überlegen: Wenn ich mich recht erinnere, gab es nur ganz wenige Streits, die ihr alle allein untereinander lösen konntet, und – soweit ich mich entsinne – gab es keinen einzigen richtigen Krach, bei dem ihr meine Hilfe gebraucht hättet.“
Ein Elfjähriger fragt: „Warum lief alles so einfach? Das will ich jetzt mal wissen.“ Er wendet sich an den Horterzieher: „Franz, erklär uns das! Das ist doch nicht immer so bei uns!“ Franz überlegt und sagt: „Ja, euer Verhalten untereinander ist mir gestern auch aufgefallen. Es könnte daran liegen, dass eine richtig gute Stimmung war und überall wirklich spannende, innovative Dinge passiert sind. Ich muss schon sagen, ihr hattet echt tolle Ideen. Irgendwie hat alles gut zusammengepasst … Moment, fast hätte ich etwas Wichtiges vergessen! Mir ist aufgefallen, dass ihr bei allen Planungen Rücksicht aufeinander genommen und es zu keinem Streit kam.“
Die Hortkinder hören aufmerksam zu und sind sich schnell einig: „Es klappte gestern alles so besonders gut, weil wir alle Lust hatten, miteinander etwas Richtiges mit Echtzeug zu machen“, war die alle Kinder überzeugende und die Erwachsenen nicht überraschende Antwort einer Sechsjährigen in der Abschiedsrunde am Abend. Unerwartet positive Ergebnisse – vor allem nach aggressiven Auseinandersetzungen – sollten immer reflektiert werden und der Rede wert sein!
Die üblichen Verdächtigen
Der Kinder- und Jugendpsychiater Peter Riedesser wies in seinen Vorlesungen immer darauf hin, dass es sich schon für Kita-Teams lohnt, über lauten Krach und seine Gründe nachzudenken – vor allem, wenn immer dieselben Kinder darin verwickelt sind, unabhängig davon, wo und wann sie sich gerade treffen. Gerade über diese herausfordernden Begegnungen zwischen Kindern muss von Erwachsenenseite differenziert nachgedacht werden.
Reflexionen mit Teams zeigen deutlich, dass besonders auf die Auseinandersetzungen zwischen den „üblichen Verdächtigen“ Erwachsene schnell genervt reagieren, weil sie schon damit gerechnet haben sowie Kontrollverlust und ein erhöhtes Verletzungsrisiko befürchten mussten. Aber selbst in den körperlich abgebremsten Reaktionen, den leisen Zwischenfällen, sollten Fachkräfte am Ball bleiben, da Wut schnell eskaliert. Auch hierzu ein Beispiel aus dem Alltag:
Die Kämpfe von Raul und Yusuf: Was steckt wirklich dahinter, wenn Raul und Yusuf miteinander kämpfen, was sie häufig tun. Es lohnt sich, im Gesamtteam immer mal wieder Einzelsituationen zu analysieren. Einigkeit besteht darüber, dass Raul und Yusuf sich wirklich füreinander interessieren. Und dennoch vergeht kein Tag, an dem die beiden Jungen nicht mehr oder weniger heftig klären müssen, wer heute welchen Platz in der Rangordnung der Gruppe innehat.
Was muss ein Team in diesen Situationen im Blick haben und bedenken, um zu einer guten Lösung zu kommen? Wäre auch eine Reflexion über die den beiden Jungen offensichtlich nötig erscheinende Grenzüberschreitung wichtig? Beobachtungen zeigen, dass diese kurzen aber heftig wirkenden „Hahnenkämpfe“, ein ausnahmsweise mal akzeptiertes Verhalten, wirklich klärend wirken können. Sie sind deshalb für Kinder wie Raul und Yusuf wie auch für die ganze Spielgruppe wichtig, um trotz bestehender Rivalität zwischen den beiden Jungen dennoch genug Positives miteinander erleben zu können. „Habt ihr euer Problem für heute klären können? Könnt und wollt ihr noch gemeinsam weiterspielen? Oder braucht ihr vielleicht eine Idee von uns, wie es klappen könnte?“
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