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Wie lange willst du noch arbeiten? Spätestens mit sechzig hören wir diese Frage mindestens einmal pro Monat. Dreht es sich jetzt nur noch darum, wie lange das Arbeitsleben noch dauert? Wollen wir nach der ersten Möglichkeit, in Rente zu gehen, weiter im Job bleiben, hören wir fast vorwurfsvoll: Wie lange willst du dir das noch antun? Die meisten von uns wollen nicht vorgeschrieben bekommen, was sie in den letzten Berufsjahren zu tun haben, und auf ein bestimmtes Altersmodell festgelegt werden, wie es die Psychotherapeutin Verena Kast ausdrückt. Wir wollen selbst entscheiden, was uns in dieser Zeit motiviert, um weiterzumachen oder vielleicht ganz neue oder veränderte Wege einzuschlagen. Für manche von uns beginnt auch nicht erst mit sechzig das große Aufwachen und das Dem-Ende-Entgegenblicken. Wir haben uns stattdessen schon immer auf Abschiede und Wandlungen eingelassen.
Ab fünfzig, spätestens sechzig verkürzt sich unser Zeithorizont. Wir sehen, wie viel Zeit uns noch im Arbeitsleben bleibt, und wir beschäftigen uns vielleicht noch bewusster damit, wie wir diese Zeit verbringen können, damit sie sinnerfüllt ausgestattet ist. „Diese Veränderung“, schreibt Verena Kast, „erinnert an die Theorie des Individuationsprozesses, den C. G. Jung beschrieben hat. Jung war der Ansicht, dass in der Mitte des Lebens vermehrt Depressionen auftreten, und dass hinter diesen Depressionen Leben verborgen sei, das auch gelebt werden könnte – das bis jetzt ausgespart worden sei. Er versuchte nachzuweisen, dass nach der Mitte des Lebens die innere Welt wichtiger wird, mehr belebt wird, und damit auch die Frage nach dem Sinn.“
Worum soll es ab fünfzig in unserem Arbeitsleben verstärkt gehen? Wir nehmen den Beruf mit neuem Blick wahr, weil wir mehr Erfahrungen haben und uns stabile Kompetenzen aneignen konnten. Weil die Arbeitszeit dem Ende entgegengeht, suchen wir nach emotional bedeutenden Inhalten und pflegen diese im Berufsalltag. „Viele verschiedene Forscher“, schreibt Verena Kast, „scheinen sich also darin einig zu sein, dass sich mit dem Altern auch etwas eher Überraschendes einstellt, dass eine Harmonisierung, Bereicherung und Belebung des emotionalen Lebens erfahrbar ist, was zu mehr Wohlbefinden führt, trotz aller Schläge, die beim Altern ja auch einzustecken sind.“
Auch für ältere Fachkräfte stehen die Chancen auf dem Arbeitsmarkt gut, und sie werden gebraucht. Teams profitieren von ihrer Berufserfahrung und ihrem Fachwissen ebenso wie von ihrer Gelassenheit, die sie sich durch die vielen Aufs und Abs im Berufsleben erworben haben. Wenn ältere Fachkräfte nicht resigniert haben und auch keinen Starrsinn aufweisen, sind sie eine echte Bereicherung für ein Team, für Kinder und Eltern. Die Psychotherapeutin Kast schreibt: „Flexibilität heißt hier, sich anzupassen an das, was ist, und das, was einem zustößt; mitzugehen mit dem Fluss des Lebens – und dennoch nicht die Form, die eigene Identität zu verlieren. Flexibel meint ursprünglich, biegsam zu sein, um nicht zu zerbrechen, und immer wieder in die alte Form zurückspringen zu können. Mitzugehen mit den Anforderungen des Lebens, sich dabei aber doch nicht zu verlieren, bei sich selbst zu bleiben, ist gefragt. Leben ist im Fluss, die Veränderungen sind viele, besonders wenn wir älter werden.“
Wenn sich Jung und Alt dem lebenslangen Lernen widmen, kann niemand auf das Können und die Erfahrung der Älteren verzichten. Gemeinsame Fort- und Weiterbildungen können das Team bilden und die Teamentwicklung fördern. Ältere Fachkräfte punkten mit jahrelang entwickelten Netzwerken und können die Jüngeren daran teilhaben lassen. Menschen altern heute gesünder als früher, sind länger leistungsfähig und motiviert im Beruf. Die meisten Tageseinrichtungen sind intergenerativ ausgerichtet, da sich alle Generationen um die Kinder kümmern oder zumindest an Festen teilhaben. Es ist schön, wenn Kinder Bezugspersonen unterschiedlichen Alters täglich in der Einrichtung erleben dürfen. Manchen fehlt eine Oma oder ein Opa, und so erfahren Kinder die besondere Qualität der Beziehung mit Älteren dann mit einer Fachkraft.
Es gibt sie – Fachkräfte, die bis zur Rente für ihren Job brennen. Aber ist das immer nötig, um gut zu sein, oder kann man auch damit zufrieden sein, seinen Job ganz okay zu finden und zuverlässig zu verrichten? Und seine Aufmerksamkeit lieber auf scheinbar Nebensächliches zu richten, das einem mit einer achtsamen und gelassenen Haltung im Arbeitsleben begegnet, und auf die stete Anstrengung bis zum Burn-out zu verzichten? Sicher soll niemand eine Arbeit machen, die nicht zu ihr oder ihm passt, die einen nicht immer wieder erfreut oder die man nicht gut beherrscht. Es muss aber auch nicht sein, dass die Arbeit den Lebensinhalt bestimmt und man ein Projekt nach dem anderen voranpeitscht. Wer älter ist, kann mit einer pragmatischen Haltung herangehen: Gemäß den eigenen Fähigkeiten und Interessen arbeiten und ein angemessenes Gehalt erhalten, das der fachlichen und zeitlichen Berufserfahrung entspricht. In diesem Zusammenhang betont der Jurist Volker Kitz, dass sich Arbeitgeber umso mehr davor drücken, über ein der Leistung angemessenes Gehalt zu sprechen, je mehr sie betonen, wie fantastisch der Job ist, für den man unbedingt brennen sollte.
Wer sich jeden Tag zur Arbeit schleppen muss, macht genauso viel falsch wie der, der sich von seiner Arbeit ausbrennen lässt. Ein gelingendes Arbeitsleben ist eine gelingende Balance zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen der anderen. Eine einseitige Ausrichtung macht verletzlich, und wenn wir auf der einen Schiene einmal scheitern, können wir schwer auf neue oder andere Wege ausweichen und dortige Ressourcen nutzen. Deshalb meint die Psychotherapeutin Irmtraud Tarr, dass wir immer auch eine andere sein dürfen. Auf die Frage, wie wir unsere eigene Melodie in unserem Arbeitsleben spielen können, sagt sie: „Ich denke an einen Geiger, der hochbegabten Studenten beigebracht hat, dass sie die Vorlagen zwar studieren, aber dann wieder vergessen und ihre eigenen Melodien daraus basteln sollen. Durch diese Art der Deutung wird das Eigene sichtbar. Wir haben mehr Spielraum, als wir denken, indem wir die Vorlagen interpretieren und Rollen so erfüllen, dass sie zu uns passen. Wir haben das Recht, auch eine andere zu sein. Wir dürfen immer wieder ausscheren. Durch Scheitern sind wir zum Ausscheren gezwungen, aber wir können es auch freiwillig tun, wenn wir feststellen, dass wir einen Teil von uns bislang zu wenig gesehen und zu wenig gelebt haben.“
Es lohnt sich also, wenn wir unseren Lebenssinn auf verschiedene Pfeiler stellen. Wenn wir uns verschiedenen Bereichen – etwa einem Hobby, einem Ehrenamt oder einer Nebentätigkeit – widmen, können wir Verluste und ein Scheitern in einem Bereich erträglicher gestalten. Setzen wir hingegen alles auf eine Karte, können wir natürlich nichts wagen, was diese Sicherheit gefährden könnte.
Schöpferisch sind wir nicht nur, wenn wir ein Produkt entworfen und geschaffen haben. Wir sind es auch, wenn wir mit einer offenen Haltung durch unser Arbeitsleben gehen. „Es ist eine Haltung“, sagt Verena Kast, „die das, was interessiert, neu zu verstehen, zu durchdringen versucht und es in einen Zusammenhang mit Bestehendem bringt, sodass dieses Bestehende aus einer anderen Perspektive gesehen werden kann, sich auch anders anfühlt, also auch anders wird.“ Wenn wir unsere Berufsbiografie aufmerksam verfolgen und in ihr einen Sinnzusammenhang erkennen, sodass sich die verschiedenen Stationen nicht zufällig oder sinnlos aneinanderrei hen, können wir in längerfristiger Übereinstimmung mit unseren Interessen handeln. Die Umgebung, in der wir uns befinden, hat großen Einfluss auf uns. Wir können uns nicht entwickeln, wenn unser Umfeld das nicht zulässt. Wir erleben, um zu verstehen.
Niemand will sich im Laufe der Berufsjahre von etwas Größerem zu etwas Kleinerem hin entwickeln. Werden wir durch nicht fördernde Vorgesetzte oder kleinkarierte Kolleginnen und Kollegen ausgebremst, sollten wir diese Gewohnheiten hinterfragen und nicht die falschen Dinge tun. Manchmal lassen wir uns kleiner machen, um vermeintlich auf der sicheren Seite im Leben zu stehen. Damit verstärken wir aber unsere Ängste und behindern uns selbst. Das Leben will vorwärts gelebt werden, so lautet eine philosophische Weisheit, auch wenn wir es manchmal erst im Rückblick verstehen. Irmtraud Tarr sagt auf die Frage, ob C. G. Jung recht hat, wenn er behauptet, dass wir die meiste Zeit in zu kleinen Schuhen gehen: „Ich gehe mit Nietzsche noch weiter, denn er meinte, dass die Wahrheit hässlich ist und wir das Leben nur mit der Kunst aushalten können. Größere Schuhe bedeuten für mich, die Welt immer wieder mit den Augen eines Künstlers zu sehen. Wir sind nicht die Kette, wir sind ein kleines Glied, wir sind Fragmente. Wir können aber einander die Welt mit Kreativität öffnen und immer wieder mit anderen Augen sehen. Damit sind wir in einer besseren Welt.“
Verena Kast beschreibt das SOK-Modell der beiden Psychologen und Altersforscher Paul Baltes und Margret Baltes, das ein Modell für gelingende Anpassung an Veränderungsprozesse beim Altern darstellt. Demnach meint S die Selektion, mit der wir einige wenige Ziele in uns wichtigen Bereichen auswählen und uns fragen, was uns wirklich wichtig für die Zukunft ist. Das O bedeutet die Optimierung der Ziele und die Zielerreichung. Gute Strategien werden bewusst eingeübt und eingesetzt. K umfasst die Kompensation, wenn wir das überwinden, was das Erreichen unserer Ziele behindert. Letzten Endes kommen wir damit auf die bereits beschriebene Flexibilität zurück, denn wir passen uns an Veränderungen an, ohne uns wichtige Ziele aufzugeben. Wir können aber auch das ein oder andere Ziel loslassen, und manchmal erleben wir mit dieser gelassenen Haltung sogar Überraschendes und Neues. „So können etwa Erwartungen in einem wenig definierten Raum belassen werden, und damit entsteht Freiraum dafür, dass sie erfüllt oder eben nicht erfüllt werden“, schreibt Verena Kast.
Abschiede leben und arbeiten gelingt ab fünfzig oder sechzig Jahren besser, wenn wir flexibel und offen für Wandlungen sind. Es ist eine Frage der steten Vorwärtsbewegung: Wir fragen uns, was wir bei Veränderungen jetzt tun können, und nicht, weshalb sie eingetreten sind. Wir wechseln flexibel die Werkzeuge, wenn übliche Methoden nicht mehr funktionieren oder uns schlichtweg zu viel Energie kosten. Wir wissen, dass Probleme meist nicht dadurch gelöst werden können, dass ein Einzelner recht hat. Wir können das Seil beim Tauziehen loslassen. Wir akzeptieren, dass das Arbeitsleben nicht immer fair ist und Menschen nicht unfehlbar. Wir können immer wieder loslassen und unser Arbeitsleben zurückerobern. Unsere Lebenserfahrung hilft uns, auch mit zeitweise unangenehmen Gedanken und Gefühlen umzugehen. Vor allem unsere Gedanken gehören immer wieder bewusst auf den Prüfstand. Das heißt: Nicht alles glauben, was wir denken. Wir tun trotzdem, was wir wollen. Im Laufe der Berufsjahre haben wir herausgefunden, was funktioniert. Und wir verlieren unsere Angst gleichermaßen, wie wir an Stabilität und Kompetenz gewinnen. Verena Kast meint: Das Erinnern der Vergangenheit und das Sich-Entwerfen auf die Zukunft haben einen inneren Zusammenhang.
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