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Was ist eigentlich eine Familie? Die vermeintliche Antwort auf diese Frage findet sich zum Beispiel im Bertelsmann Kinderlexikon auf Seite 98. Dort heißt es unter dem Punkt Familie: „Eltern mit ihren Kindern bilden eine Familie. Aber auch Großeltern und andere Verwandte werden zur Familie gezählt …“ Was denken Kinder nun aber über Familie, wenn Erwachsene ihnen lexikalische Erklärungen liefern, was nicht gerade selten geschieht? „Wissen ist eine mit Bedeutung versehene Information“, schreibt der Wiener Philosoph Konrad Ließmann in seinem Buch „Die Irrtümer der Wissensgesellschaft“. Wo läge dann die Bedeutung der im Lexikon bereitgestellten Information? Kann das Philosophieren ein Weg sein, Kinder die Bedeutung einer Information erfahren zu lassen, also können sie auf diese Weise wirkliches Wissen erwerben?
Philosophieren bedeutet, den Versuch zu unternehmen, gute Gründe für etwas durch eigenes Nachdenken zu finden. Dabei hilft es, Fragen zu stellen wie: Warum ist das eine eine Familie und das andere nicht? Das Philosophieren leistet zwei wichtige Beiträge. Zum einen bringt es das eigene Vorstellungsleben auf den Begriff, in dem ich mich etwa frage, woran ich überhaupt denke, wenn ich das Wort Familie höre. Auf der anderen Seite bemüht sich das Philosophieren schließlich um eine Begriffsklärung – in diesem Fall: Was ist eigentlich Familie?
Ein Bild aus dem Buch „Frag mich“ von Autorin und Illustratorin Antje Damm bietet im Kindergarten „Die Arche“ in Bad Zwischenahn den Einstieg in eine nachdenklich-philosophische Gesprächsrunde: Die Kinder betrachten dieses Bild aufmerksam und schweigend. „Was seht ihr?“, lautet die Eingangsfrage. Sie zielt auf die Fähigkeit, etwas beobachtend beschreiben zu können, nicht auf eine Deutung. Bei Fortbildungen mit Erwachsenen kommt häufig die spontane Antwort: „Eine Familie.“ In diesem Fall wird gedeutet und gleichzeitig ein anderer, durchaus plausibler Zugang verbaut. Das beobachtende Beschreiben wird übersprungen und somit in seiner Bedeutung für das Erkennen und Verstehen von Welt nicht gewürdigt.
Die Kinder zählen unter anderem auf: „Einen Besen, eine Schildkröte, eine Aktentasche, eine Frau, zwei Kinder, ein braunes Kind, ein Mädchen, ein Junge, eine Uhr, Zöpfe …“ Ich frage nach: „Was könnte das sein, was ihr beschrieben habt?“ Statt der auch von den meisten Leserinnen erwarteten Antwort platzt aus einem Kind die Behauptung heraus: „Die stehen an einer Bushaltestelle und warten auf den Bus!“ Meine Rückfrage „Mit Schildkröte?“ wird einigermaßen verständnislos entgegengenommen, aber dann doch mit einer Antwort bedacht: „Wenn der Bus kommt, nimmt die einfach jemand mit auf seinen Platz.“ Keines der Kinder lacht über die Aussage, ich verkneife mir ein Schmunzeln.
Mit der Frage „Könnte es auch etwas anderes sein?“ wird weiteres Deuten dieses Bildes herausgefordert, ohne mit der Bewertung richtig oder falsch die Kinder in diesem Prozess zu behindern. „Der sieht aus wie mein Papa“, zieht ein Junge einen Vergleich, um sogleich auf einen Unterschied zu verweisen: „Aber der hat keinen Besen in der Hand!“ Jetzt ist ein Damm gebrochen, die Kinder stellen Verbindungen von den abgebildeten Figuren zu ihnen bekannten Menschen her. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, die auf der gegenüberliegenden Buchseite notierte Frage „Wer gehört alles zu deiner Familie?“ ins Spiel zu bringen. Die Kinder üben sich unbewusst in der zentralen Technik des Philosophierens, dem nicht wertenden Vergleichen, und benennen Unterschiede, Ähnlichkeiten sowie Gemeinsamkeiten zwischen ihrer Familie und der abgebildeten Menschenansammlung.
Spannung entsteht, als die Frage aufgeworfen wird, ob die Schildkröte auch zur Familie gehört. Bald erhält die Frage allgemeinen Charakter, nämlich, ob auch Haustiere oder Gegenstände wie ein Fernseher oder ein Computer überhaupt zur Familie gehören. Wenn diese mit in der Wohnung oder im Haus leben, begründen einige Kinder ihre Meinung, wären sie Teil der Familie. Ich greife zum Mittel des Hinterfragens, indem ich die Oma im Pflegeheim erwähne. Da diese nicht mit im Haus oder in der Wohnung lebe, gehöre sie also nicht mit zur Familie? Diese Provokation verfängt nicht. „Die Oma ist mit uns verwandt, die gehört immer zur Familie“, stellt ein Mädchen sofort klar, „egal, wo die wohnt.“
Langsam entwickelt sich so etwas wie ein erster Familienbegriff: Sie gehören alle durch Geburt zusammen, sie wohnen (zunächst) auch an einem Ort und in die Familie kann man – wie etwa ein Haustier – aufgenommen werden. Die Familie kann sich zudem verändern, wie sich an der Aussage eines Kindes ablesen lässt: „Ich habe keinen Papa“, bemerkt ein Kind, „sind wir dann trotzdem eine Familie?“ Die Kinder in der Runde nicken zustimmend. Gedanken zu möglichen Veränderungen in dem, was wir gemeinhin Familie nennen, entwickeln sich vorsichtig. Zur Vertiefung des Gedankenflusses greife ich zu drei eher ungewöhnlichen, irritierenden Texten – der erste über Familiennamen – aus dem Buch „Im Zwölfminutenwald“ des Berliner Autors Franz Zauleck:
„Du hast einen schönen Namen“, sagte der Matrose. „Tilia Cordata.“ „Es ist mein Familienname“, erklärte Roselinde. „Du hast eine Familie?“, fragte der Matrose. „Ja, aber ich kenne sie nicht“, sagte Roselinde. „Dafür habe ich Dörte, Holger und Anton.“
Anhand des dazugehörigen Bildes erkennen die Kinder, dass es sich bei Roselinde Tilia Cordata um einen Baum, genauer, um eine Winterlinde handelt. Die naheliegende Frage brauche ich gar nicht auszusprechen. Einem Kind liegt sie regelrecht auf der Zunge: „Haben Bäume auch Familien?“ Von den Bäumen ist es gedanklich nicht weit zu den Pflanzen insgesamt, und natürlich kommen auch die Tiere wieder ins Spiel. Nachdem die Kinder sehr ausgiebig Pflanzen- und Tierfamilien benannt haben, komme ich mit einer Frage auf die Menschen zurück: „Gibt es auch Menschen, die ihre Familie nicht kennen?“ Ein Junge wirft nur ein Wort in die Runde: „Flüchtlinge“. Ohne diese Worte zu benutzen, beschäftigt sich die Runde mit unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen. Ihre lebhaften Schilderungen, wie Rettungsboote sich durch das Meer kämpfen, Menschen ertrinken, Eltern gar nicht mitfahren und nur ihre Kinder an Bord schicken und ähnliche, letztlich furchtbare Erzählungen verraten einen beachtlichen Medienkonsum – und gelegentlich spiegeln sie auch Erfahrungen aus dem Umfeld der Kinder wider.
„Wie kommen dann diese Menschen zu einer Familie?“, lautet meine nächste Frage. „Haben die auch eine Dörte, einen Holger oder einen Anton?“ Nach kurzem Bedenken entwickeln einige Kinder erste Modelle: „Die wohnen ja nicht allein, wer sich um die kümmert, wird irgendwann wie ihre Mama oder ihr Papa.“ – „Vielleicht finden sie irgendwann eine deutsche Familie, die sie aufnimmt?“ oder „Wenn sie im Kindergarten und in der Schule Freundinnen finden und die immer mit ihnen zusammen sind, ihnen helfen, ihnen was abgeben und so, dann sind die auch bald eine Familie.“ Die letzte Aussage verdeutlicht ungewollt wichtige Merkmale von Familie: Gemeinschaft, Hilfe, Solidarität. Der zweite Text aus oben genanntem Buch führt noch einmal zurück zu Fragen wie: Wer gehört zur Familie? Warum? Wie oder wodurch kann sich eine Familie im Laufe der Zeit verändern?
„Wenn ich einen Papa hätte“, sagte Anton, „könnte Mama auch mal mit dem meckern.“ „Wenn ich eine Mama hätte“, sprach Dörte, „könnte Papa auch mal mit der meckern.“ „Ich habe Mama und Papa“, seufzte Holger, „wenn die meckern, dann nur mit mir.“ „Ich habe drei Eltern“, rief der kleine Lulatsch, „wenn zwei meckern, ist einer für mich da.“
Aus Sicht der Kinder werden hier Familienmodelle mit einem, zwei und drei Elternteilen einander gegenübergestellt. Anton und Dörte wünschen sich für ihre alleinerziehenden Eltern Partner, damit die Kinder entlastet werden. Holger ist unzufrieden damit, dass seine Eltern immer nur über ihn meckern. Dagegen ist der kleine Lulatsch mit seinen drei Elternteilen zufrieden. Bevor die Kinder, die es kaum erwarten können, beginnen, ihre reichen Erfahrungsschätze über innerfamiliären Umgang auszubreiten, erlaube ich mir erneut, eine Textaussage zu hinterfragen: „Wie kann es geschehen, dass der kleine Lulatsch drei Eltern hat? Gibt es oder kennt ihr Familien mit drei Eltern?“ Nachdem diese Frage relativ zügig geklärt wurde, geht es um die anderen möglichen und offensichtlich interessanteren Aspekte des Textes. Die zahlreichen Geschichten der Kinder – insbesondere über das Meckern in den eigenen Familien – münden dennoch in der am Ende von mir eingebrachten Frage, welches Familienmodell bevorzugt werde. Das Ranking fällt ziemlich eindeutig aus: Auf dem ersten Platz steht unangefochten das traditionelle Modell, ihm folgt die Familie mit drei Elternteilen und ganz am Ende landen schließlich die alleinerziehenden Eltern.
Das Fehlen von Mama oder Papa erscheint den meisten Kindern deutlich schwerwiegender als die Dreier-Variante. Die plötzliche Frage eines Kindes „Und wenn ich zwei Mamas oder zwei Papas hätte?“ sorgt zwar für kurzes Erstaunen in der Runde, wird jedoch schnell mit dem Hinweis „Das sind aber auch zwei!“ nicht weiterverfolgt. Bevor die Gesprächsrunde, die mittlerweile fast schon eine ganze Zeitstunde dauert, beendet wird, kommt noch ein weiterer Aspekt von Familie zur Sprache – wiederum eingeleitet mit einem kleinen Text aus dem Buch „Zwölfminutenwald“:
Dörte und Anton hatten einen schönen Drachen. Selbst gebaut, ohne Hilfe. „Er hat nur einen Fehler“, sagt Dörte, „er fliegt nicht.“ Holgers Drachen hatte sein Papa gebaut. „Er fliegt wundervoll“, rief Holger, „aber er sieht langweilig aus.“
Statt selbst zu fragen, ermuntere ich die Kinder, ihrerseits Fragen zu stellen, da das Fragen zu den Basiskompetenzen des Philosophierens gehört. Es dauert ein wenig, bis das Fragenkarussell der Kinder in Gang kommt, doch dann bewegt es sich: „Haben Anton und Dörte keinen Papa? Warum fliegt der Drachen nicht? Warum hilft der Papa nicht? Oder die Mama? Vielleicht haben die ja noch einen großen Bruder, der helfen kann. Oder eine Schwester? Muss der fliegen, wenn er schön aussieht? Warum sieht der langweilig aus? Ich finde, Drachen sehen immer schön aus! Können auch Mamas Drachen bauen?“ In den Äußerungen finden sich Erfahrungen aus der eigenen Familie ebenso wieder wie Versuche, Dinge zu verstehen und zu hinterfragen. Das zeigt sich an Fragen wie: „Können nur Männer Drachen bauen?“ Nebenbei werden die verschiedenen Merkmale von Gegenständen – in diesem Fall Aussehen und Funktionstüchtigkeit – gewichtet. Die Kinder bewerten für sich, welches Merkmal wichtiger ist. Zum Schluss bringt es ein Vorschulkind bei der Frage, wer denn nun entscheide, ob etwas eine Familie sei oder nicht, auf den – vorläufigen – Punkt: „Wenn wir alle glauben, dass wir eine Familie sind, dann sind wir auch eine!“ Die Kinder haben sich auf einem Weg, der mit einem bilddidaktischen Einstieg begann, das Finden guter Gründe für die eigene Meinung einschloss und das eigene Vorstellungsleben auf den Begriff brachte, etwas angeeignet, das wir guten Gewissens als Wissen bezeichnen können – ganz ohne ein Lexikon benutzt zu haben.
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