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Erzieherin Lina kniet mit Luca vor dem Bücherregal. Der Junge ist drei Jahre alt und spricht noch nicht so gern. An Büchern hat er bisher nur wenig Interesse gezeigt. Lina vermutet, dass er Vorlesesituationen von zu Hause nicht kennt. Eben kam Luca auf sie zu mit den Worten: „Lina Buch vorlesen.“ Die junge Frau überlegt, was sie mit dem Jungen lesen soll: ein klassisches Bilderbuch aus Papier oder doch eher ein digitales Exemplar?
Wie Lina geht es vielen Fachkräften. Denn der Markt an digitalen Bilderbüchern wird größer und größer. Doch sind digitale Bilderbücher der analogen Version wirklich vorzuziehen? Eignen sich die auf dem Markt verfügbaren digitalen Bilderbücher überhaupt zur Unterstützung der kindlichen Sprachentwicklung?
Bilderbücher aus Papier gab es schon in der Kindheit unserer Großeltern. Ein digitales Bilderbuch ist heute meist eine App oder ein E-Book und wird auf einem Tablet oder einem anderen digitalen Gerät genutzt. Normalerweise kann man sich die Geschichte anhören und Bilder dazu ansehen – aber das digitale Bilderbuch hat noch mehr zu bieten. Die Bilder sind häufig animiert. So öffnen und schließen sich etwa die Augen einer Eule oder es wird auf einen Protagonisten gezoomt. Fast alle digitalen Bilderbücher spielen außerdem Geräusche oder Hintergrundmusik zur dramaturgischen Untermalung ab. Zusätzlich zu solchen Animationen gibt es interaktive Funktionen, also technische Möglichkeiten, um Kinder in die Geschichte einzubinden. Dazu gehören Hotspots, die man anklicken kann. Auf diese Weise bellt ein Hund, man kann ein Puzzle in der App lösen und vieles mehr. In manchen digitalen Bilderbüchern wird der vorgelesene Text außerdem angezeigt oder sogar während des Vorlesens farblich markiert.
Aus unserer aktuellen Forschung am Staatsinstitut für Frühpädagogik können wir einige Empfehlungen und Hinweise ableiten, was gute digitale Bilderbücher ausmacht, für welche kindlichen Lern- und Entwicklungsziele sich ihr Einsatz anbietet und wie sie genutzt werden sollten. Wenn man weiß, mit welchen Kindern und Zielen man ein Bilderbuch betrachten möchte, ergibt sich meistens sehr schnell, ob sich dafür eher die klassische oder die digitale Version empfiehlt.
Wer digitale Bilderbücher zur Sprachförderung in Kitas einsetzen will, sollte deren multimediale Funktionen genau unter die Lupe nehmen. Je nachdem, wie diese innerhalb des digitalen Bilderbuchs eingesetzt werden, können sie das kindliche Lernen unterstützen oder erschweren. Deshalb sollte man digitale Bilderbücher mit Bedacht aussuchen und sich mit ihnen vertraut machen, bevor man sie gemeinsam mit den Kindern anschaut.
Um den Wortschatz und das Geschichtenverständnis der Kinder zu unterstützen, sollten digitale Funktionen sinnvoll eingebunden sein:
Vorlesefunktion: Diese Funktion bietet Kindern die Möglichkeit, sich die Geschichte durch das digitale Gerät vorlesen zu lassen. Am besten ist es, wenn professionelle Sprecherinnen und Sprecher das Buch eingelesen haben. Kinder lernen neue Wörter besonders gut, wenn sie sich eine Geschichte öfter anhören. Wenn Kinder also den Wunsch haben, immer wieder das gleiche digitale Bilderbuch zu betrachten und anzuhören, so erweitern sie wahrscheinlich gerade ihren Wortschatz. Als Fachkraft unterstützt man die Kinder, wenn man ihnen diese Wiederholung in möglichst ruhigem Umfeld, gern auch mit Kopfhörern, ermöglicht.
Unbewegte und animierte Bilder: Kinder lernen neue Wörter einfacher, wenn die Bilder gut zur Geschichte passen. Und auch die Handlung verstehen sie dadurch besser. Hierin liegt eine Chance digitaler Bilderbücher. Animierte Bilder sind für Kinder so interessant, dass sie sofort dort hinschauen. Ist eine Animation genau auf den vorgelesenen Text abgestimmt, unterstützt sie das Verständnis der Kinder.
Ein Beispiel: In der Bilderbuch-App „Wer hat den Mond gestohlen?“ ist der Protagonist Berti auf der Suche nach dem Mond, weil er ihn nicht sehen kann. Am Ende der Geschichte fragt er die weise Eule um Rat. Berti steht auf dem Boden, die Eule sitzt im Baum. Sie sagt: „Sieh mal in den Himmel. Kannst du die Sterne sehen?“ – „Hm, nein“, sagt Berti. Die Eule spricht weiter: „Das liegt an den Wolken heute Nacht. Wenn es bewölkt ist, sind der Mond und die Sterne verdeckt.“ Passend dazu verschiebt sich das Bild so, als ob man den Blick gen Himmel richtet und erst die Wolken und darüber die Sterne und den Mond sieht. Durch diese stimmige Animation verstehen auch Kinder, die noch Schwierigkeiten mit dem Wortschatz haben, wo der Mond geblieben ist. Wäre stattdessen etwas animiert, das keine Rolle in der Geschichte spielt, etwa ein Maulwurf, der plötzlich neben Berti aus dem Loch schaut, würden die Kinder dorthin schauen. Zum Verstehen der Geschichte würde diese Animation nicht beitragen, sondern die Kinder nur ablenken oder in die Irre führen.
Durch Animationen, die sehr gut zum Text passen, können digitale Bilderbücher also über die Möglichkeiten von analogen Bilderbüchern hinausgehen. Wichtig ist, dass möglichst stimmige Animationen vorkommen, die das Fortschreiten der Geschichte unterstützen.
Interaktive Funktionen: Interaktive Funktionen wie Hotspots, Spiele und Wörterbücher, die gut auf den Inhalt der Geschichte abgestimmt sind, bieten Kindern die Chance, das Erzählte gründlicher zu durchdenken und mit dem eigenen Vorwissen zu verknüpfen. Wörterbuchfunktionen erleichtern das Erlernen schwieriger oder neuer Wörter durch Zusatzinformationen und Erklärungen. Wichtig ist, genau dar auf zu achten, ob vorhandene Funktionen ein Lernziel verfolgen und passend zur Geschichte sind. Nur interaktive Funktionen, die direkt und sinnvoll in die Handlung der Geschichte eingebunden sind, sollten beim Vorlesen nutzbar sein.
Interaktive Funktionen, die unnötig stören, sollten während des Lesens also unbedingt ausschaltbar sein. Nach der Geschichte können Fachkräfte sie zum spielerischen Kennenlernen von digitalen Medien, nicht jedoch zur Sprachförderung nutzen. Digitale Bilderbücher mit vielen unpassenden Funktionen, die nicht abgestellt werden können, sollten Fachkräfte nicht einsetzen.
Text: In vielen digitalen Bilderbüchern kann man sich den Text anzeigen lassen. Besonders hilfreich sind Mitlesemöglichkeiten für Vorschulkinder und Erstleser. Dabei wird der Text während des Hörens fortlaufend markiert – durch mitlaufende farbliche Unterlegungen des Textes, Farbveränderungen, Unterstreichungen oder Ähnliches. Diese Bewegung lädt Kinder ein, den Text zu verfolgen und das gehörte sowie geschriebene Wort miteinander zu verbinden. Genau das ist eine grundlegende Voraussetzung, um Lesen zu lernen.
Geräusche und Musik: Geräusche und Musik haben zwei Funktionen: die Stimmung in einer Geschichte zu vermitteln und die Aufmerksamkeit des Kindes auf bestimmte Dinge, Figuren oder Handlungen zu lenken. Trotzdem sollten Hintergrundgeräusche und Musik wahlweise an- oder ausgeschaltet werden können. Sehr kleine Kinder, solche mit Sprachförderbedarf oder mit Deutsch als Zweitsprache benötigen ihre gesamte Konzentration für die Geschichte. Jedes andere Geräusch, auch Musik, erschwert ihnen das Verstehen, sogar wenn es gut zum Text passt. Das liegt daran, dass die erzählte Geschichte, aber auch Geräusche und Musik, über die Ohren, also den gleichen Wahrnehmungskanal, verarbeitet werden. Deshalb wird alles zusammen schnell zu viel. Hier gilt: Weniger ist mehr.
Beim ersten Lesen oder wenn das digitale Bilderbuch eine sprachliche Herausforderung für die Kinder darstellt, empfiehlt es sich, Hintergrundgeräusche und Musik auszuschalten. Haben die Kinder die Geschichte schon mehrfach gehört und den Inhalt verstanden, kann die Fachkraft zusätzliche Geräusche oder Musik auch einschalten, um die Handlung des Buchs lebendiger und anschaulicher zu gestalten.
Mit digitalen Bilderbüchern lassen sich diverse Sprachbereiche fördern. Um welche handelt es sich dabei genau und welche Entwicklungsziele lassen sich so verfolgen?
Digitale Bilderbücher können auf verschiedene Weise genutzt werden, abhängig vom Lern- und Entwicklungsziel sowie vom Kind oder von der Gruppe. Zur Förderung des Wortschatzes können Kinder einzeln oder mit anderen ein digitales Bilderbuch wiederholt unbegleitet nutzen. Als Fachkraft sollte man darauf achten, dass die Kinder das Buch intensiv und bis zum Ende betrachten. Zusatzfunktionen sowie Musik und Geräusche sollte die Erzieherin zunächst ausschalten.
Wie Bilderbücher aus Papier kann die Fachkraft auch die digitale Version dialogisch mit den Kindern betrachten. Als Erzieherin unterstützt man die Kinder durch Rückfragen und Wiederholungen. So stellt man einen Bezug zur kindlichen Lebenswelt her und regt die Kinder an, eigene Vermutungen über den Verlauf der Geschichte zu äußern. Je nach Kind oder Gruppe und dem Ziel, das man verfolgt, kann man verstärkt darauf achten, neue Wörter einzuführen. Auf diese Weise animiert die Fachkraft die Kinder zum Sprechen oder unterstützt das Verständnis für die Erzählung. Anders als bei der unbegleiteten Nutzung digitaler Bilderbücher stehen Fachkräften hier alle Fördermöglichkeiten offen.
Unbegleitet sollten nicht mehr als zwei, höchstens drei Kinder gemeinsam ein digitales Bilderbuch betrachten. Auch beim begleiteten Lesen sollte man bei einer Kleingruppe von höchstens drei Kindern bleiben. Denn jedes Kind will die interaktiven Funktionen bedienen und muss dazu gut ans Tablet kommen. Alternativ kann man das Buch mit einem Beamer als Vorlesekino an die Wand projizieren. So lässt es sich auch mit einer größeren Gruppe lesen, allerdings ohne interaktive Funktionen. Dazu wählt man die Vorlesefunktion aus oder liest selbst vor.
Zurück zu Lina. Möchte die Erzieherin Lucas Interesse an Büchern wecken und hat Bedenken, dass er am klassischen Bilderbuch schnell die Lust verliert, kann sie ein digitales Bilderbuch aussuchen. Sie sollte darauf achten, dass Animationen und Hotspots zur Geschichte passen und Hintergrundgeräusche anfangs möglichst ausschalten. Da Luca Lina gebeten hat, ihm vorzulesen, und nicht sehr erfahren darin ist, sollte sie ein digitales Bilderbuch auf jeden Fall gemeinsam mit ihm betrachten. Außerdem ist es am besten, wenn Lina selbst vorliest, anstatt die Vorlesefunktion zu wählen. So kann sie sich durch Rückfragen versichern, ob Luca die Handlung versteht. Zudem stärkt sie ihre Beziehung durch ein intensives Leseerlebnis und weckt so bei Luca vielleicht den Wunsch auf eine Wiederholung.
Die meisten digitalen Bilderbücher haben zu viele Animationen und interaktive Funktionen, die nicht auf die Geschichte abgestimmt sind. Aber es geht auch anders: „Der kleine Pirat“ von Kirsten Boie. Bei dieser Bilderbuch-App kann man Vorlesestimmen in vielen verschiedenen Sprachen auswählen. Die App eignet sich deshalb gut für mehrsprachige Kinder. Die Animationen sind thematisch passend. Hotspots können wahlweise hervorgehoben werden oder nicht, um Ablenkungen zu reduzieren. Die Spiele tragen nicht zum Verständnis der Geschichte bei und sollten beim Lesen aus sein. Wenn die thematisch passenden Hintergrundgeräusche die Kinder erst noch überfordern, kann man den Ton des Geräts ausschalten und ihnen selbst vorlesen. Zusätzlich verfügt die App über eine Aufnahmefunktion.
Für iOS-Geräte gibt es E-Books, die über gute Vorlesefunktionen sowie Hotspots verfügen und oft eine Mitlesemöglichkeit für Erstleser anbieten. Beispiele: „Ich hab eine Freundin, die ist Notärztin“, „Kleiner Eisbär - Wohin fährst du Lars?“ oder „Oskar und der sehr hungrige Drache“. Sie werden über die App „Apple Books“ genutzt.
Es gibt Bilderbuchservices wie Polylino oder Onilo, für deren Nutzung Kitas allerdings Lizenzen benötigen. Sie enthalten Hunderte von Bilderbüchern, die jedoch kaum animiert und nicht interaktiv sind. Onilo zeigt die Geschichten als eingelesene sogenannte Boardstorys, die automatisch ablaufen und sich besonders zur Wortschatzarbeit oder als Bilderbuchkino eignen. Polylino nutzt digitale Versionen der Papierbilderbücher mit Vorlesestimmen in einer riesigen Auswahl an Sprachen und eignet sich somit gut zur Unterstützung von Mehrsprachigkeit und Wortschatzerwerb.
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