20.04.2022
Berit Wolter, Vivien Laumann

Allerlei Familie – Mehr als Vater-Mutter-Kind

Die Botschaft, dass manche Familien scheinbar „normaler“ sind als andere, bekommen Kinder nicht nur durch Filme und Werbung vermittelt. Auch in der Kita findet sich oft nur die „Mama-Papa-Kind-Familie“ wieder – angefangen bei Bilderbüchern, aufgehört bei Formularen, auf denen nur „Mutter“ und „Vater“ aufgeführt sind.

Kinder wachsen jedoch in sehr vielfältigen Konstellationen auf. Sie suchen sich ihr Umfeld nicht selbst aus und zweifeln zu Beginn auch nicht an ihrer eigenen, „normalen“ Lebenssituation oder an der von anderen. Es sind die Erwachsenen, die Kindern vermitteln, dass manche Formen des Zusammenlebens „normaler“ seien als andere – nämlich die der „Vater-Mutter-Kind(er)-Familie“.

Diese Botschaft umgibt Kinder überall, beispielsweise in Büchern, Gesprächen, Blicken in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Papa-Mama-Kind-Rollenspielen. Mit der eigenen Familienform gar nicht oder nur in stereotyper Weise vorzukommen, vermittelt eine Abwertung der eigenen Identität. Dabei ist nicht nur die Familienform relevant, auch andere Vielfaltsaspekte wie soziale Herkunft, Religion, Sprache, Behinderung und mehr spielen eine Rolle.

Wenn sich ein Kind nicht sicher sein kann, mit seiner Familie in der Kita willkommen zu sein, kann das zu Loyalitätskonflikten und Selbstzweifeln führen. Für die Kita-Praxis ist es daher nicht von Bedeutung, welche Vor- und Nachteile pädagogische Fachkräfte bezüglich verschiedener Familienformen vermuten. Ihr pädagogischer Auftrag ist es, dazu beizutragen, dass sich alle Kinder zugehörig fühlen und sich ihrem Potenzial entsprechend entwickeln können. Manchmal stehen dem unbeabsichtigt normative Vorannahmen und Strukturen im Weg. Diesen auf die Spur zu kommen, ist gar nicht so einfach. Denn genauso, wie die Kinder heute normative Botschaften lernen, haben auch wir alle solche Glaubenssätze von klein auf verinnerlicht.


Praxisimpuls:

Was können wir tun? – Ideensammlung für Fachkräfte, um vielerlei Familienformen Rechnung zu tragen

  • Schreiben Sie in Formularen „Sorgeberechtigte“ statt „Mutter/Vater“ und lassen Sie Raum für Hauptbezugspersonen ohne Sorgerecht.
  • Sieht ihre Einrichtung Elternmitarbeit vor? Berechnen Sie diese pro Elternteil statt pro Kind, um Einelternfamilien nicht über Gebühr zu belasten.
  •  Fragen Sie bei Aufnahmegesprächen nach, wer die wichtigsten Bezugspersonen des Kindes sind und welche Begriffe diese für sich verwenden. Achten Sie darauf, dass auf Adresslisten, E-Mail-Verteilern etc. alle Hauptbezugspersonen des Kindes vorkommen.
  • Die Teilnahme am Elternabend ist für manche nicht machbar, z. B. für Alleinerziehende. Termine am späten Nachmittag mit Betreuungsangebot sind ggf. inklusiver. Achten Sie auch auf eine Dokumentation des Besprochenen.
  • Feiern Sie Mutter- oder Vatertag? Gibt es gesonderte Angebote wie den „Bautag für Papas“ oder die „Krabbelgruppe für Mamas“? – Feiern Sie lieber ein „Frühlingsfest“. Und: Sowohl „Bautag“ als auch „Krabbelgruppe“ funktionieren auch gut ohne sexistische Zuschreibung.
  •  Laden Sie zu Entwicklungsgesprächen, Kitafesten und Elternabenden explizit sämtliche Hauptbezugspersonen der Kinder ein. Auch Einelternfamilien können gern Menschen ihres Unterstützungssystems mitbringen.
  • Zeigen Sie, dass in Ihrer Einrichtung alle Familien und Nahumfelder der Kinder willkommen sind – etwa durch eine kleine Regenbogenfl agge, ein „All genders welcome“-Aufkleber an der Tür und/oder die konsequente Verwendung des Gendersternchens (*).
  • Er stellen Sie Familienwände (oder auch Familienbilder, -bücher oder -mobiles) mit den Kindern, damit diese sich in der Kita wiederfi nden können. Machen Sie damit deutlich: Familie ist, wer für euch dazugehört.

All das ist Familie!

Kinder wachsen auf …

… bei ihren leiblichen Eltern, in einem oder mehreren Haushalten,

… in Patchworkfamilien, die sich aus Erwachsenen und Kindern aus vergangenen Partnerschaften zusammensetzen,

… mit einem einzigen Elternteil, genannt „Einelternfamilie“ oder „alleinerziehend“,

… bei Pflege- oder Adoptiveltern, … mit ihren Großeltern, erwachsenen Geschwistern, Onkeln und Tanten,

 … in Regenbogenfamilien, in denen sich also eine oder mehrere Eltern als lesbisch, schwul, bi sexuell, trans*, inter oder queer identifizieren,

… mit drei oder mehr Eltern, sog. „Co- oder Mehrelternschaft“,

… in Einrichtungen stationärer Kinder- und Jugendhilfe, wie Wohngruppen oder Heimen,

… bei Erwachsenen in Liebesbeziehungen, Freundschaften oder nichts davon, … mit keinen oder vielen Geschwistern oder irgendetwas dazwischen

… und in vielen anderen Konstellationen! Zwischen diesen Formen kann es selbstverständlich Überschneidungen geben.

Berit Wolter (Soziologie/Politik B.A.), Fortbildnerin und Prozessbegleiterin für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung an der Fachstelle Kinderwelten des Instituts für den Situationsansatz.
Vivien Laumann, Dipl.-Psychologin und Systemische Beraterin, arbeitet als Bildungsreferentin und Beraterin u. a. zu den Schwerpunkten geschlechterrefl ektierter Pädagogik, geschlechtlicher und sexueller Vielfalt.

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