Wer sie hat, weiß: Geschwister wählt man nicht. Sie sind einfach da. Sie sind Teil der Familie, man muss sich mit ihnen auseinandersetzen – ob man will oder nicht. Sie gehören oft zu den intensivsten und längsten Beziehungen überhaupt. Und manchmal lernt man sogar etwas von ihnen.
Doch trotz des hohen Stellenwerts, den Geschwister in unserem Leben haben: Bis Ende des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich die Forschung recht wenig für die Beziehungen zwischen Geschwistern interessiert. Das ist zum Teil noch bis heute so.
Im Märchen ist es anders. Dort sind Geschwisterbeziehungen schon immer wichtig. Und sie werden, zumindest wenn es sich um leibliche Geschwister handelt, ziemlich idealisiert dargestellt. Wie etwa im Märchen „Schneeweißchen und Rosenrot“ der Gebrüder Grimm:
Eine arme Witwe, die lebte einsam in einem Hüttchen, und vor dem Hüttchen war ein Garten, darin standen zwei Rosenbäumchen, davon trug das eine weiße, das andere rote Rosen; und sie hatte zwei Kinder, die glichen den beiden Rosenbäumchen, und das eine hieß Schneeweißchen, das andere Rosenrot. Sie waren aber so fromm und gut, so arbeitsam und unverdrossen, als je zwei Kinder auf der Welt gewesen sind: Schneeweißchen war nur stiller und sanfter als Rosenrot. Rosenrot sprang lieber in den Wiesen und Feldern umher, suchte Blumen und fing Sommervögel; Schneeweißchen aber saß daheim bei der Mutter, half ihr im Hauswesen oder las ihr vor, wenn nichts zu tun war. Die beiden Kinder hatten einander so lieb, dass sie sich immer an den Händen fassten, sooft sie zusammen ausgingen; und wenn Schneeweißchen sagte: »Wir wollen uns nicht verlassen«, so antwortete Rosenrot: »Solange wir leben, nicht«, und die Mutter setzte hinzu: »Was das eine hat, soll‘s mit dem andern teilen.«
Schneeweißchen und Rosenrot sehen sehr unterschiedlich aus. Das ist nicht verwunderlich: Geschwister haben zwar im Durchschnitt fünfzig Prozent identische Gene, es können jedoch auch wesentlich mehr oder eben wesentlich weniger sein. Daraus folgt, dass ein Geschwister ganz anders als das andere aussehen kann. Genauso ist es bei der Persönlichkeit – einer kann ruhig und sanft sein, der andere laut und wild. Doch woran liegt das?
Heute geht man davon aus: Bei der Persönlichkeitsentwicklung von Geschwistern entscheidet nicht allein die Genetik. Eine viel größere Rolle scheinen der Altersabstand und das Geschlecht, der elterlich Erziehungsstil und die Geburtenreihenfolge zu spielen. Sehen wir uns das genauer an:
1. Alter und Geschlecht
Zwischen Geschwistern mit geringerem Altersabstand – das gilt vor allem bei altersnahen Schwestern – entstehen häufiger engere, geühlsintensivere Bindungen als zwischen Geschwistern mit größerem Altersabstand. Kinder in einem ähnlichen Alter teilen viele Gemeinsamkeiten im Alltag. Diese enge Verbindung schildert auch das Märchen von Schneeweißchen und Rosenrot.
Gleichzeitig neigen Geschwister mit geringem Altersabstand und gleichem Geschlecht aber auch dazu, sich deutlich vom anderen abzugrenzen und eigene Wege zu gehen, um die eigene Identität zu finden und zu entwickeln. Auch dies triff auf die beiden Schwestern im Märchen zu. Beide sind fromm, gut, arbeitsam und unverdrossen. Ihre weiteren Persönlichkeitsmerkmale und Vorlieben unterscheiden sich jedoch deutlich. So ist die im Märchen zuerst genannte – und deshalb vermutlich etwas altere – Schwester Schneeweißchen. Sie wird eher als still, sanft und häuslich beschrieben, während die an zweiter Stelle genannte und daher vermutlich jüngere Rosenrot als eher wild und naturverbunden bezeichnet wird.
Und so bestätigen wissenschaftliche Erkenntnisse: Geschwister, die sich voneinander abgrenzen, neigen weniger zu Rivalitäts- und Aggressivitätsimpulsen. Wenn ich mich also deutlich von meiner Schwester oder meinem Bruder unterscheide und sowieso ganz anders bin, muss ich mich nicht mit ihr oder ihm vergleichen oder neidisch und eifersüchtig auf ihre oder seine Fähigkeiten sein.