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Freude und Trauer – beides gehört gleichermaßen zum Leben. Und doch neigen Menschen dazu, bei traurigen Anlässen eher wegzusehen. So ertappen wir Erzieher:innen uns auch im Kita- Alltag beispielsweise dabei, den toten Vogel im Außengelände lieber zu beseitigen, bevor ihn die Kinder entdecken und möglicherweise „unangenehme Fragen“ stellen. Oder wir beschwichtigen bei einem aufgeschürften Knie viel zu schnell mit: „Das ist doch nicht so schlimm!“, anstatt das Kind in seinem aktuellen Schmerz ernst zu nehmen. Auch suchen wir bei verloren gegangenen Schmusetieren lieber schonmal nach einem Ersatz, anstatt das Kind bei dieser Verlusterfahrung zu begleiten.
Nicht erst durch den Verlust eines nahestehenden Menschen lernen Kinder den Umgang mit Trauer. Vielmehr machen Kinder täglich_– mal kleinere, mal größere_– Trauer-, Abschieds- und Verlusterfahrungen: Etwa, wenn die Schulkinder die Einrichtung verlassen, die beste Freundin wegzieht, das Schmusetuch unauffindbar ist_– oder auch, wenn ein toter Käfer auf der Fensterbank liegt, das Haustier verstorben oder die Zimmerpflanze vertrocknet ist. Diese Situationen wahrzunehmen und ihr Potenzial zu erkennen und zu nutzen, ist eine Aufgabe von Fachkräften und von unschätzbarem Wert. Anstatt wegzuschauen, gilt es, durch die Fragen der Kinder ins Gespräch, ins Philosophieren oder ins Handeln zu kommen: Warum bewegt sich der Käfer nicht mehr? Was machen wir jetzt mit ihm? Oder: Wie können wir uns noch lange an unsere Schulkinder erinnern? Wie gestalten wir einen schönen Abschied für sie?
Auch wenn wir beispielsweise mit den Kindern über den Rhythmus der Jahreszeiten, die Verwandlung der Raupe zum Schmetterling oder den Wechsel von Tag und Nacht sprechen, ermöglichen wir den Kindern Vorstellungen von Vergänglichkeit, Lebenskreislauf und Verwandlung – hoffnungsvolle Bilder, auf die Kinder in Krisenzeiten zurückblicken können.
Martina Meusch blickt auf 36 Jahre Berufserfahrung als Erzieherin zurück. Sie hat in ihrer Einrichtung schon unzählige Abschiede erlebt und viele Verluste betrauert. Sie weiß längst, dass das Thema Sterben auch in der Kita nicht ausgeklammert werden kann – und darf. Sie zeigt uns in ihren Geschichten, dass es hier viele Anlässe und Möglichkeiten gibt, Abschiede bewusst zu erleben und Kindern zu zeigen, dass Trauern zum Leben gehört. Diese Momente sind wertvoll, denn jede geweinte Träne, jeder durchlebte Verlust und jede ausgesprochene Wut hilft Kindern langfristig, Trauer gesund zu verarbeiten.
In unserer Kita dürfen die Kinder ihr Kuscheltier mitbringen und es in der Schublade „schlafen lassen“. Wenn Trost gebraucht wird, darf es herausgeholt werden. Wir achten sehr darauf, dass die Tröster wieder eingeräumt werden, um beim Abholen griffbereit zu sein. Aber es gibt immer wieder Exemplare wie „Svenny“ von Leonie, von dem selbst die Putzfrauen schon wissen, dass hier besondere Sorgfalt geboten ist, um im Falle des Verlustes keine Schreianfälle hervorzurufen. Es kam aber der Tag, da war der Kuschelhase unauffindbar. Die Nächte mussten ohne Svenny überstanden werden.
Wir zeigten Verständnis für die Trauer des Mädchens. Auch den Eltern fiel es verständlicherweise schwer, ihr Kind leiden zu sehen. Ihnen rieten wir, Sprüche wie: „Das nächste Mal passt du besser auf!“ oder „Ich habe es dir gleich gesagt, lass Svenny daheim!“ zu vermeiden und ihr Kind stattdessen zu trösten. Auch einen neuen Kuschelhasen zu kaufen, wäre keine Lösung gewesen, denn erstens hätte man Leonie um eine wichtige Erfahrung gebracht („Das Leben geht weiter.“) und zweitens kann man das gut riechende, abgegriffene Kuscheltier sowieso nicht ersetzen. Und siehe da: Das Leben ging weiter.
Vor einigen Jahren hatte ein Kind mal eine Walnuss in einen Topf mit Erde gesteckt – und tatsächlich ist eine kleine Pflanze daraus gewachsen. In einer Waldwoche pflanzten wir dann den kleinen Nussbaum in den an unser Grundstück angrenzenden Wald. Mit viel Mühe buddelten wir ihn in den Waldboden ein. Tatsächlich ist das Bäumchen angewachsen und seit fünf Jahren beobachten wir seine Entwicklung. Jedes Mal im Frühjahr ist der kleine Stamm ganz schrumpelig und wirkt vertrocknet. Traurig stellen die Kinder fest, dass der Baum den Winter nicht überstanden hat und abgestorben ist. Jedes Jahr im Sommer jedoch wachsen kleine Blätter und das Bäumchen wird größer. Er hat es doch geschafft und überlebt!
Im letzten Frühjahr schmückten wir den Baum mit einem Mandala aus Eicheln, Blättern, Stöcken und Zapfen. Im Herbst sahen wir, dass unser Nussbaum Gesellschaft von einer kleinen Eiche bekommen hat. Aus der Eichel ist doch tatsächlich ein kleiner Eichenbaum mit kleinen Blättern gewachsen! Immer wieder gingen wir an diesen Platz, um auch das Wachsen dieses Baumes zu beobachten. An einem Tag sahen wir, dass die kleine Eiche vertrocknet war und schlapp neben dem Nussbaum lag. Die Kinder erklärten: „Unser Nussbaum hat Wasser gebraucht und es dem Eichenbaum genommen. Er ist abgestorben, denn für zwei Bäume hat das Wasser nicht gereicht.“ Eine gute Erklärung – und wieder eine Erkenntnis mehr zum Thema „Leben und Sterben“.
Wir haben eine Kooperation mit einem Seniorenheim in der Nähe der Kita. Regelmäßig bekommen wir Besuch von einer kleinen Gruppe Senioren, die zum Teil schon einige Gebrechen haben. Wir erleben Senioren im Rollstuhl, demente und auch agile Menschen. Wir singen zusammen, backen Plätzchen, malen an der Staffelei und vieles mehr. Die Senioren und die Kinder freuen sich immer auf die Begegnungen, bei denen zarte Beziehungen entstehen.
Manchmal müssen wir auch erleben, wie sich der Gemüts- bzw. Gesundheitszustand der Senioren von Mal zu Mal verändert, etwa von lustig zu teilnahmslos. Wenn wir solche Veränderungen bemerken, teilen wir nach den Treffen unsere Wahrnehmungen mit den Kindern. In den Jahren dieser Zusammenarbeit haben wir schon viele Menschen kennengelernt, die inzwischen verstorben sind. Wir sprechen dann im Morgenkreis darüber und versuchen uns zu erinnern, was wir mit dem Verstorbenen erlebt haben. Da haben die Kinder schon lustige Dinge erzählt: „Herr_L. war immer so traurig. Aber als wir mit dem Fallschirm Wind gemacht haben, hat er gelacht und seine Haare sind in die Luft geflogen.“ Oder „Herr_L. wollte bei Mensch-ärgere-dich-nicht nie verlieren und hat immer geschummelt.“ Gemeinsam gestalten wir dann im Eingangsbereich einen kleinen Trauertisch mit einem Foto der Verstorbenen und einer Kerze. Die Kinder malen Bilder und legen sie dazu. Auf einer Kondolenzkarte durften sie mit den Eltern unterschreiben. Das ist ihnen sehr wichtig_– sie werden miteinbezogen! Auch uns, dem Team, ist das wichtig: Die Kinder erleben, dass Menschen nicht wieder kommen, wenn sie gestorben sind und hören Begriffe wie Tod, Beerdigung und traurig sein. Die Kinder reagieren darauf neugierig, da sie nicht unmittelbar in der Familie betroffen sind. Falls diese Situation eintritt, hat das Kind diese Begriffee schon mal gehört und „geübt“.
Jedes Jahr im Sommer steht das Abschiednehmen der Schulkinder von der Kita an. Drei bis fünf Jahre waren eine lange und intensive Zeit, daher ist es uns wichtig, den Abschied gebührend zu zelebrieren. Zuerst gibt es eine für alle aufregende Schulkinderübernachtung. In der Gruppe werden außerdem Abschiedsseiten gestaltet mit guten Wünschen an die Schulkinder. Für die Abgänger heißt es dann: Fächer räumen. Es ist immer schwierig, die Namen von den Garderoben zu entfernen! Spätestens jetzt wird ihnen bewusst: Morgen bin ich nicht mehr hier. Die Freude auf die Schule ist zwar groß, aber die vertraute Kita zu verlassen, verursacht sichtlich Trauer in den „kleinen Großen“. Auch für die übrigen Kinder gehen diese Abschiede nicht spurlos vorbei: Wie wird es, wenn die Großen nicht mehr da sind?
Beim Gruppenabschiedsfest mit den Eltern dürfen die Schulkinder in der Mitte des Kreises sitzen und über jedes Kind werden besondere Worte über ihre Kita-Zeit gesprochen. Und spätestens das gemeinsame Abschiedslied „Ciao es war schön“ lässt bei fast allen Tränen fließen.
Am letzten Kita-Tag gibt es noch das Edelstein-Abschiedsritual. Die Schulkinder sitzen auf großen Stühlen vor der restlichen Gruppe. Jedes Kind darf sich aus einem Körbchen einen kleinen Edelstein herausnehmen. Nacheinander gehen die Kinder zu jedem Schulkind und sagen ihre persönlichen Abschiedsworte, z.B.: „Ich wünsche dir eine liebe Lehrerin!“, „Ich habe gerne mit dir auf dem Bauteppich gespielt.“ oder „Hoffentlich bleiben wir Freunde.“ Dabei werden die Steine übergeben. Das ist immer sehr bewegend, da selbst die jungen Kinder die Besonderheit der Situation spüren. Im Garten in unserer Kita ist eine Mosaik-Wand, die jedes Jahr mit einem neuen Motiv verziert wird. Darauf sind die Namen der Kinder, die die Kita schon verlassen haben.
Die Kinder freuen sich jedes Jahr auf all diese Rituale – genauso wie immer muss es sein! Wir merken jedes Mal aufs Neue, dass dieses Abschiednehmen – ein Lebensthema! – eine entsprechende Form braucht, die allen zeigt: Abschied ist traurig, aber ein Ende bedeutet auch immer ein neuer Anfang.
Martina Meusch, Erzieherin in der Kita Rollwald in Rodgau, Hessen
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