Vorfreude auf die Eingewöhnung
Paul ist fünf Jahre alt. Er hat sich vor dem Gespräch sehr ernsthaft und ausführlich Gedanken gemacht. Auch seine gleichaltrige Freundin Marie hatte er bereits informiert und in die Überlegungen mit einbezogen. Zum Gespräch mit uns hat er Marie eingeladen. Er sieht dem Wechsel seiner zweijährigen Schwester Lucy in wenigen Wochen aus der Krippengruppe eher skeptisch entgegen. Beide sind dann in der Ganztagesgruppe.
„Also, eigentlich ist es nicht sooo schön, weil sie zu mir ‚blöder Paul‘ sagt und mich auch mal ohne Grund schlägt. Ein bisschen freu ich mich, aber auch ein bisschen nicht. Ich möchte eigentlich, dass sie in die rote Gruppe geht, dass sie bei mir nichts kaputt machen kann.“
Kinder wollen Raum für sich haben – und dass man sie als Individuen wahrnimmt. Paul fürchtet, dass der Wechsel seiner jüngeren Schwester seinen Freiraum beeinflussen konnte. Er weiß: Lucy kommt in seine Gruppe, weil seine Eltern die Ganztagesbetreuung brauchen. Doch er fühlt sich nicht ohnmächtig: In seiner bisherigen Kita-Zeit haben die Fachkräfte seine Bedürfnisse wahrgenommen, dadurch hat er bereits Selbstwirksamkeits-Erfahrungen gemacht. Zusammen mit seiner Freundin Marie hat er eine Strategie entwickelt, die Marie uns erklärt:
„Paul hat gesagt, ich darf bei der Eingewöhnung helfen. Wir führen Lucy rum und erklären ihr die Regeln. Wir zeigen ihr, was man darf und was man nicht darf. Man darf zum Beispiel nichts kaputt machen. In der grünen Gruppe darf man noch was kaputt machen, aber hier nicht, weil man kein Baby mehr ist.“
Paul und Marie haben sich auch schon überlegt, wie die Eingewöhnung aussehen konnte:<
Erzieherin: „Wer gewöhnt Lucy dann ein?“
Paul: „Ich und Marie.“
Erzieherin: „Und hilft auch eine Erzieherin?“
Paul: „Nee, die brauchen wir gar nicht. Wir sind ja auch zu zweit. Eigentlich muss man’s allein machen, aber wir sind halt zu zweit. Weil die Lucy die Marie schon gut kennt.“
Paul ist es wichtig, dass seine kleine Schwester gut in der Kita ankommt und sich wohlfühlt. Später fragen wir ihn, wie es für ihn eigentlich ist, eine Schwester zu haben: Paul:
„Daheim ist sie ganz nett. Und sie ist ein paar Tage gar nicht abgehauen. Ihr müsst aber damit rechnen, dass Lucy auch mal abhaut. Aber wir begleiten sie auch draußen überall hin, damit Lucy nicht auf einmal verloren geht.“
Erzieherin: „Wie findet Lucy dich denn? Mag sie einen großen Bruder haben?“
Paul: „Hm, das hab´ ich sie noch nie gefragt. Ich denke, sie findet es genauso blöd wie ich, dass man einen älteren Bruder hat. Sie hätte, glaub ich, lieber jüngere Geschwister.“
Auf die Frage, welche Geschwister sie sich wünschen wurde, kann Lucy noch nicht antworten. Aber sie freut sich darauf, bald in Pauls Gruppe zu sein. „Mein Paul seine gelbe Gruppe“, erklärt sie.
Kinder sind die Experten ihrer Lebenswelt. Und auch, wenn uns Pauls Sichtweise vielleicht irritiert: Seine Befürchtungen und Ideen nehmen wir ernst. Er sorgt sich um sich, um seinen Spielraum. Er sorgt sich um Lucy, er hofft, dass sie Freunde findet und nicht verloren geht. Und er möchte Verantwortung übernehmen. Deshalb plant er, Lucy einzugewöhnen. Paul zeigt, dass er seine Schwester kennt – aus seinem familiären Lebensumfeld –, und will die Fachkräfte mit seiner Erfahrung unterstützen. Wir können uns gut vorstellen, dass dies – aufmerksam begleitet – bei Lucy und Paul gut gelingt. (Wie Geschwister bei der Eingewöhnung unterstützen können, lesen Sie auch im Artikel von Mareike Gründler auf Seite 16.)
Bei unserer Befragung fällt uns auf, dass es schwieriger ist, die Meinungen der jüngeren Geschwisterkinder einzuholen. Sie können ihre Gedanken noch nicht so konkret formulieren und kennen den Alltag in der Kita noch nicht, wenn sie neu dazukommen. Sie wissen nicht, was es bedeutet, gemeinsam in derselben oder in zwei unterschiedlichen Gruppen zu sein. Gerade deshalb ist es wichtig, auch ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und in Entscheidungen zu berücksichtigen.
Die sechsjährige Nora erinnert sich, wie es war, als sie neu zu ihrer großen Schwester Nele in den Kindergarten kam:
„Als ich klein war, musste Nele immer mit mir aufs Klo gehen. Als ich reingekommen bin, da kannte ich eigentlich nur Nele. Da kannte ich niemand anderen.“
Das Gefühl, fremd zu sein, teilen die meisten neuen Kinder. Wenn ein älteres Geschwisterkind hier helfen kann und möchte, dann brauchen die Fachkräfte die Offenheit und den Handlungsspielraum, ihre Entscheidungen zur Gruppeneinteilung noch einmal zu reflektieren und zu verändern. Die Fachkräfte in unserer Kita kümmern sich darum, dass jedes Geschwisterkind seine individuellen Freiräume hat und Geschwisterpaare ihre Geschwisterbeziehung leben können. Egal, ob die Geschwister zusammen in einer Gruppe sind oder nicht.
Gemeinsame Wege
Die beiden großen Schwestern Aurelia und Irina machen sich Gedanken darüber, wie es für ihre jüngeren Brüder sein wird, wenn sie in wenigen Wochen in die Schule kommen.
Irina: „Ich glaube, Mathei vermisst mich, wenn ich in der Schule bin.“ Aurelia: „Enzo wird mich sehr vermissen. Er spielt oft mit Marie-Charlotte. Sie kann sich um ihn kümmern, wenn ich nicht mehr da bin. Ich weiß, ich mach‘ ein Abschiedsgeschenk für ihn. Das soll im Kindergarten bleiben.“
Als Team haben wir in den Gesprächen mit den Kindern festgestellt: Der beste Weg ist derjenige, bei dem die Geschwister gemeinsam „Ich“ sein können. Jedes Geschwisterkind braucht einen individuellen Weg, um sich zu entfalten, und jedes Geschwisterpaar braucht einen individuellen Weg, um Geschwisterbeziehungen pflegen zu können. Diese Wege gilt es zu finden: in Gesprächen mit Eltern, durch aufmerksames Beobachten und Begleiten und vor allem durch den Dialog mit den Kindern. Denn nur dann wissen wir, was die Kinder eigentlich denken, und können so ihre Ideen in den Kita-Alltag integrieren.
Auch Sie fragen sich: Geschwister in eine oder in getrennte Gruppen? Dann haben wir etwas für Sie! Auf unserer Homepage finden Sie eine Kopiervorlage für einen Brief an die Eltern, der alle miteinbezieht und Klarheit schafft: www.bit.ly/tps-1-23.
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