14.12.2020
Beate Lutze

Was von Corona übrig bleibt

Corona ist noch nicht vorbei. Es lohnt sich aber, innezuhalten und auf die vergangenen Monate zurückzuschauen. Wie wird Corona Erwachsene und Kinder prägen? Woran wir uns erinnern, wie wir das Erinnerte weitergeben und warum wir zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis unterscheiden, erklärt unsere Autorin.

Der 8. Mai 2020 ist der 75. Jahrestag des Kriegsendes oder der Befreiung vom Nationalsozialismus. Durch die Corona-Pandemie und die Einschränkungen öffentlichen Lebens wurden die Feierlichkeiten abgesagt. Zwei Anlässe für mich, um über das kollektive und individuelle Gedächtnis nachzudenken, welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf das Gedächtnis von Kindern, Familien und Pädagoginnen und Pädagogen haben könnte.

Der 75. Jahrestag symbolisiert den Abschluss einer Zeit, an die sich viele unserer Eltern oder Großeltern mit sehr unterschiedlichen Gefühlen erinnern. Dazu gehören Ängste, Hunger, Kälte, Verluste, Niederlage, Frieden. Er ist ebenso Teil einer gesellschaftlichen Erinnerung, Mahnung und Gedenken verschiedener Nationen, Kulturen, Familien und Personen. Staaten, Nationen oder Religionsgemeinschaft haben kein Gedächtnis. Sie nutzen aber Orte, Symbole oder Rituale, um sich als Institution oder Körperschaft eine Identität zu geben. Dabei bildet das kollektive Gedächtnis eine Verbindung individueller Erinnerungen und Gefühle mit kulturellen, staatlichen, gesellschaftlichen Konstruktionen, wie die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann 2008 schreibt.

Der französische Soziologe und Philosoph Maurice Halbwachs (1877 bis 1945) formuliert in den 1920er Jahren ein Konzept des kollektiven Gedächtnisses als soziale Re-Konstruktion der Vergangenheit. „Für Halbwachs“, schreibt der Kulturwissenschaftler Jan Assmann 2005, „gibt es keine reinen Fakten der Erinnerung und keine unverfälschten Bilder der Vergangenheit. Es gibt nur Rekonstruktion. Im Akt des Erinnerns selbst verfälschen beziehungsweise verändern sich die Bilder der Vergangenheit. Vergangenheit gibt es nur, insoweit sie von einer Gegenwart aus erinnert wird, und sie wird nur erinnert, insoweit sie von dieser Gegenwart gebraucht wird.“ Als Gegner des Naziregimes starb Maurice Halbwachs im März 1945 im Konzentrationslager Buchenwald.

Der sich erinnernde Mensch ist nach Halbwachs nie allein, sondern immer ein Teil von Gruppen, in deren Rahmen sich seine Erinnerungen formen und festigen. Halbwachs fügte dem individuellen oder personalen Gedächtnis damit eine soziale Dimension hinzu. Jan und Aleida Assmann erweiterten Ende der 1980er Jahre die personale und die soziale Dimension des Gedächtnisses noch um die kulturelle als dritte Dimension. Sie bezogen diese Dimension auf den normativen Bereich von Kultur, Religion, Kunst, Philosophie mit Blick auf die orientierende und identitätsstabilisierende Funktion von Gedächtnis.

Das kollektive Gedächtnis wird aus festgelegten Symbolen erstellt, die die Auswahl individueller Erinnerungen und Erzählungen bestimmen und miteinander verknüpfen. Dadurch wird eine gemeinsame Vorstellung und Einordnung historischer Ereignisse dargestellt, die auch an die nächsten Generationen weitergegeben wird. Diese Vorstellungen und Einordnungen sind in den Nationen und Kulturen sehr unterschiedlich, da sie eigene Wertvorstellungen begründen oder vertiefen sollen. Historische Ereignisse werden, wie Aleida Assmann 2008 ausführt, mal aus der Opferrolle mit dem Pathos unschuldigen Leidens betrachtet oder aus der Perspektive der Sieger erzählt, die so ihr Selbstbild bestärken. So war der 8. Mai als Kriegsende lange Zeit in Deutschland als Niederlage, teilweise mit Schuldgefühlen verbunden. Der Fall der Mauer und die deutsche Vereinigung werden als positive, friedliche Momente gefeiert. Hier hat das Volk mit seinem starken Willen und friedlichen Mitteln etwas erreicht. Der Mauerfall wird als „friedliche Revolution“ bezeichnet und wirkt so als identitätsstabilisierende Werteorientierung für das kollektive Gedächtnis.

Die Corona-Pandemie mit ihrem globalen Verlauf und weltweiten Auswirkungen hat in Deutschland zu deutlichen Einschränkungen des öffentlichen Lebens geführt. Die Schließungen von Kitas und Schulen sowie der Spielplätze und Freizeitstätten bewirken für Kinder und ihre Familien spürbare Veränderungen im Alltag. Neue Worte prägen diese Zeit. Homeschooling, Corona-Ferien, Maskenpflicht, Abstandsregel, Hygienedemos – all das ist Ausdruck dessen, was wir erlebt haben und immer noch erleben. Symbolisches Foto für Kinder sind die Ketten und Schilder an den verschlossenen Spielplätzen.

Wie wird sich das kollektive Gedächtnis zu Corona entwickeln, welche individuellen Erinnerungen werden Kinder unterschiedlichen Alters an Corona haben? Welche Erinnerungen werden die Pädagoginnen und Pädagogen haben, die in diesen Zeiten mit eigenen Ängsten und Verunsicherungen Kinder in der Notbetreuung versorgt oder über kreative Lösungen den Kontakt zu Familien gehalten haben?

Das menschliche Gehirn ist ein Netzwerk aus hundert Milliarden Nervenzellen und rund hundert Billionen Synapsen. Im dritten und vierten Lebensjahr ist das Gehirn doppelt so aktiv wie im Erwachsenenalter. Dabei tragen die Erlebnisse, Erfahrungen und Anreize aus Interaktionen mit der Umwelt maßgeblich zur Struktur des Gehirns bei. In den ersten beiden Lebensjahren gibt es eine sprunghafte Vernetzung zwischen den beiden Hirnhälften sowie den Ausbau der Strukturen in verschiedenen Hirnbereichen, insbesondere der Hirnrinde mit dem Stirnlappen, die für Gefühle, das Selbstbild und das Bild von der Stellung in der Welt wichtig sind, wie Gerald Hüther 2004 in seinem Aufsatz „Kinder brauchen Vertrauen“ ausführt. Die Reize bilden mit den individuell unterschiedlichen Vorerfahrungen der Menschen individuelle Informationen und Kenntnisse im wachsenden Gedächtnis. Sind sie sinnvoll verknüpft, können sie wiederholt abgerufen und weiter verknüpft werden. Je anregungsreicher und entspannter die Umgebung für das Kind ist, desto vielfältiger und breiter können sich die Strukturen im Gehirn entwickeln und bieten somit auch in späteren Jahren mehr Bereiche, auf die zurückgegriffen werden kann.

In Bezug auf das kollektive und kulturelle Gedächtnis ist der Blick auf das deklarative oder explizite Gedächtnis noch sinnvoll. Zum deklarativen Gedächtnis gehören das Faktengedächtnis mit dem abrufbaren Wissen sowie das episodische Gedächtnis, welches Erlebnisse und Geschichten zu Ereignissen beinhaltet und oft auch den Kontext um das Erlebte einschließt. Darüber hinaus gibt es das implizite Gedächtnis, welches uns befähigt, Verhaltensmuster und Fähigkeiten automatisiert ablaufen zu lassen wie beispielsweise Fahrradfahren oder eben bestenfalls in die Ellenbeuge niesen.

Die Pädagoginnen und Pädagogen haben in der Zeit der Corona-Schließung sehr kreative Methoden entwickelt, um den Kontakt zu den Kindern und Familien zu halten. Und auch in der Zeit nach den Schließungen entwickeln sie Möglichkeiten, um den Alltag neu zu gestalten und eine gute Pädagogik trotz der Einschränkungen zu ermöglichen. Hier kann mit den Kindern angeknüpft werden: in Gesprächen über ihre Zwangspause zu Hause, über gemeinsam geteilte Erlebnisse und Erfahrungen. Anreize für das Gehirn und das Gedächtnis können mit den Erinnerungen an den Lockdown positiv gestärkt werden.

In der Corona-Zeit wird deutlich, wie wichtig Menschen die Demokratie ist, Grundrechte, Transparenz, Beteiligung, Freiheit in der Gestaltung eigener Zeit und Beziehungen. Genauso wichtig ist ihnen aber auch, zusammenzuhalten, aufeinander Rücksicht zu nehmen und die Freude, wieder in die Kita und Schule gehen zu können. Das können wichtige Werte für das kollektive Gedächtnis werden. Hier lässt sich der Bogen schlagen zum 8. Mai 1945 und zum Mauerfall am 9. November 1989. Beides sind sie Symboltage für das Bedürfnis der Menschen, friedlich und demokratisch miteinander zu leben. Beide Tage ermöglichen eine Erinnerungskultur mit anderen Werten als starke Sieger oder Opfer äußerer Umstände.

Wir haben es in der Hand, was wir aus unseren Erfahrungen machen, wie und welche individuellen und kollektiven Erinnerungen wir ausbilden. Deshalb ist es wichtig, das Gespräch miteinander zu suchen, generationenübergreifend, gerade auch mit den Kindern, in dem das Erlebte reflektiert, versprachlicht und verbildlicht werden kann.

Beate Lutze ist Erzieherin und hat ihren Master in Schulentwicklung und Demokratiepädagogik an der Freien Universität Berlin gemacht. Sie leitete die Ganztagsbetreuung an einer Grundschule und unterrichtet jetzt an der Fachschule für Sozialpädagogik im Pestalozzi-Fröbel-Haus Berlin.

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