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Verstehen geschieht auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Wir verständigen uns verbal mit Begriffen, die eine klare, als bekannt vorausgesetzte Bedeutung haben. „Reich mir bitte die Butter“, fordern wir unseren Tischnachbarn auf, und er weiß, was mit „reichen“ und „Butter“ gemeint ist. Er kommt unserer Bitte nach, damit ist der Zweck der Mitteilung vollständig erfüllt. Man muss nicht weiter darüber nachdenken.
Wir können uns auch nonverbal zum Beispiel über Mimik und Gestik mitteilen. Wenn wir die Situation einbeziehen, kann auch diese Kommunikationsweise zu befriedigenden Ergebnissen führen. So könnte jemand beim Essen seinen Tischnachbarn am Arm berühren, auffordernd
anschauen und dann, nachdem der Blickkontakt hergestellt ist, mit dem Finger auf die außer Reichweite befindliche Butter deuten. Auf seinem Teller liegt eine trockene Scheibe Brot. In dieser Situation liegt der Schluss nahe, dass er Butter möchte. Seine Absicht wird verstanden.
Sehr viel der Alltagsverständigung geschieht über diese beiden Mitteilungsweisen. Hinzu kommen aber noch weitere, die uns ebenfalls geläufig sind, beispielsweise die mithilfe bildhafter Vergleiche, sogenannter Metaphern. „Du bist mein kleiner Sonnenschein“, sagen wir zu einem geliebten Kind. Hier dient der Sonnenschein, der unsere Stimmung hebt, sodass wir uns wohlund lebendig fühlen, als Bild für das Gefühl, das wir in Gegenwart des geliebten
Kindes empfinden. Sonnenschein wird an dieser Stelle also als Symbol verwendet.
Während Metaphern noch vollständige Bilder mit einer klaren Bedeutung sind, sind die in ihnen enthaltenen Symbole ausgesprochen vielschichtig. Sonne als Symbol ist eben nicht nur warm und hell und damit Voraussetzung für das Leben und Wachstum von Pflanzen, Tieren und letztlich auch der Menschen,
sondern sie ist auch brennend heiß bis hin zur Vernichtung des Lebens. Diese Eigenschaften machen sie zum Symbol der Liebe und zugleich der Macht. Sie ist die Königin des Himmels und hat göttliche Qualitäten.
Was hier an der Sonne beschrieben wurde, gilt für alle Symbole. Sie gehen nicht in ihrer begrifflichen Bedeutung (die Sonne ist der Himmelskörper, der den Tag- und Nachtrhythmus der Erde bestimmt) auf, sondern besitzen eine Vielfalt von Bedeutungsnuancen, die sich auch durchaus widersprechen
können. Welche Bedeutungsnuancen tatsächlich gemeint sind, erschließt sich erst durch den Kontext. Und selbst da bleibt noch ein beträchtlicher Interpretationsspielraum, sodass man ein Symbol nie ganz eindeutig und abschließend deuten kann. Deshalb ist eine symbolträchtige Geschichte
wie ein großes, geheimnisvolles Haus, in dem man, selbst wenn man es schon gut erforscht hat, noch immer etwas Neues entdecken kann.
Märchen sind mit ihrer reichen Bilderwelt solche symbolträchtigen Geschichten, die immer wieder neu interpretiert werden können und die stets zu neuen Einsichten führen können, die hilfreich für das Verständnis des Lebens von Kindern und Erwachsenen sind.
Für Pädagogen ist es wichtig, einen Zugang zur Symbolik zu finden, um zu einem fundierten Verständnis für den Gehalt der Märchen zu gelangen. Als ein Erfolg versprechender Schlüssel bietet sich an, jede beteiligte Märchenfigur – egal ob Mensch, Tier oder Fantasiewesen – als möglichen Aspekt einer Persönlichkeit zu deuten. Das dabei verwendete Prinzip zum Verständnis der Symbolik lautet: Die typischen Eigenschaften oder Rollen, die eine Figur in der Märchenhandlung innehat, charakterisieren auch ihre innerpsychische Funktion. So wird die Komplexität einer Persönlichkeit bildhaft aufgefächert in verschiedene Anteile, die alle zusammen ein „inneres Team“ bilden und sich als innere Stimmen oder Reaktionstendenzen äußern.
Ein Teammitglied wirkt beispielsweise jung, aktiv ins Leben strebend. Es traut sich viel zu, ist noch nicht von konventionellen Gewohnheiten geprägt. Es hat die Qualitäten eines Kindes, dem die Zukunft gehört. Dieses innere Kind wird im Märchen oft durch den jüngsten von drei Söhnen verkörpert. Sodann meldet sich in den Menschen der oder die innere Geliebte, also das Seelenbild vom ersehnten Gegenüber, das manchmal erst der „Erlösung“ bedarf. Die Hochzeit mit ihm bedeutet – innerpsychisch betrachtet – die Vereinigung des männlichen und weiblichen Persönlichkeitsanteils. Ferner gehört zum inneren Team die Figur, die das bewusste Persönlichkeitszentrum darstellt, die das Sagen hat oder regiert, oftmals repräsentiert durch den König (oder den Vater). Dieses Bewusstseinszentrum erweist sich manchmal als klug und weise, manchmal aber auch als habgierig und machtbesessen.
Gelegentlich meldet sich auch eine innere Stimme mit erstaunlichen Einfällen, die sich als hilfreich erweisen, wenn man sie beachtet. Im Märchen lässt sich diese Stimme Figuren zuweisen, die etwa als graues Männchen, Bettler, Fee oder Frau Holle erscheinen.
Etliche weitere Gestalten bereichern das innere Team. Jeder kennt seine innere Mutter (auch ihren negativen Aspekt: die Stiefmutter, eventuell auch die Hexe) und den inneren Vater (auch seine negative Ausprägung, etwa als Zauberer), ebenso die rohe, ungezähmte, vitale Kraft, die einem Räuber oder einem Riesen gleicht. Schließlich gibt es innere Qualitäten, die sich gut durch Tiere ausdrücken lassen. Der Vogel etwa drückt seelisch-geistige Tendenzen
aus, der Fisch, der dem Wasser angehört, repräsentiert den unbewussten Bereich, Löwe und Bär sind Gestalten der Kraft.
Alle Aspekte gehören zum inneren Team der Persönlichkeit, dessen Mitglieder mehr oder weniger harmonisch zusammenarbeiten. Häufig bestimmen aber auch heftige Konflikte zwischen den einzelnen Tendenzen das Erleben und Handeln. In deren Überwindung besteht sodann die Entwicklungsaufgabe – das gilt nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene.
Die Handlungsorte stehen für innerpsychische Bereiche. So veranschaulicht der Wald etwa das Unbewusste, wegen seines ungeordneten, schwer zu durchdringenden Charakters und der Fülle an Leben, das in ihm wächst und wohnt. Auch das Wasser, insbesondere das Meer, lässt sich aufgrund seiner fließenden Qualität und der ungeheuren, das Festland bei Weitem übertreffenden Ausdehnung dem Unbewussten zuordnen. Das Schloss hingegen symbolisiert aufgrund seiner klar geordneten Struktur den bewusst gestalteten Lebensbereich.
Diese symbolische Sichtweise lässt sich hervorragend für die pädagogische Arbeit mit Kindern nutzen. Dabei ist allerdings zu bedenken,
dass sie die hilfreiche Wirkung des Märchens erst erleben, wenn sie sich mit ihm über längere Zeit beschäftigen. Sie spüren seine Kraft, lieben es und wollen es mehrfach hören. Dazu sollten sie auch so oft Gelegenheit bekommen, bis der produktive Umgang mit ihm ausgeschöpft ist. Denn erst durch Wiederholung prägt sich der Inhalt so ein, dass er innerlich auch fortwirkt. Erst in der Wiederholung gewinnt die Identifikation mit dem Helden Stärke, dann erst entwirren sich Gefühlskonflikte, und die Einstellung klärt sich so, dass der Weg letztendlich frei wird für neue Entwicklungsschritte.
Viele Märchen haben sich in der pädagogischen Arbeit bewährt, so auch das Märchen „Die goldene Gans“. Alle darin auftretenden Figuren und ihre Handlungen lassen sich mithilfe des zuvor dargestellten Symbolschlüssels aufschließen.
Was passiert im Märchen? Der jüngste als Dummling verachtete Sohn zieht – wie zuvor seine beiden gescheiten, von den Eltern bevorzugten Brüder – in den Wald, um Holz zu fällen. Weil er sein karges Mahl mit einem alten grauen Männlein teilt, rät ihm dieses, einen alten Baum zu fällen, in dessen Wurzeln er eine goldene Gans findet. Mit dieser zieht er in die Welt. Drei Wirtstöchter kleben bei dem Versuch, eine goldene Feder zu stehlen, an der Gans und aneinander fest. Der Pfarrer, der diese Situation als schamlos interpretiert, bleibt genauso hängen wie der Küster, der den Pfarrer an seine Pflicht
erinnert, und die beiden Bauern, die zu Hilfe eilen.
In der Stadt sieht die allzu ernsthafte Prinzessin diesen Aufzug und fängt unbändig an zu lachen. Der Mann, der sie zum Lachen bringt, darf sie heiraten. Doch gefällt dem König sein zukünftiger Schwiegersohn nicht. Deshalb stellt er ihm drei Bedingungen: Zuerst soll er einen Mann herbeischaffen, der einen Keller voller Wein leer trinken könne, sodann einen, der einen Berg aus Brot verzehren könne. Und schließlich soll er ein Schiff besorgen, das zu Wasser und zu Land fahren kann. Alle drei Aufgaben erfüllt der Dummling mithilfe des grauen Männleins, er bekommt schließlich die Tochter des Königs und das Reich.
In diesem Märchen ist ein Dummling genannter junger Mann die Hauptperson und zuletzt auch der große Gewinner. Welche Qualitäten ermöglichen ihm, die Prinzessin zu erhalten und sich zum König zu entwickeln? Zunächst einmal seine Großherzigkeit und Hilfsbereitschaft, die seinen beiden Brüdern fehlt. Diese bleiben auf sich selbst bezogen. Indem sie mit ihrem Geiz ihr Gegenüber verletzen, verwunden sie sich selbst und beeinträchtigen ihre Handlungsfähigkeit (Arm) und die Möglichkeit der Fortbewegung (Bein). Sie müssen nach Hause zurückkehren, entwickeln sich mithin nicht weiter. Der Dummling hingegen erfährt durch seine Fähigkeit zu tätigem Mitgefühl den Weg zu seinem Glück. Er soll den alten Baum fällen, also das Alte vernichten, sich von ihm trennen. Doch in dessen Wurzelwerk, also in der Erde, die im Schutzbereich des alten Lebens neues Leben hervorbringt, findet er die
goldene Gans. Das Edelmetall Gold steht für die edle, klare, lautere Persönlichkeit, aber auch für Reichtum und Strahlkraft.
Mit dieser Gans im Arm macht sich der Dummling auf den Weg. Er kehrt nicht nach Hause zurück. Natürlich weckt das Gold die Begehrlichkeit der
Wirtstöchter. Sie werden von ihrer Habgier gefangen, das heißt, sie bleiben an der Gans kleben. Genauso ergeht es dem Pfarrer in seiner Absicht, moralische Vorstellungen durchzusetzen, dem Küster, der dem Grundsatz der Pflichterfüllung folgt, und den beiden an die Autorität des Pfarrers gebundenen, helfenden Bauern. Sie kleben fest an vorgefassten Prinzipien, verlieren ihre Handlungsfreiheit und entwickeln sich nicht weiter.
Als die Prinzessin dieses Bild sieht, beginnt sie unbändig zu lachen, denn es ist zu komisch. Drastisch wird hier vor Augen geführt, wie einengend und von außen betrachtet lächerlich der zutiefst menschliche Wesenszug ist, starr an Begehrlichkeiten, Wertvorstellungen und Prinzipien zu kleben. Es mag diese Erkenntnis sein, die sie zum Lachen bringt – zum Lachen über die Menschen, vielleicht aber auch über das Leben oder über sich selbst und ihre bisherige allzu große Ernsthaftigkeit. Nun ist aber der König, der Herrscher über das weltliche Leben, mit seinem zukünftigen Schwiegersohn und Nachfolger keineswegs einverstanden. Dieser muss erst noch seinen Ansprüchen genügen, sich nämlich der Fülle des leiblichen Genusses (Wein und Brot) gewachsen zeigen und die Grenze zwischen Wasser und Land überwinden, also noch die unbeschränkte Beweglichkeit in beiden Elementen erreichen.
Dieses Mal sind es seine Offenheit und sein Vertrauen, dass ihm geholfen werde, die zur Lösung führen. Und möglicherweise ist es auch sein eigener ungestillter Durst und Hunger – etwa nach Zuwendung, denn er ist ja das dritte, vernachlässigte Kind –, die auf diese Weise stellvertretend gestillt werden. Das ist ein weiterer Reifungsschritt. Schließlich erhält er von dem grauen Männchen auch noch das zu Wasser und zu Land fahrende Schiff – ein Symbol, dass er flexibel von der geformten Materie, dem Bewusstsein, in das Reich des grenzenlos Fließenden, des Unbewussten, zu wechseln vermag.
Für kleine Kinder ist das Märchen bedeutsam, weil es ihnen in ihrer oftmals empfundenen Unterlegenheit Mut macht, dass sie dennoch König werden können, wenn sie warmherzig mitfühlend sind und sich vertrauensvoll Hilfe suchen. Darüber hinaus ergötzen sie sich an der Vorstellung, wie die sieben Erwachsenen an der goldenen Gans kleben, und erfassen damit intuitiv etwas von der hintergründigen Komik.
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