19.05.2022
Sylvia Zöller, Barbara Baedeker

Flucht ist nicht gleich Flucht

Jede Familie bringt ihre eigene, ganz besondere Geschichte mit. Das gilt natürlich auch für diejenigen, die zugewandert sind. Unsere Autorinnen blicken auf die Vielfalt von Migrationsgeschichten und zeigen, wie wir hier verstehen und unterstützen können.

Gibt es die Norm-Familie? Die normalen Eltern? Nein. Ganz im Gegenteil: Normal ist, dass wir alle verschieden sind. Die Lebenswelten von Familien haben sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert. Das spüren wir täglich in den Kitas. Wir alle sollten uns fragen: Wie stehen wir zu diesem Wandel? Haben wir unsere Normalität- Erwartung an Familien angepasst? Oder tragen wir noch das Idealbild einer normalen Familie in uns? Studien zeigen, dass Familiensettings die Bildung und Entwicklung eines Kindes zwei- bis viermal mehr beeinflussen als familienexternen Settings. Deshalb ist die Arbeit mit den Familien in der Kita besonders wichtig. Im Folgenden nehmen wir die Vielfalt von Familien mit Zuwanderungsgeschichten in den Blick. Die Lebenslagen dieser Familien sind divers und wir mochten sie sichtbar machen, damit Fachkräfte sie noch besser verstehen und unterstutzen können.

Krieg, Armut, Klimawandel

Die Debatte, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist oder nicht, reicht bis in die 1950er-Jahre zurück. 1955 schloss die Bundesrepublik den ersten Anwerbevertrag für Gastarbeiter mit Italien, um dem Arbeitskräftemangel im Wirtschaftsaufschwung im Nachkriegsdeutschland zu begegnen. Es folgten Anwerbevertrage mit Spanien und Griechenland, der Türkei, Portugal, Tunesien, Marokko und Jugoslawien. Mit der Ölkrise und dem Ende des Wirtschaftswunders 1973 stoppte das Anwerben von Gastarbeitern. In diesen knapp zwanzig Jahren stieg der Anteil an Zugewanderten unter den Arbeitskräften in Deutschland auf 11,9 Prozent. Türkische Gastarbeiter machten mit fast 900.000 Menschen die größte Gruppe aus.

Kriege und Konflikte, Verfolgung aus religiösen oder ethnischen Gründen, Auswirkungen des Klimawandels wie Wasserknappheit, Dürren und Überschwemmungen, aber auch Arbeitslosigkeit und Hunger als Folge von Armut zwingen seit den 1990er-Jahren immer wieder Menschen zur Flucht nach Deutschland. Ganz aktuell fliehen viele Menschen wegen des erschütternden russischen Angriffskriegs aus der Ukraine. 1991 bis 1999 tobte ein Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien: Laut Mediendiensten waren 735.000 Menschen auf der Flucht, knapp die Hälfte fand Zuflucht in Deutschland. 2011 brach der Bürgerkrieg in Syrien aus, der bis heute andauert. Rund 6,7 Millionen Menschen haben seitdem das Land verlassen. Die meisten von ihnen halten sich in den angrenzenden Staaten Türkei, Libanon und Jordanien auf. Mehr als eine Million syrischer Kriegsfluchtlinge sind nach Europa gekommen. Von ihnen leben rund 770.000 Menschen in Deutschland. In den Jahren 2015 bis 2017 sind nach Angaben des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mehr als eineinhalb Millionen Personen nach Deutschland geflüchtet, etwa die Hälfte davon aus Syrien. Oft sprachen Kitas von ihren Flüchtlingsfamilien. Aber: Gibt es die standardisierte Flüchtlingsfamilie überhaupt? Wir sagen klar: Nein. Es sind Familien. Familien mit unterschiedlichen Herkunftsgeschichten und Bildungsbiografien. Was sie von anderen Familien unterscheidet, ist das unfassbare Leid, fluchten zu müssen. Und auch jede Flucht-Geschichte ist unterschiedlich. Hat die Flucht Monate gedauert, hat sie über das Mittelmeer oder über die Balkanroute geführt, welche Traumata sind in dieser Zeit entstanden? Oder sind die Familien mit dem Flugzeug gekommen? Diese Menschen brauchen, was alle Menschen brauchen:

  • Die Gleichwürdigkeit im Umgang miteinander.
  • Die grundlegende Akzeptanz von Unterschiedlichkeit: das Wahrnehmen, was ist.
  • Ermutigendes Wohlwollen: Wertschatzung für die bereits vorhandenen Kompetenzen und Verständnis für die noch nicht entwickelten Eigenschaften und Fähigkeiten.

Um die große Diversität der Lebenswelten von Familien in Deutschland sichtbar zu machen, öffnen sogenannte Milieustudien den Blick auf die soziokulturelle Vielfalt der Bevölkerung in Deutschland. In diesem Forschungszweig erheben Institute die Befindlichkeiten und Orientierungen der Menschen in allen bedeutsamen Erlebnisbereichen des Alltags, wie Arbeit, Familie, Freizeit, Konsum und Medien. Erfasst werden der soziale Hintergrund sowie die jeweiligen Werte, Lebensziele, Lebensstile und Einstellungen. Milieus sind also nichts anderes als Gruppen von Gleichgesinnten. Das Delta-Institut für Sozial- und Ökologieforschung hat in einer seiner Erhebungen speziell auf die für Kitas relevanten Aspekte geschaut, wie auf das oft sehr verschiedene Erziehungsverständnis, das Rollenbild einer guten Mutter sowie eines guten Vaters und die Passgenauigkeit der Betreuungsangebote. Das Institut stellt in seiner Erhebung eine zentrale Frage zu der gesellschaftlichen Funktion der Kita in Deutschland: Ist Ihre Kita ein Platz des Zusammenhalts, ein Sozialraum der Begegnung und der konkreten Erfahrungsmöglichkeit verschiedener Lebenswelten? Oder ist Ihre Kita ein Ort von Abgrenzung und Abschottung?

Alles eine Frage des Milieus

 Familien aus verschiedenen Milieus haben jeweils spezifische Bedarfe und Probleme und ihre jeweiligen sozialen und kulturellen Ressourcen. Fachkräfte, die zusätzlich zum eigenen auch einen Zugang zu allen Milieus haben, können die Kinder dabei unterstutzen, wichtige Lebenskompetenzen zu entwickeln. Dazu gehören Orientierungssicherheit in einer Welt der Vielfalt sowie die Werte Empathie und Solidarität. Heute hat, statistisch gesehen, mindestens jedes dritte Kita-Kind eine Zuwanderungsgeschichte, in Ballungsraumen oft bereits jedes zweite.

Spätestens jetzt ist es an der Zeit für einen Paradigmenwechsel: Sie arbeiten als Fachkraft nicht in einer deutschen Kita, sondern in einer Kita in Deutschland. Spuren Sie den Unterschied? Blicken wir gezielt auf die Lebenswelt von Familien, die in den letzten siebzig Jahren nach Deutschland gekommen sind. Die Ergebnisse der Migranten-Milieus-Studien bilden die Lebenswelten und Lebensstile von Menschen mit Zuwanderungsgeschichten ab: 

1. Religiös verwurzeltes Milieu

Menschen, die in archaisch, patriarchalisch geprägten, sozial und kulturell isolierten Milieus leben. Sie sind von religiösen Traditionen der Herkunftsregion geprägt, mit deutlichen Ruckzugs- und Abschottungstendenzen, und pflegen die Traditionen des Herkunftslandes: sechs Prozent. 

2. Prekäres Milieu

Sie leben mit starken Zukunftsängsten, Ressentiments und einer oft fatalistischen Lebenseinstellung. Sie fühlen sich ausgeschlossen und benachteiligt: sieben Prozent. 

3. Konsum-Hedonismus-Milieu

Das junge freizeitorientierte Unterschichtmilieu mit defizitärer Identität und Underdog-Bewusstsein ist auf der Suche nach Spaß, Unterhaltung und Konsum. Sie passen sich nicht an Erwartungen der Gesellschaft an: acht Prozent. 

4. Experimentalistisches Milieu

Das individualistische Milieu mit Fokus auf das Leben im Hier und Jetzt: zehn Prozent. 

5. Milieu der Performer

Sie sind zielstrebige, selbstbewusste, global denkende Zukunftsoptimisten mit hoher Technik-Affinität und gehobenen Stil- und Konsumansprüchen: zehn Prozent. 

6. Traditionelles Arbeitermilieu

Das etablierte traditionelle Milieu der Arbeitsmigranten und Spätaussiedler, das nach materieller Sicherheit und Anerkennung strebt und sich angepasst hat, ohne anzuecken: zehn Prozent. 

7.  Adaptiv-pragmatisches Milieu

Der optimistische, familienorientierte junge Mainstream mit Freude am technischen Fortschritt, pragmatisch- realistischen Zieldefinitionen und hoher Anpassungsbereitschaft: elf Prozent. 

8. Bürgerliche Mitte

Die leistungs- und anpassungsbereite Mitte der Migrantenpopulation, die sich mit den Verhältnissen im Aufnahmeland identifiziert, nach sozialer Akzeptanz und Zugehörigkeit strebt und harmonisch und abgesichert leben mochte: elf Prozent. 

9. Statusbewusstes Milieu

Aufstiegsorientiertes Milieu mit traditionellen Wurzeln, das durch Leistung und Zielstrebigkeit materiellen Wohlstand und soziale Anerkennung erreichen will, ohne seine Bezüge zur Herkunftskultur aufzugeben: zwölf Prozent. 

10. Intellektuell-politisches Milieu

Die erfolgreiche sowie aufgeklarte Bildungselite mit liberaler Grundhaltung, einem multikulturellen Selbstverständnis und vielfaltigen intellektuellen Interessen: dreizehn Prozent.  

Diese Zahlen zeigen, dass Lebensstile und Haltungen in der Gruppe der Menschen mit Migrationsgeschichte so verschieden sind wie bei Menschen ohne Migrationsgeschichte. Familien mit Migrationshintergrund sind keine homogene Bevölkerungsgruppe. Menschen des gleichen Milieus, aber mit unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Zuwanderungsgeschichte, verbindet mehr miteinander als mit dem Rest ihrer Landsleute aus anderen Milieus, wie der Wissenschaftler Bernd Hallenberg und seine Kollegen ausführen.

Außerdem zeigen die Ergebnisse, dass die Gleichzeitigkeit von Zu- und Abwendung gegenüber Traditionen, modernen Lebensformen oder Weltbildern den Mustern in der Gesamtbevölkerung ähneln, wenngleich in teilweise anderen Erscheinungsformen. Hybride Identitäten, also solche Menschen, die sich zu mehreren kulturellen Raumen zugehörig fühlen, sind für viele Milieus selbstverständlich und haben weiter an Gewicht gewonnen.

Ein vor zehn Jahren eher seltenes Muster zeichnet sich heute deutlicher ab: die Verbindung von selbstbewusstem Aufstiegswillen und gleichzeitigem Festhalten an Herkunft und Traditionen. In diesem statusbewussten Milieu glauben die Menschen nicht an Abgrenzung – sie wollen selbstbewusst teilhaben und bewahren. Für die Integrationsdebatte ist dies eine wichtige Erkenntnis.

Eine Kernaufgabe bleibt der Abbau von Benachteiligungen und offenen Herabwürdigungen, die den sozialen Zusammenhalt untergraben. Insbesondere für drei Zwecke können und sollten wir unser neues Milieuwissen nutzen: Menschen mit Migrationshintergrund differenziert, aber als ganz normalen, gleichberechtigten Teil der Gesellschaft zu sehen, pauschale Zuschreibungen zurückzuweisen und Wege für einen Zusammenhalt finden. Denn eines ist vollkommen klar: Zunehmende Vielfalt wird unsere Zukunft dauerhaft prägen. Hierbei haben wir als Kitas die besondere Chance und Aufgabe zugleich, aktiv zu einer Willkommenskultur und Stärkung der Vielfalt beizutragen.

Ein australisches Kind erzählt: Einmalig ich

Ich bin,
ein Durcheinander vieler Kulturen,
einmalig ich.
Ich denke, das ist gut so,
weil ich den Reisenden, den Gast, den Fremden,
den, der Heimweh hat, verstehe.
Aber ich denke auch, dass das schlecht ist,
weil ich von dem Menschen, der nur an einem Ort
aufgewachsen ist,
nicht verstanden werden kann.
Diese Menschen kennen die Bedeutung von
Heimweh, das mich ab und zu befällt,
nicht wirklich.
Manchmal fühle ich mich dabei hilflos.
Ich bin eine Insel, aber gleichzeitig auch die
Vereinten Nationen.
Wer, außer Gott, kann mich wirklich erkennen
Und verstehen.

In: Die Welt entdecken. Zehn Stichworte zur Qualität in der Kinderbetreuung. Zug/Schweiz: Höhere Fachschule für Kindererziehung Curaviva.

LITERATUR:
BORKE, JÖRN; SCHWENTESIUS, ANJA (2018): Kultursensitives Arbeiten in der Kita. Ein Leitfaden für pädagogische Fachkräfte. Köln: Carl Link.
HALLENBERG, BERND; DETTMAR, RAINER; ARING, JÜRGEN (2018): Migranten, Meinungen, Milieus. Der vhw Migrantensurvey 2018. Berlin: Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e. V.

Sie interessieren sich für die weitere verwendete Literatur? Die Liste steht hier für Sie bereit: http://bit.ly/tps-literaturlisten

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