Das sind nur mikroskopische Interaktionen, alltäglich und rasch vergessen. Aber sie stehen in deutlichem Widerspruch zu dem, was die Psychologie lehrt und unter entwicklungsangemessen verbucht – und deren Abweichungen wir in den pädagogischen Prozessen eben diagnostisch erfassen sollten. Deutlicher wird es in Alltagssituationen, etwa wenn in irgendeinem Zusammenhang irgendeine Jahreszahl fallt und ein viereinhalbjähriges Mädchen sagt: „1990 – da war meine Oma 19 Jahre alt.“ Da es mathematisch interessierte Kinder bereits vor Schuleintritt gibt, stellen sich mindestens drei Fragen:
- Wie fordern diese Kinder uns (mathematisch) Vielwissende denn eigentlich heraus?
- Wie können Fachkräfte diese Interessen und frühen Begabungen herausfordern – im Sinne von fordern?
- Was geschieht ab dem Schuleintritt, wenn sich eine systematische Lernkultur Bahn bricht oder zumindest Bahn brechen sollte?
Die Verhaltensweisen dieser Kinder sind ähnlich herausfordernd wie deren Denk- und Handlungsprozesse und – vorausgesetzt, wir erkennen sie – deren Ergebnisse. Letzteres ist auch deshalb so schwer, weil sich, meist altersgemäß, ein Graben zwischen den erzeugten Denkprozessen und der Versprachlichung dieser ergibt. Kurz gesagt: Das Kind erbringt eine exzellente geistige Leistung, kann diese aber nicht herleiten, begründen oder nachvollziehbar beschreiben. Erwachsene geraten dann meist in das Dilemma der Zwischenschritte, das wir unter anderem aus der Begabungsforschung kennen. Bei einem richtigen Ergebnis ohne Beschreibung der Genese ist eine häufige Vermutung, das Kind habe einfach abgeschrieben. Eigentlich paradox in Kitas, wo ein Großteil der Kinder noch nicht schreiben kann. Wie tief frühkindliche Spielprozesse mit mathematischen Inhalten gehen, zeigt die folgende Situation:
Cem sitzt seit Tagen wie verzaubert vor seinem Würfelbecher und würfelt und würfelt. Tage später verkündet der Junge im Morgenkreis Philosophisches: „Es gibt keinen Zufall.“ Nach vielen kurzen Interviews können wir seine geistige Handlung nachvollziehen: Es stellt sich heraus, dass Cem über ein eidetisches Gedächtnis verfügt, sich also fotografisch große Mengen an Daten merken kann. Er hat über Tage gewürfelt und sich alle Würfelkombinationen eingeprägt. In späteren Untersuchungen filmen wir die langen Würfelprozesse. Fast wie nebenbei kommt er auf das Gesetz der großen Zahlen. Dieses besagt, dass sich die relative Häufigkeit eines Zufallsergebnisses in der Regel um die theoretische Wahrscheinlichkeit eines Zufalls stabilisiert, wenn das Zufallsfallsexperiment immer wieder unter denselben Voraussetzungen erfolgt. Er mutmaßt sogar, dass sich der Wert nicht auf das arithmetische Mittel hinbewegt. „Es wird beim Dauerwürfeln nie sieben, immer drüber.“ Seine finale Zufallsidee kommt aus der Annahme, alles sei letztlich vorbestimmt, es bewegt sich auf etwas hin. Unser Erkenntnistrigger ist zu fragen: „Woran hast du gemerkt, dass es so war?“ Die Frage bringt das Kind auf eine kognitiv höhere Ebene – die des Nachdenkens über das eigene Nachdenken – und hat zudem noch eine sprachliche Komponente: die des Beschreibens von Denken.
Was wurde passieren, hatten wir so etwas nicht früh erkannt? Unser Job ist Prozessdiagnostik. Das bedeutet nicht, alles zu wissen, aber gut zu beobachten und uns mit den Kolleginnen und Kollegen auszutauschen. Und Angebote zu machen, die tatsachlich an der Zone der nächsten Entwicklung andocken.
Erkunden Sie in Ihrer Einrichtung doch einmal die Lieblingszahl der Kinder. Sie werden verblüfft sein, was da für Zahlen kommen und warum. Jene Geschichten, die uns Zugange und die kindlichen Gewissheiten über die Ziffer, die Menge, die Zahl zeigen, sind es wert, produktiv zur Kenntnis genommen zu werden. Die Übungen lassen sich beliebig anpassen. Stellen Sie zum Beispiel Blumensträuße auf die Tische und fragen Sie beiläufig: „Wie viele Nelken sind in der Vase? Und wie viele Rosen?“ Auf der Ebene des genauen Vergleichs nach Anzahl fragen Sie, wie viele Rosen mehr als Nelken sich in der Vase befinden. Im Bauspiel konnten Sie als Auffassen von Mengen nach Merkmalen wie Farbe, Form, Ausdehnung einwerfen: „Was haben alle diese Bausteine gemeinsam?“ Ein herausfordernderes Auffassen ist dieser Impuls: „Stelle fest, ob jede Puppe mit einem eigenen Auto fahren konnte.“ Ein solch grober Vergleich von Mengen nach Anzahl kann nach Gusto verfeinert werden. Oder die Kinder machen eigene Vorschlage, wenn die Anzahl der Puppen diejenige der Autos übersteigt: Wie viele können wo einsteigen?
In Klopapier-Einheiten messen
Noch ein Wort zum Messen. Kindliches Messen unterscheidet sich ganz erheblich von unseren erwachsenen Vorstellungen. Wir sollten jungen Kindern nicht unsere Messmethoden verkürzt zur Verfügung stellen – es sei denn, ein Kind brennt darauf, die Skala eines Maßbandes zu nutzen oder eine Wasserwaage einzusetzen. Vielmehr sollen auch hier mathematische Verrichtungen an die Lebenswelt anknüpfen. Wenn das Klopapier alle ist, ist die Frage erlaubt, wie lang denn eigentlich so eine Rolle ist. Wie misst ein Kind? Mit Schritten, mit dem ganzen Körper. Eine Idee wäre, sich in voller Körperlänge neben die abgerollte Rolle zu legen und zu schauen, wie oft man selbst oder wie viele Kinder es braucht, um die ganze Strecke abzubilden. Oder mit den Füßen zahlen. Interessante Ergebnisse sind inklusive: Bei Lara sind es vier Lara-Messeinheiten, bei Thorben nur drei und ein bisschen bis zum Knie. Warum? Thorben ist größer als Lara. Dazu kommt Vorgestanztes: Sind auf jeder Rolle die gleiche Anzahl Blatter? Und wie viele Kinder können mit einer Rolle auf Toilette gehen, wenn jedes Kind dabei drei oder zunächst ein oder gar fünf Blatt Papier verbraucht? Allfällige Einwendungen wie Sparsamkeit, Nachhaltigkeit oder Vorratswirtschaft können geschickt und vor allem organisch eingebunden werden.
Denken Sie beim Messen immer an die Messinstrumente und Messverfahren, die das Kind benutzen kann. Bieten Sie in der Einrichtung freie Waagen, Sanduhren, Kalender, Bandmaße, Bindfaden und Schopfkellen an und ermutigen Sie die Kinder, ihre Finger, die Hand, den Arm oder sich selbst als Messinstrumente zu nutzen. Unterschätzen wir letztlich nicht das Klassifizieren. Mathematisch interessierte Kinder sammeln, sortieren und klassifizieren gern und viel. Dabei ist es egal, ob es um Merkmalsklassifizierungen, Raum-Lage-Beziehungen oder gar Ordnungen einer, zweier oder mehrerer Serien geht wie Autos, Parkplatze, Parkuhren. Ein Highlight für solche Kinder ist es, Ordnungen selbst finden und variieren zu können. Auch Tangram ist und bleibt ein Hit. Und wenn es kein handelsübliches sein soll, dann lasst sich dieses „Siebenbrett“ auch aus starkem Karton ausschneiden. Geometrische Formen lassen sich auch ins Spiel bringen: Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist eine Kugel.
Und in der Schule?
Es ist abzusehen, was in der Schule passiert. Die Kinder der Klasse werden sich mutmaßlich in zwei sich teilweise durchdringende Gruppen teilen, wie es das Venn-Diagramm verdeutlicht. Eine Gruppe brennt für Mathematik, die andere lehnt sie ab. Dazwischen gibt es der Mathematik zugewandte Kinder mit anderen Interessen oder Kinder mit mannigfaltigen Interessen, darunter mathematischen. Kaum ein Fach diskriminiert von Beginn an derart stark. Eine Reihe von Studien versucht, diesen Phänomenen auf die Spur zu kommen, macht einmal Lehrpersonen und Mitlernende, ein anderes Mal die Aufgabenqualität oder die Lernvoraussetzungen dafür verantwortlich. Kaum erforscht ist die ästhetische Komponente. Denn mit der Schönheit in der Mathematik ist es wie mit der Schönheit in anderen Künsten: Sie ist sehr schwer zu definieren. ◀
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Zählen und Zuordnen – Die Magie der Knopfkiste
Eine Knopfkiste in der Einrichtung kann eine magische Wirkung auf mathematisch sensible Kinder und junge Ästhetinnen gleichermaßen haben. Das Ordnen nach Größe, Farben, Oberflächen, Formen und der Lochanzahl ist ähnlich interessant wie das Zählen und Zuordnen: Wie viele gleiche Knöpfe findest du in dieser Kiste?
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