Die kultursensitive Frühpädagogik
Eltern können ganz unterschiedliche kulturelle Konzepte hinsichtlich der Kontaktgestaltung haben. Der Ansatz der kultursensitiven Frühpädagogik (Borke & Keller, 2014; Borke & Schwentesius, 2018) stellt hier eine Grundlage zur Verfügung, die einen flexiblen Umgang in pädagogischen Einrichtungen je nach kulturellem Hintergrund der Familien ermöglichen soll. Auf diese Weise kann eine Anschlussfähigkeit an variierende elterliche Konzepte gestaltet werden. Hintergrund des Ansatzes sind Erkenntnisse aus der kulturvergleichenden Familienforschung (z. B. Keller, 2011), die nachweisen, dass Eltern je nach Umgebungsbedingungen unterschiedliche Vorstellungen und Verhaltensweisen zeigen – und dass entsprechend auch pädagogische Systeme variieren, und zwar jeweils so, dass Kinder in ihrer Umgebung möglichst optimal auf das Leben vorbereitet werden.
Bezogen auf die Kontaktgestaltung zwischen Eltern und pädagogischen Fachkräften zeigt sich zum Beispiel, dass Eltern aus städtischen postindustrialisierten Mittelschicht-Kontexten häufig einen großen Fokus auf die Unterstützung der psychischen Autonomie von Kindern legen, also auf ihre Vorlieben und Mitbestimmungsmöglichkeiten. Gleichzeitig ist ihnen ein partnerschaftlicher Kontakt auf Augenhöhe mit den Fachkräften vertraut und wird auch gewünscht. In ländlichen nicht industrialisierten Kontexten findet sich eher eine Herangehensweise, bei der die Gemeinschaft und der Erwerb von für die Unterstützung der Familie wichtigen Fähigkeiten im Mittelpunkt stehen. Hier sind also eher großfamiliäre Strukturen üblich und es wird mehr Wert auf eine Eingliederung in die Gemeinschaft als auf eine individuelle Entfaltung gelegt. Entsprechend sind die Interaktionen auch eher erwachsenenzentriert in dem Sinne, dass die Älteren den Jüngeren das für das jeweilige Alter wichtiges Wissen und Können vermitteln. Die Kontaktgestaltung zwischen Eltern und pädagogischen Fachkräften ist hier oftmals eher dadurch geprägt, dass die Fachkräfte als die Experten für den Umgang mit den Kindern in der Einrichtung gesehen werden und ein offener Austausch möglicherweise nicht üblich oder teilweise sogar auch nicht erwünscht ist. Diese unterschiedlichen kulturellen Modelle können an dieser Stelle nur sehr verkürzt und vereinfacht dargestellt werden (zur Vertiefung siehe z. B. Keller, 2011). Auch lassen sich noch weitere Modelle und Herangehensweisen beschreiben.
Bei einer kultursensitiven Kontaktgestaltung mit Eltern geht es darum, die kulturellen Hintergründe (und hier sind die Kontextbedingungen des Aufwachsens eben entscheidender als die Zugehörigkeit zu Ländern oder Religionen) zu erkennen und zu verstehen sowie entsprechend variable Herangehensweisen anbieten zu können. Dies kann dann zum Beispiel so aussehen, dass bei der Aufnahme neuer Familien auch die Kontextbedingungen, in denen Eltern aufgewachsen sind, mitberücksichtigt (z. B. städtisch oder ländlich, groß- oder kleinfamiliär …) sowie ihre Vorstellungen über frühkindliche Bildung erfragt werden. Die Fachkräfte sollten in der Folge auf flexible Kontaktgestaltungsmöglichkeiten zurückgreifen können, also sowohl partnerschaftlich auf Augenhöhe als auch in der Rolle der pädagogischen Expertin, die Abläufe erklärt und Vorschläge macht. Wichtig ist dabei, an den Vorerfahrungen und Erwartungen der Eltern anzuschließen. Zudem bleibt es aber natürlich zusätzlich zentral, auf jede Familie individuell zuzugehen. Aber die Erkenntnisse der kulturvergleichenden Familienforschung können helfen, indem sie einen Rahmen zur Verfügung stellen, der zu einem tieferen Verständnis von Hintergründen, Wünschen und Verhaltensweisen beitragen kann.
Jörn Borke ist Professor für Entwicklungspsychologie der Kindheit an der Hochschule Magdeburg-Stendal.
LITERATUR
Borke, J. & Keller, H. (2014): Kultursensitive Frühpädagogik.Stuttgart: Kohlhammer.
Borke, J. & Schwentesius, A. (2018): Kultursensitives Arbeiten in der Kita: Ein Leitfaden für pädagogische Fachkräfte. Kronach: Carl Link.
Borke, J. & Schwentesius, A. (2019): Kultursensitive Frühpädagogik und Beratung von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern. In: T. Geisen, C. Iller, S. Kleint & F. Schirrmacher (Hrsg.), Familienbildung in der Migrationsgesellschaft. Interdisziplinäre Praxisforschung (S. 111-127). Münster: Waxmann.
Institut für den Situationsansatz & Fachstelle Kinderwelten (Hrsg.) (2016): Inklusion in der Kitapraxis. Band 1 – Die Zusammenarbeit mit Eltern vorurteilsbewusst gestalten. Berlin: WAMIKI.
Keller, H. (2011): Kinderalltag: Kulturen der Kindheit und ihre Bedeutung für Bindung, Bildung und Erziehung. Heidelberg: Springer.
Hintergründe und Anregungen für die Umsetzung einer vorurteilsbewussten Gestaltung des Kontakts mit Eltern in pädagogischen Einrichtungen wurden von der Fachstelle Kinderwelten am Institut für den Situationsansatz in Berlin entwickelt (siehe z. B. Institut für den Situationsansatz/ Fachstelle Kinderwelten, 2016).
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