09.12.2020
Rosy Henneberg

Vom Recht auf Lebensregeln – Über die stetige Balance zwischen der Wahrung der eigenen Rechte und der Achtung der Rechte der anderen

In der Kindertagespflegestelle der Autorin ersetzen einige wenige grundsätzliche Regeln viele oft unsinnige Einzelregeln und erst recht viele oft unsinnige Einzelverbote. Das nimmt Kinder mit ihrem Recht auf Autonomie ernst und schützt gleichzeitig alle. Daneben gelten, um Gefährdungen zu vermeiden, ein paar klare Grenzen und Absprachen.

Im Rahmen meiner Weiterbildung zur Fachkraft für Kindzentrierung und Freinetpädagogik lernte ich folgende fünf Lebensregeln kennen:
Wir versuchen, niemanden zu verletzen.
Wir bemühen uns, andere nicht zu stören.
Wir versuchen, nichts mutwillig zu zerstören.
Wir bemühen uns, Ordnung zu halten.
Wir beteiligen uns bei der Arbeit. 1

Ich bin von diesen ganz besonderen Regeln sehr beeindruckt, und sie wirken bis heute nachhaltig in meiner Arbeit mit Kindern. Im Laufe der Zeit habe ich sie noch um eine sechste Regel ergänzt:
Wir bemühen uns, die Anliegen des anderen zu hören und ernst zu nehmen.
Diese Lebensregeln, die für Kinder und Erwachsene gleichermaßen gelten, tragen dazu bei, den gemeinsamen Alltag gut zu organisieren. Mit ihrer Hilfe können wir auf die vielen, oft sinnfreien Einzelregeln verzichten.

Spielraum für Verhandlungen und Dialog

Die positive Formulierung dieser Regeln und die offene Haltung, die dahinter steht, ermöglichen den Spielraum für immer neue Verhandlungen. Jede Situation kann im Dialog dem Einzelfall angepasst werden. So kann man davon ausgehen, dass diese Regeln von Kindern sehr gut einzuhalten sind. Die offene Formulierung ermöglicht auch, dass die Inhalte immer wieder neu überdacht werden können. Was bedeutet im Einzelfall Ordnung, was mutwillig und was stören? Was verstehe ich unter Arbeit und was unter der Beteiligung daran? Was sind die Anliegen anderer und wie lassen sie sich mit meinen eigenen zusammen bringen? Da die Regeln auch für Erwachsene gelten, sind wir angehalten, unsere Reaktionen und Äußerungen daraufhin genau zu überprüfen. Ich erinnere ich mich noch sehr gut an David, der die Aufräumarbeiten in der Kindergruppe ablehnte. Stattdessen bot er mir an, meine benutzte Kaffeetasse in die Küche zu tragen. Dafür übernahm ich seine Arbeit im Gruppenraum. Zurzeit kehrt Emil jeden Tag mit Hingabe den Sand um unsere Sandkiste zusammen. Dafür erinnert er mich kurz vor dem Essen daran, dass ich die Spielsachen aus dem Weg räumen soll, damit der Tisch in die Mitte gerückt werden kann. Wir beteiligen uns alle an der Arbeit, ohne dass festgelegt wird, was von Kindern und was von Erwachsenen zu tun ist.

Anliegen der Kinder ernst nehmen, Kompromisse finden

Phil soll gewickelt werden, aber er hat keine Zeit. „Noch das schneiden, dann komme ich“, sagt er und zeigt auf einen großen Stapel Papier. Wir hören sein Anliegen, nehmen es ernst, teilen ihm aber auch unsere Bewegründe mit und können uns dann im Verhandlungsgespräch auf „noch drei Blätter“ einigen. Wir haben damit gegenseitig unsere Anliegen ernst genommen und einen Kompromiss gefunden. Phil schubst Luise aus dem Weg, sie fällt hin und tut sich weh. Phil fühlte sich beim Spielen von ihr gestört. Auch wenn ich mich noch so sehr bemühe, niemanden zu verletzen, passiert es, dass ich jemanden wegschubse und er dabei hinfällt. Hat der andere vielleicht nicht bemerkt, dass er mich gerade gestört hat? Durch unsere Lebensregeln entstehen im Alltag viele gemeinsame Gespräche statt einseitiger Verbote. Außer diesen Regeln gibt es wenige, aber sehr klare Grenzen oder Sicherheitsabsprachen. Diese betreffen im Besonderen die Aufsichtspflicht, Gefahren und Gewalt. An der roten Ampel lässt sich genauso wenig verhandeln wie beim unerlaubten Übersteigen von Zäunen, bei tatsächlich mutwilliger Zerstörung, Gewalt und beim Verletzen der Grenzen anderer. 

Anmerkung 1 aus: Lothar Klein: Freinet-Pädagogik im Kindergarten. Freiburg: Herder Verlag 2002.

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