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Fast ein ganzes Jahr leben wir jetzt schon mit Corona: Die Einschränkungen sind groß, der Alltag anstrengend. Wir sehnen uns nach Normalität und so fällt in manchem Gespräch, auch in Anwesenheit von Kindern, schon mal der Satz: „So eine Kindheit ist doch nicht normal.“ Das führt zu folgenden Fragen:
Für Erwachsene ist die Zeit der Pandemie die Ausnahme. Für sie gilt: Normal ist, was vor Corona war. Für Kinder ist die Situation eine andere. Für sie ist die Pandemie das Normale. Die zwölf Monate seit dem ersten Lockdown nehmen einen großen Zeitraum ihres jungen Lebens ein. Wenn es um Normalität geht, müssen wir deshalb fragen:
Je nach Lebenserfahrung, Lebensdauer, Lebenssituation und der individuellen Perspektive fallen die Antworten unterschiedlich aus. Und genau in diesen Unterschiedlichkeiten liegen die besonderen aktuellen pädagogischen Anforderungen. Es besteht ein erhebliches Spannungsfeld zwischen der Normalitätsperspektive von Kindern und Erwachsenen. Es drückt sich zum Beispiel in den folgenden Aspekten aus:
Für viele Erwachsene haben sich die Selbstverständlichkeit des Handelns und die Handlungsspielräume verändert. Sie erleben Einschränkungen und fühlen ein hohes Maß an Fremdbestimmung und Einschränkung ihrer Autonomie. Darin liegt das Verlust-VermissenEmpfinden begründet, das die Sehnsucht nach Normalität befördert.
Für Kinder ist der bestehende Rahmen die Realität, in der sie sich entwickeln, in der sie kooperieren, Möglichkeiten und Grenzen ausloten. Alles was sie tun, ist für sie wertvoll, sinnerfüllt und erstrebenswert. Sie tun das mit dem Ziel, die Welt zu begreifen und bereiten sich darauf vor, mit zunehmender Autonomie selbstbestimmt zu leben. Deshalb muss die Diskrepanz zwischen den Perspektiven der Weltwahrnehmung von Erwachsenen, insbesondere von Pädagoginnen und Pädagogen, reflektiert werden. Es bedeutet, achtsam und feinfühlig mit den verschiedenen Botschaften der eigenen Lebenswirklichkeit umzugehen und sie auf die Lebenswirklichkeit und Bedürfnisse der Kinder in ihrer jeweiligen Entwicklung abzustimmen. Deshalb stellen sich folgende Fragen:
Für das professionelle pädagogische Handeln ist es wichtig, sich mit diesen Fragen zu befassen. Sie helfen, eigene Aussagen kritisch zu hinterfragen und zu bedenken, welche Wirkung sie auf Kinder haben. Das zeigt sich in den beiden folgenden Beispielen.
Der fünfjährige Ben geht auf seine Erzieherin Linda zu und fragt, ob er Sami in der blauen Gruppe besuchen dürfe. Der kenne sich so gut mit Ninja-Figuren aus und er müsse ihn unbedingt etwas fragen. „Das geht jetzt nicht“, sagt Linda, „das muss warten bis alles wieder normal ist“. Mit diesen Worten gibt Erzieherin Ben zu verstehen, dass seine Weltwahrnehmung nicht normal ist. Für Ben aber ist sie die Normalität. Mit diesem Widerspruch bleibt er allein.
Außerdem bedeutet die Aussage: Du musst warten. Stell deine Bedürfnisse zurück. Sie sind jetzt nicht wichtig. Ben kann auch die zeitliche Dimension dieser Aussage nicht erfassen. Er braucht, wie alle Kinder, konkrete Angaben wie nach dem Essen oder heute Abend beim Zubettgehen, um sich zeitlich zu orientieren. Ohne solche Angaben sind das Warten und das Aufschieben von Bedürfnissen nicht zu erfassen. Für ihn ist kein Ende in Sicht. Sein Bedürfnis bleibt bestehen und unerfüllt.
Anna und Wilhelm, beide vier Jahre alt, wollen mit ihrem Erzieher Henning in die Werkstatt. Die Werkstatt allerdings ist heute durch eine andere Gruppe belegt. Henning sagt: „Wir können jetzt nur in diesem Zimmer spielen, aber das ist auch ganz schön.“ Das „nur“ in dieser Aussage entwertet den Raum als Erfahrungs- und Erlebnisraum. Diese Entwertung beeinflusst die Zufriedenheit der Kinder schon im Vorfeld ihrer Tätigkeit und ihres Empfindens. Das „aber auch ganz schön“ in dieser Aussage vermittelt den Kindern, dass ihr Erleben unzureichend ist. Es wäre woanders ja schöner gewesen. Ähnlich wirken Worte wie leider, jedoch, trotzdem, nicht, sonst, üblicherweise, anständig, normalerweise, eigentlich.
In den vergangenen Monaten wurden in vielen Kitas neue Wege gefunden, um den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden, um Partizipation und Inklusion auch unter den Bedingungen einer Pandemie zu gestalten. Das ist keine leichte Aufgabe. Bestehendes muss hinterfragt, Neues gemeinsam entwickelt werden. Richtungsweisend für die Weiterentwicklung der Qualität in Zeiten von Corona sind die diese drei Fragen:
Dieses Vorgehen öffnet den Blick auf die Bedürfnisse der Kinder und bezieht sie in die Suche nach neuen Wegen ein.
Für die Fachkräfte ist diese Zeit besonders fordernd. Eltern, Träger und Kinder machen ihre Ansprüche geltend, formulieren Wünsche und Erwartungen. Um diese Anforderungen zu bewältigen ist es wichtig, sich für sich selbst und das Team Zeit zu nehmen, um sich über die eigene Ziele klar zu werden, um das Gefühl der Fremdbestimmung in Selbstbestimmung umzuwandeln und um Zufriedenheit zu gewinnen. Die folgenden Fragen helfen dabei:
Die Kinder erleben die aktuelle Situation als Normalität. Ihre Wahrnehmung unterscheidet sich von der unseren. Für Erwachsene ist die Zeit vor Corona normal. Die folgenden Aspekte helfen, sich mit diesem Gedanken intensiv zu befassen und ihn so fest zu verankern:
Die Welt unter den Bedingungen einer Pandemie ist für Kinder die normale Welt. Sie haben auch jetzt das Recht auf Beteiligung, auf feinfühlige Begleitung und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Wenn Kinder die Möglichkeit haben, diese Rechte wahrzunehmen, stärkt sie das für die Bewältigung zukünftiger Lebensaufgaben.
Ingrid Schulz ist Begabtenpädagogin, Fortbildnerin im frühpädagogischen Bereich, Beratung und Begleitung von Teams und Multiplikatorin für Bildungs-und Lerngeschichten und Mitglied im Bundesnetzwerk Fortbildung und Beratung in der Frühpädagogik e.V.
Carola Wunderlich-Knietsch ist Fachpädagogin und Fachautorin und Mitglied im Bundesnetzwerk Fortbildung und Beratung in der Frühpädagogik e.V.
Zum Weiterlesen Carola Wunderlich-Knietsch: Unsere Ausnahme ist ihre Normalität. Zum pädagogischen Umgang mit den Infektionsschutzmaßnahmen. In: TPS Heft 3/21.
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