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Amalia und Nael spielen Einkaufsladen. Nael kauft Obst und Gemüse, Marmelade und Schleichtiere. Sein Baby trägt er im Tragetuch. „Acht Euro bitte“, sagt Amalia. Nael bezahlt. Dann muss alles im Kinderwagen und in der Umhängetasche verstaut werden. „Soll ich das Baby solange halten?“, fragt Amalia. Vertieft in ihr Spiel, hören die Kinder nicht, dass Pädagogin Lisa ruft: „Aufräumen, gleich ist Morgenkreis!“
Fiona und Bidou, beide vier Jahre alt, bauen aus Eisbechern ein großes Gebäude. Sie brauchen viel Platz und sind konzentriert bei der Sache. Während Fiona die Eisbecher auseinandernimmt und sie einzeln für Bidou bereitstellt, türmt dieser die Becher aufeinander. Auch sie hören Lisas Ruf nicht.
Im Lesebereich sitzt Samira und schaut sich mit ihrem Stoffhund Basti ein Buch über Tiere an. Die Dreijährige ist noch nicht lange in der Kita. Immer wieder schaut sie sich um und sucht den Blickkontakt mit Lisa. Als Lisa alle zum Aufräumen auffordert, legt Samira sofort das Buch ins Regal zurück und geht zum Stuhlkreis. Sie setzt sich hin und wartet.
Was passiert hier? Erwachsene entscheiden, dass jetzt aufgeräumt wird. In ihren Augen ist es Zeit für den Morgenkreis, das Mittagessen oder ein Angebot. Sie erwarten, dass die Kinder ihrer Aufforderung nachkommen, ihre Tätigkeit unterbrechen oder beenden. Vielen Kindern fällt das schwer. Und wenn wir ehrlich sind, haben auch wir Erwachsene Schwierigkeiten, die Arbeit dann zu unterbrechen, wenn jemand nach uns ruft. Für Kinder ist es nicht leicht, nach der Unterbrechung wieder ins Spiel zu finden. Der Flow ist dahin, andere Impulse wurden gesetzt, ein Spielgefährte verliert die Lust am Weiterspielen. Selbstbildungsprozesse sind unterbrochen.
Das Thema Aufräumen ist in Kitas ein Dauerbrenner. Wie ordentlich soll es eigentlich sein? Stellen Sie sich einmal eine Skala zum Thema: So ordentlich ist es bei mir zu Hause, vor. Das eine Ende steht für „sehr ordentlich“, das andere Ende für „mir ist Ordnung nicht wichtig“. In meinen Seminaren erlebe ich, dass die Teilnehmenden die ganze Skala einnehmen. Ordnung hat für jeden eine andere Bedeutung. Und alle wären empört, wenn jemand sie auffordern würde, gründlicher aufzuräumen. Wieso erwarten wir von Kindern, dass sie unsere Vorstellungen von Ordnung übernehmen und diese herstellen, wenn sie dazu aufgefordert werden? Wieso können wir bei Erwachsenen individuelle Interpretationen für Ordnung zulassen, aber bei Kindern nicht?
Die Antworten der Fachkräfte auf diese Frage sind vielfältig. Kinder müssten lernen, nach dem Spielen aufzuräumen. Sie müssten lernen, Teil einer Gemeinschaft zu sein, Verantwortung zu übernehmen und sorgsam mit Material umzugehen. Im Übrigen führe herumliegendes Spielzeug zur Reizüberflutung. Bevor man was Neues beginne, müsse aufgeräumt werden. Die Wünsche der Kinder kommen hier nicht vor: im Spiel bleiben, eine eigene Ordnung herstellen oder Dinge eben nicht wegräumen wollen.
Der Familientherapeut Jesper Juul spricht von Gleichwürdigkeit als Grundlage einer guten Beziehungsgestaltung und damit einer guten Entwicklung. Gleichwürdigkeit bedeutet, dass jedes Bedürfnis, jedes Gefühl, jeder Wunsch und jedes Interesse den gleichen Wert haben, unabhängig davon, wie alt jemand ist. Der Wunsch der Kinder, im Spiel zu bleiben und die Dinge nicht aufzuräumen, ist genauso wertvoll wie der Wunsch der Fachkraft, dass alle zum Morgenkreis kommen.
Spielen ist die Arbeit der Kinder. Die Forschung zeigt, wie wichtig die selbst gestaltete Bildungszeit für Kinder ist. Wenn Fachkräfte das Spiel der Kinder unterbrechen und dafür ihre Entscheidungsmacht als Erwachsene nutzen, schließen sie Partizipation aus und handeln adultistisch. Sie sagen: Ich bin erwachsen und bestimme, wie es läuft. Mit dieser Haltung verletzen sie die Integrität der Kinder. Amalia und Nael, Fiona, Bidou und Samira wollen ihr Spiel nicht unterbrechen. Sie wollen eine Sache zu Ende bringen, Lebensmittel verstauen und das Baby halten, die letzten Becher auseinandernehmen und prüfen, wie hoch der Turm werden kann. Samira folgt zwar der Aufforderung der Erzieherin, aber auch sie kann ihrem Hund nicht das zuteilwerden lassen, was ihr gerade wichtig ist: das Vorlesen.
Kinder wollen Teil einer Gemeinschaft sein und etwas dazu beitragen. Sie wollen gebraucht und gemocht werden. Das begründet ihren Willen zur Kooperation und deshalb sind sie grundsätzlich auch bereit, sich auf die Ordnungsvorstellungen der Erwachsenen einzulassen. Wer Kooperation aber durch Ermahnungen, Drohungen oder Strafen erzwingt, verletzt die Integrität der Kinder – ihr Recht, im Einklang mit eigenen Werten zu handeln und ehrlich zu sich und anderen zu sein.
Mit Blick auf die Konzeption kann das heißen: Die Teilnahme an Morgenkreisen und Kinderkonferenzen ist freiwillig. Im gleichwürdigen Dialog geht es dann darum, die Wünsche und Bedürfnisse der Kinder, aber auch die der Erwachsenen, zu benennen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Ist die Teilnahme am Morgenkreis wichtig, weil es Informationen gibt, die für alle Kinder relevant sind? Ist der Morgenkreis die einzige Gelegenheit, diese Information zu geben? Darf Angefangenes liegen bleiben oder die Verkleidung auch im Morgenkreis getragen werden? Auf der Basis einer gleichwürdigen Beziehung sind viele Lösungen denkbar.
Ist der Erzieherin die Teilnahme an der Kinderkonferenz wichtig, könnte sie sagen: „Ich verstehe, dass du das gerade nicht so toll findest. Du willst Nael beim Einpacken helfen und das Baby halten und jetzt habe ich dich gebeten, zum Morgenkreis zu kommen. Denn ich möchte heute etwas Wichtiges besprechen. Mir ist es wichtig, dass
du auch dazukommst und mitentscheidest. Kannst du dein Spiel kurz unterbrechen und gleich danach weiterspielen?“ Da Kinder in den meisten Fällen mit den Erwachsenen kooperieren möchten und die Fachkraft in einer warmen, persönlichen Sprache – Anregung von Jesper Juul – spricht, wird das Kind wahrscheinlich zustimmen. Und falls nicht, ist die Fachkraft gefordert zu überlegen, wie die Information zum Kind kommt.
Familienberaterin Nicole Wilhelm schlägt vor, durch das Wort „und“ den Wunsch des Kindes und den eigenen nebeneinanderzustellen und damit Wünschen den gleichen Wert zu geben. Das wird das Kind spüren. Das Wort „aber“ würde den Wunsch der Erzieherin über den des Kindes stellen.
Es gibt viele Empfehlungen zum Thema Aufräumen, vorbereitete Umgebung, Materialanordnung und Raumgestaltung. Dazu gehören Tipps zum Aufräumen mit Spaß, wie Sie Material präsentieren können oder Ordnungssysteme einführen, die für Kinder nachvollziehbar sind. Auch die Vorbildfunktion der Erwachsenen wird immer wieder betont: Was lebe ich Kindern vor und wie gehe ich selbst mit dem
Material um?
Ja, wenn ich als Erwachsene aufräume, motiviere ich das ein oder andere Kind, es mir gleichzutun. Wenn ich Kinder aber aufmerksam begleite und mit ihnen ins Gespräch gehe, erkenne ich schnell, dass sie alle auch ihre eigenen Vorstellungen vom Aufräumen und von Ordnung haben – und diese auch einbringen wollen.
Ein Gespräch übers Aufräumen könnte so aussehen:
Erzieher Florian geht zu einer Vorschulgruppe und sagt: „Kinder, ich brauche eure Hilfe. Ich möchte mit euch übers Aufräumen sprechen.
Ich möchte euch etwas sagen und eure Ideen hören.“ Die Kinder zögern. „Keine Sorge“, sagt Florian, „ich möchte mit euch gemeinsam nach Lösungen suchen, mit denen alle zufrieden sind.“
Jetzt sind die Kinder gesprächsbereit. Florian schildert, was er beobachtet hat: „Mir ist aufgefallen, dass wir viel Zeit brauchen, um Dinge zu finden.“ Ohne Vorwurf in der Stimme schildert Florian, dass er ein Buch in der Kiste mit den Bauklötzen fand. „Ich habe lange gesucht. Zum Glück haben mir Cem und Lisa bei der Suche geholfen.“ Und dann fragt er die Kinder: „Habt ihr eine Idee, wie wir es schaffen können, Dinge schnell zu finden?“ Die Kinder haben Ideen und teilen sie mit.
In einer solchen Situation ist es wichtig, sich für die Ideen der Kinder zu interessieren. Das heißt auch: nachfragen und sich auf ungewöhnliche Ideen einlassen. Wenn ich es schaffe, die Wirklichkeit der Kinder ernst zu nehmen, ihre Ideen auszuprobieren und vielleicht eine Probezeit für eine Idee zu vereinbaren, kann das den Alltag sehr
entspannen. Ermahnungen, Drohungen und Strafen fallen weg, die Gefahr, adultistisch zu handeln, wird kleiner.
Gleichwürdigkeit bedeutet, Kinder nicht zu manipulieren, indem ich sage: „Ihr möchtet doch sicher auch nicht, dass ihr die Sachen, mit denen ihr spielen wollt, nicht findet, weil es so chaotisch ist.“ Gleichwürdigkeit heißt vielmehr, eine Beobachtung zu schildern und zu zeigen, dass man ein Problem ernsthaft besprechen will: „Ich habe beobachtet, dass ihr oft etwas sucht und dann zu uns kommt. Jetzt brauche ich mal euren Rat: Was könnten wir tun, damit ihr nicht so häufig etwas suchen müsst?“
Wir können von Kindern lernen, welche Vorstellung von Ordnung sie haben. Dafür müssen wir uns für ihre Sichtweise interessieren und andere, individuelle Vorstellungen von Ordnung und Aufräumen respektieren. Da Kinder ein Teil der Gruppe sein und in der Regel auch kooperieren möchten, sind sie auch daran interessiert, gute Lösungen für das Thema zu finden. Vielleicht gibt es dann keinen einzelnen Behälter für jede Stiftfarbe, weil es für die Kinder in Ordnung ist, dass alle Stifte in einer Kiste liegen. Sie suchen sich genau den Stift, den sie gerade brauchen.
Gleichwürdigkeit bedeutet auch, dass Fachkräfte ihre Integrität wahren und damit ihre Grenze zeigen dürfen. Wenn ich es schwer aushalte, dass viel Spielmaterial herumliegt, und es mir damit wirklich nicht gut geht, kann ich die Dinge, die niemand benutzt, wegräumen. Dann frage ich die Kinder, ob sie es noch brauchen, und sage, wie es mir gerade geht: „Ich sehe hier sehr viele Bausteine, mit denen niemand spielt. Mir ist das gerade zu viel. Ich werde sie jetzt in die Kiste räumen.“ Gerade bei jungen Kindern bis drei Jahre ist das Aufräumen Aufgabe der Fachkraft. Kinder können eingeladen werden, aber es darf nie an eine Bedingung geknüpft sein. Spielen ist anstrengend, und dass man dabei müde wird und das Aufräumen vielleicht auch aus diesem Grund nicht mehr gut bewältigen kann, ist ein Aspekt, der häufig vergessen wird. Wie froh ist dann ein Kind, wenn die Fachkraft es liebevoll unterstützt und Verständnis für die Erschöpfung zeigt. Das Kind will sich nicht „bedienen lassen“ und „testen, ob es damit durchkommt“.
In einem Team treffen Individuen mit unterschiedlichen Erfahrungen aufeinander, auch was das Aufräumen angeht. Das ist in Kindergruppen genauso. Es gibt Kinder, denen Aufräumen, Ordnung und eine erkennbare Struktur wichtig sind. Und es gibt Kinder, die ihre Prioritäten anders setzen. Wenn wir gleichwürdig und integritätswahrend damit umgehen, erleben wir alle einen entspannten Alltag.
Für die einen ist Ordnung das halbe Leben. Für die anderen sogar das ganze. Die folgenden Fragen helfen, eigene Vorstellungen zu ergründen, Kinder zu beteiligen und die Gleichwürdigkeit aller Bedürfnisse zu wahren.