13.11.2023
Saskia Franz

Bloß nicht stehen bleiben

Eine Kita geht mit der Zeit und stellt nicht nur das Kind in den Mittelpunkt

Unsere Autorin ist seit dreizehn Jahren Leiterin einer Kita in Baden- Württemberg und hat so manche Veränderung in der Pädagogik miterlebt. Heute vertreten sie und ihr Team das Bild vom modernen Kind. Wie das in der Umsetzung aussieht und wer bei ihnen neben dem Kind noch im Mittelpunkt steht.

TPS

Das Bild vom Kind hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. In den Bildungs- und Orientierungsplänen, die ab 2004 in allen Bundesländern eingeführt wurden, ist das Bild vom Kind klar umrissen: Kinder sind Individuen, die neugierig sind und mit allen Sinnen ihre Umgebung erkunden. Sie sammeln selbsttätig Erfahrungen, lösen eigenständig Probleme, entwickeln Kompetenzen und eignen sich neue Kenntnisse an.

Vor der Einführung der Bildungs- und Orientierungspläne war das Bild vom Kind ein anderes. Die Annahme: Kinder lernen, was man an sie heranträgt. Aufgabe der Erwachsenen sei es, den Kindern die Welt zu zeigen und die Dinge zu erklären.

In den ersten Jahren nach der Ein-führung der Bildungspläne verfielen viele Kitas in eine Art Aktionismus. Niemand wollte sich vorwerfen lassen, nicht genügend für die Bildung der Kinder zu tun. Es wurden Lehr- und Wochenpläne erstellt. Man unterbreitete den Kindern zahlreiche Angebote. Die Lernziele: Die Kinder sollten Präpositionen korrekt verwenden. Sie sollten die Blätter heimischer Baumarten kennen und wissen, dass Öl sich nicht mit Wasser vermischt.

Zeig mir das Bild vom Kind

Das Bild vom Kind war klar definiert. Aber was war mit diesem Bild gemeint? Was bedeutet es für die pädagogische Arbeit? Die Bildungsinteressen der Kinder spielten damals noch keine große Rolle. Die Lern- und Projektthemen wählten die Erwachsenen. Sie planten die Abläufe.

In vielen Konzeptionen stand: Das Kind steht im Mittelpunkt. Heute schmunzeln wir, wenn wir diese Worte lesen. Wer oder was sollte sonst im Mittelpunkt stehen? Im Mittelpunkt zu stehen, bedeutet für mich, dass alle das Kind sehen. Es ist kein Objekt, das sich bilden lässt, sondern ein Subjekt, das seine eigene Bildung und Entwicklung voran-treibt. Es hat das Recht auf Begleitung und Unterstützung ausgehend von seinen Interessen und Bedürfnissen. Das Kind im Mittelpunkt heißt auch, die Individualität eines jeden Kindes anzuerkennen und um seine Rechte zu wissen. Das bedeutet, dass das Kind seine Lernthemen mitbestimmen kann. Denn wir können davon ausgehen, dass alle Kinder sich die Welt erschließen und die damit verbundenen Herausforderungen meistern wollen.

In der Phase der Einführung der Bildungs- und Orientierungspläne ging es von nun an immer wieder um das moderne Bild vom Kind. Im offenen Konzept, das wir bereits eingeführt hatten, wird genau dieses Bild vorausgesetzt. Trotzdem haben wir damals in unserer Kita etliche pädagogische Tage damit verbracht, immer wieder über das Bild vom Kind zu sprechen und Meinungen und Einstellungen dazu abzugleichen. Manchen Kolleginnen fiel es dennoch schwer, sich mit den Inhalten zu identifizieren. Sie vertrauten den Selbstbildungsprozessen des Kindes nicht. Schwächen und Defizite, die ein Kind aufwies, und die notwendigen Fördermaßnahmen standen im Vordergrund. Diese Diskussionen brachten uns nicht weiter. Im Leitungsteam beschlossen wir deshalb, diese Auseinandersetzung zu beenden. Wir setzten von nun an voraus, dass alle unser modernes Bild vom Kind teilten, das im Orientierungsplan definiert ist. Mehr und mehr haben wir dieses Bild verinnerlicht und zum Maßstab unseres Handelns gemacht. In unserer Konzeption von 2016 haben wir dann folgendes Bild vom Kind beschrieben:

„Wir sehen das Kind als einmalige Person mit eigenständigem Charakter, das bereits seit seiner Geburt über Kompetenzen und Fähigkeiten verfügt. Jedes Kind ist einzigartig und entdeckt die Welt auf seine eigene Art und Weise. Angetrieben von Entdeckerfreude und kindlicher Neugier erschließt es sich sein Umfeld im Rahmen seiner Möglichkeiten und in seinem ihm eigenen Tempo.“

Dieses Bild vom Kind haben wir noch ausdifferenziert. Wir wollten festhalten, was das für unsere pädagogische Arbeit bedeutet:

„Das Kind hat bei uns die Gelegenheit, Gruppenerfahrungen zu sammeln oder allein zu bleiben, mit allen Sinnen zu lernen, sich auszuprobieren, zu experimentieren, Fragen zu stellen, Antworten zu fin-den, Fehler zu machen, neugierig, nachdenklich, fröhlich, ängstlich, wütend oder traurig zu sein. Kinder sind in der Lage, Entscheidungen für ihr Wohlbefinden und ihre Entwicklung selbst mitzutragen und ihrer Entwicklung entsprechend Verantwortung zu übernehmen. Unser Bild vom Kind spiegelt sich in unserer pädagogischen Arbeit wider, indem wir Rahmenbedingungen und Begleitung bieten, indem die Kinder ihr Streben nach Autonomie entfalten können und ihre Selbstständigkeit weiter entwickeln können. Dies alles erfolgt unter der Bestimmung der Selbstbildungsprozesse.“

Diese Entscheidung brachte viel Entspannung mit sich: Wir drehten uns nicht mehr im Kreis, konnten nach vorn schauen und uns weiterentwickeln.

Gemeinsame Plauderrunden

Auch die Eltern mussten wir mit-nehmen. Sie waren verunsichert zu hören, dass der Erwerb von Fähigkeiten und Kompetenzen für die Entwicklung ihres Kindes wichtiger sei als das Erlernen einer Fremdsprache oder eines neuen Musik-instrumentes. Sie wünschten sich Wochenpläne, die abbildeten, was die Kinder in dieser Woche gelernt hatten. Wir hingegen hatten unsere Kita von geschlossenen Gruppen auf das offene Konzept umgestellt und unseren Schwerpunkt auf das freie Spiel gelenkt. Hier war viel Aufklärungsarbeit bei Eltern und Fachkräften zu leisten. In unserer Einrichtung erfolgte sie über die Einführung konzeptioneller „Plauderrunden“. In diesen Gesprächsrunden gaben wir einen kurzen Impulsvortrag zu  einem konzeptionellen Thema wie etwa dem Freispiel oder der offenen Arbeit. Im Anschluss wurden die pädagogischen Inhalte mit Bildern und Geschichten aus dem Kindergartenalltag verdeutlicht.

Einrichtungen, denen dieser Entwicklungsprozess gelungen ist, haben viel erreicht und ihr Verständnis für Qualität in der frühen Bildung weiterentwickelt. Wie sieht es aber heute aus, bald zwanzig Jahre später? Aktuell läuft in Baden-Württemberg die zweite Überarbeitung des Orientierungsplans für Bildung und Erziehung.

Wenn wir zukunftsorientiert denken, müssen wir im Blick haben, dass die Kinder, die heute in die Kita gehen, im Jahr 2040 in ihr Berufsleben starten. Welche Voraussetzungen brauchen sie? Welchen Wider-ständen müssen sie standhalten können? Können wir uns schon vor-stellen, auf welchem Wissensstand die Menschheit dann sein wird? In unserer Kita wollen wir die volle Autonomie gepaart mit sozialer Verantwortung für unsere Kindergartenkinder erreichen.

Wir denken groß

Wir haben damit begonnen, das Bild vom Kind groß zu denken. Das bedeutet für uns, dass wir nicht allein über das Bild vom Kind, sondern über unser Menschenbild allgemein nachdenken. Wir wollen die Werte, die unser pädagogisches Handeln in der Kita leiten, auch im Team und im Umgang mit den Familien und Kooperationspartnern leben, um Individualität und Solidarität miteinander in Balance zu bringen.

So verändert sich unser Blick auf das Kind. Durch den Fakt, dass das Kind in den Mittelpunkt gerückt wurde, stand automatisch auch die Individualität im Vordergrund. Das haben wir Erwachsene gebraucht, um ein Umdenken für den pädagogischen Alltag in Gang zu setzen. Nun ist es an der Zeit, die Solidarität hervorzuheben, ohne dabei die Individualität außer Acht zu lassen. Für den pädagogischen Alltag bedeutet das, dass die Bedürfnisse aller Beteiligten – Kinder, Eltern und Team – relevant für ein gutes, gelingendes Miteinander sind.

Voraussetzung für gute Lernprozesse bei Kindern  und Erwachsenen ist das Wohlbefinden. Um mich wohlzufühlen, muss ich ernst genommen werden, Wertschätzung erfahren und mich zugehörig fühlen.

Weitere Werte, die für Kinder, ihre Familien und das Team gleich bedeutungsvoll sind: Vertrauen, eine dialogische Haltung und stärkenorientiertes Denken.

Stärkenorientiertes Denken heißt für uns nicht, nur das Positive im Tun der Kinder zu sehen, sondern auch, die eigenen Stärken und das Positive im eigenen Handeln zu erkennen. Es bedeutet, dem Kind bei seiner Selbsteinschätzung zu helfen dabei, über sich hinauszuwachsen. Miteinander im Gespräch zu sein, schafft Vertrauen. Zeit ist heute eine kostbare Ressource. Sich dennoch Zeit für den Austausch, für den Dialog zu nehmen, ist etwas Besonderes und gleichzeitig ein Selbstverständnis. Es spiegelt ernsthaftes Interesse und Wertschätzung wider. Der Dialog schafft Transparenz und Klarheit. Er verbindet. Vertrauen braucht Bindung und Beziehung. Vertrauen umfasst auch die Fähigkeit, Zutrauen zu haben, dass Kinder ihre Bildungsbiografie mit unserer Unterstützung selbst vorantreiben können.

Ziel ist, dass die Kinder volle Autonomie mit sozialer Verantwortung erlangen. Wir sind verantwortlich dafür, das mit unserer pädagogischen Haltung und durch unsere Vorbildfunktion widerzuspiegeln.

Bildung ist Selbstbildung

Aus meiner Sicht gilt es, aus dieser Haltung heraus jede und jeden anzunehmen – ihre bzw. seine individuellen Meinungen und Ideen. Wenn ich angenommen werde, erfahre ich Wertschätzung und erlebe, dass ich als Mensch gut bin, so wie ich bin in aller Diversität, die ich mit mir bringe. Ebenso gehört zu dieser Haltung das ernsthafte Interesse am Kind, an den Themen und Lernaufgaben des Kindes. Kinder lernen am liebsten und am besten von denen, die selbst begeistert sind. Hier ist es wichtig, feinfühlig zu erkennen, wann wir uns als pädagogische Fachkraft einbringen müssen und wann wir uns besser zurücknehmen. Ziel dabei ist es, dem Kind den Erfolg und die damit verbundene Erkenntnis der Selbstwirksamkeit zu lassen. Bildung ist Selbstbildung. Durch die Arbeit im offenen Konzept unterstützen wir also die Selbstbildungsprozesse der Kinder. Hier sind sie frei, eigene Lernwege zu beschreiten, und stärken ihre eigene Identitätsbildung. Wir vertrauen darauf, dass Kinder wissen, was sie brauchen. Dafür schaff en wir Räume, in denen sie ihren Eigensinn entsprechend umsetzen können.

Im offenen Konzept lernen Kinder kreative Techniken kennen und anwenden. Damit können sie sich später Werkzeuge bauen. Alle Aktivitäten zielen auf ein lösungsorientiertes Arbeiten hin. Die pädagogische Fachkraft unterstützt die Kinder dabei. Wir müssen uns freimachen davon, alles vorgeben zu wollen. Um die Autonomie des Kindes zu fördern, müssen wir eine größere Subjektorientierung zulassen. Das kann nur gelingen, wenn wir die Beteiligung der Kinder umsetzen und unterstützen. So können sie kreative Potenziale entfalten und es gelingt ihnen, bei Schwierigkeiten besser standzuhalten und flexibel auf dynamische Veränderungsprozesse einzugehen. Die Kinder gewinnen Resilienz. Die Welt ist unvorhersehbar. Damit müssen Kinder lernen zu leben.

Wenn wir so handeln, gelingt es den Kindern, für sich ein hohes Selbstwirksamkeitskonzept zu entwickeln. Dabei können andere Kin-der wie auch Erwachsene Teil des ko-konstruktiven Prozesses sein, der wichtig ist für die soziale Verantwortung. Denn nur im Miteinander kann ich soziale Verantwortung erleben. Soziale Verantwortung im Sinne von: die Stärken des anderen anzuerkennen, Aushandlungsprozesse zu erlernen und Einfühlungsvermögen und Hilfsbereitschaft gegenüber den anderen zu entwickeln. Die soziale Verantwortung stärkt unser Zugehörigkeitsgefühl. Sie bedingen sich gegenseitig.

Durch eine Haltung, die von Offenheit und Transparenz geprägt ist, steigere ich die pädagogische Qualität. Hierdurch entsteht eine große Klarheit, die wiederum Sicherheit erzeugt und Möglichkeiten zur Reflexion im Team bietet.

Meine Erkenntnis aus all dem ist, dass unsere Werte für alle – Kinder, Eltern, Fachkräfte – die gleiche Bedeutung haben und auch unsere Haltung allen gegenüber zum Tragen kommen muss. Wenn ich Werte, wie etwa Wertschätzung, ausschließlich dem Kind entgegenbringe und nicht auch meiner Kollegin, ist das nicht authentisch und somit für die Kinder auch nicht nachvollziehbar.

Bildquellen GettyImages / Klaus Vedfelt
Leitung Pädagogische Fachkraft Kindergarten Krippe Teamreflexion/Selbstreflexion 206 Pädagogisches Handeln Pädagogische Haltung Werte/Religion/Philosophie 209 Elternarbeit Offenes Konzept
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