Die „Pädagogik der Langsamkeit“ rahmt das gemeinsame Tun
Nicht das Erreichen von Lern- oder Entwicklungszielen steht im Mittelpunkt, sondern das gemeinsame Tun. Ritscher (2013, S. 12) definiert in diesem Zusammenhang eine „lang-same Pädagogik“, in der die pädagogische Fachkraft innehält und dem Kind in der Erkundung und Erforschung der Welt assistierend zur Seite steht. Vor allem Krippenkinder setzten ihr Selbst- und Zeiterleben aus vielfältigen Handlungssituationen zusammen. Besonders wenn das Kind mit anderen aktiv ist, sich bewegt, engagiert bei der Sache ist, findet körperliche Erfahrung statt, die handlungsbezogen und emotional ein-gebunden ist (vgl. de Coster 2013, S. 17). Dieses Gefühl des Selbsterlebens, der eigenen Autonomie, ist eine der wichtigsten Grunderfahrungen von Krippenkindern (vgl. Viernickel; Stenger 2010, S. 192), die als wichtigste Verbindung und Voraussetzung von Bildung für eine nachhaltige Entwicklung angesehen werden kann.
Der Zugang zu Themen der Nachhaltigkeit liegt im pädagogischen Handeln, insbesondere im Abwarten sowie im Halten von kindlichen Bildungsprozessen (vgl. Schäfer 1995, S. 50 f.). Die größte Herausforderung besteht darin, die eigenen Erwartungen, mit Kindern ein Lernziel zu erreichen, zurückzustellen. Klein (2004, S. 15) betont, dass der Erwachsene seine Erklärungen „suspendieren“ müsse, damit Kinder Zeit gewinnen, selbst Ideen und Lösungen im Prozess des Ausprobierens und Erforschens zu finden. Die Stärkung der kindlichen Selbstwirksamkeitsprozesse befördert bereits im Krippen -alter Schritt für Schritt die Beteiligung an Alltagssituationen. Mit wachsendem Entwicklungsalter entwickeln Kinder aus der Selbstwirksamkeitserfahrung heraus ein Verantwortungsbewusstsein für die gelebte Gemeinschaft. Bildung für eine nachhaltige Entwicklung beginnt dann, wenn Kinder eigene Ideen und Lösungen zu Fragen und Themen der Nachhaltigkeit ein-bringen und beitragen können. Damit dieser Prozess sich entfalten kann, muss die pädagogische Fachkraft ihre Zielvorstellungen und Ideen loslassen und Raum für die kindliche Perspektive schaffen. „Sie wirft sie nicht über Bord und hält sie auch nicht aus pädagogischen Gründen zurück, damit die Kinder später ‚selbst drauf-kommen‘. Sie stehen ihr momentan nur – ganz wörtlich – im Weg. Sie würden ihr den Blick versperren für die subjektive Perspektive der Kinder“ (Klein 2004, S. 15). Diese Form des Abwartens seitens der pädagogischen Fachkraft entscheidet über das Selbsterleben (ein Teil der Gemeinschaft zu sein) und über die Selbstbildungszeit (sich mit eigenen Ideen ein-zubringen) des Kindes (Schäfer 2009, S. 22).
Das 1-qm-Projekt als Anlass für forschendes Lernen Voller Neugier erforschen und entdecken Krippenkinder die Welt und finden oft Dinge und Kleinigkeiten, die wir Erwachsene übersehen. Das 1-qm-Projekt bietet einen Anlass, dem forschenden Lernen der Krippenkinder einen Untersuchungsrahmen zu geben, der eine gemeinsam geteilte Aufmerksamkeit auf einen begrenzten Bereich lenkt. Zusammen mit der pädagogischen Fachkraft können Kinder einen beliebigen Ort in der nahen Natur und kulturellen Umwelt auswählen und dort spontan mit der Entdeckung von Welt beginnen. Mit zwei Zollstöcken lässt sich ein Quadratmeter zu einem begrenzten Untersuchungsbereich definieren, der von den Kindern beforscht werden kann (Damen 2021).
Beim genauen Hinsehen, Betrachten, Ordnen und Sortieren der Fundstücke entsteht eine Sammlung von Schätzen. Die Rolle der pädagogischen Fachkraft ist es, die Fundstücke der Kinder und die Sortierungen fotografisch zu dokumentieren, Kommentare und Gespräche der Kinder zu notieren und über offene Fragen den gemeinsamen Dialog zu bereichern. Im Sortieren der Fundstücke entstehen Ordnungen, die eine Sensibilität für Natur, Umwelt und Nachhaltigkeit bewirken.
Es lässt sich beobachten, dass bereits Krippenkinder natur-zugehörige Dinge (Blätter, Äste, Früchte …) von naturschädlichen Dingen (Plastikreste, verrostetes Metall, bedrucktes Papier …) trennen und damit voneinander unterscheiden. Ebenso veranlassen die Sammlungen Kinder dazu, ihre Fundstücke zu benennen und begrifflich einzuordnen: ein Kiefernzapfen wird als „Baumzapfen“ benannt oder ein verzweigter Ast als „Segel-wurm“ (Kahl 2008). Weiterführende Fragen (zum Beispiel: „Wo kommen diese Dinge her? Wie sind sie hier hergelangt?“) er-öffnen einen Zugang zum gemeinsamen Nachdenken über die Welt. So formulieren Kinder, dass die gefundenen Plastikstücke dem Wald schaden, weil die Tiere das ja fressen könnten.
Von der Forst-Bauer (2012, S. 79) stellt heraus, dass Kinder sich besonders dann frei ausprobieren, nachdenken, Zusammenhänge hinterfragen, experimentieren, selbst Lösungen finden, ergebnissoffen und selbstorientiert agieren, wenn sie an „echten Aufgaben“ beteiligt werden. Das 1-qm-Projekt bietet somit altersübergreifend einen situationsbezogenen Anlass, mit Kindern ins Gespräch zu kommen und über Fragen zu Natur und Umwelt ins Philosophieren zu finden und sie für Themen der Nachhaltigkeit zu sensibilisieren (Müller 2011).
Prof. Dr. Sonja Damen ist Professorin für Bildung und Erziehung in der Kindheit und Leiterin des Studiengangs B. A. „Kindheitspädagogik“ an der Fliedner Fachhoch-schule Düsseldorf.
LITERATUR
Damen, S. (2021): Das 1-qm-Projekt. Kindergarten heute 2021(2). 51. Jg., 26–30.
de Coster, L. (2013): Die Zeitvorstellung junger Kinder und das Zeit-verständnis unserer Gesellschaft. In: KINDER in Europa. Den Kindern gehört die Zeit. Ausgabe 25, 12/2013, Berlin: verlag das netz, 16–17.
Kahl, R. (2008): Kinder! Über das Lerngenie der Kinder. (DVD) Hamburg: Archiv der Zukunft.
Klein, L. (2004): Wenn die Worte nur so aus einem herausfl ießen. Warum eine dialogische Haltung die Sprache fördert. In: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik. TPS Heft 4, 12–15.
Müller, J. (2011): Mit den Kleinen Großes Denken. Mit Kindern über Nachhaltigkeitsfragen philosophieren – Ein Handbuch (unter Mitarbeit von Susanne Schubert). Leuchtpol GmbH, https://www.anu-brandenburg.de/uploads/media/handbuch-philoso-phieren.pdf?PHPSESSID=68900d8b61fe0164fe68bb68acdc4e2d (zugegriffen am 26.1.2023).
Ritscher, P. (2013): Gelobt sei die Langsamkeit! Auch in Kindergärten! In: KINDER in Europa. Den Kindern gehört die Zeit. Ausgabe 25, 12/2013, Berlin: verlag das netz, 12.
Schäfer, G. E. (1995): Bildungsprozesse im Kindesalter. Selbstbildung, Erfahrung und Lernen in der frühen Kindheit. Weimar: Juventa.
Schäfer, G. E. (2009): Der Bildungsbegriff in der Pädagogik der frühen Kindheit. Fried, L./Roux (Hrsg.) (2009). Pädagogik der frühen Kindheit. Handbuch und Nachschlagewerk. Berlin: Cornelsen, 33–44.
Schäfer, G. E. (2011): Was ist frühkindliche Bildung? Kindlicher Anfängergeist in einer Kultur des Lernens. Weinheim: Juventa.
Viernickel, S./ Stenger, U. (2010): Didaktische Schlüssel in der Arbeit mit null- bis dreijährigen Kindern. In: Kasüschke, Dagmar (Hrsg.): Didaktik in der Pädagogik der frühen Kindheit. Grundlagen der Frühpädagogik, Band 3. Kronach: Wolters Kluwer. 175–198.
von der Forst-Bauer, M. (2012): Staunen – entdecken – forschen. Naturwissenschaftliche Bildung und Bildung für nachhaltige Ent-wicklung. In: Schubert, Susanne; Salewski, Yvonne; Späth, Elisabeth et al. (Hg.) (2012 a): Nachhaltigkeit entdecken, verstehen, gestalten. Kindergärten als Bildungsorte nachhaltiger Entwicklung („Hier spielt die Zukunft“, Bd. 1), Weimar u. a.: verlag das netz, S. 74–79.
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