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Es war einmal …“, so fangen viele Marchen an. Und schon treten Drachen, Hexen und sprechende Wölfe auf. Man konnte fast sagen: In aller Regel folgen auf die Phrase „Es war einmal …“ Unwahrheiten. Das ist so selbstverständlich, dass weder Erzählerin noch Zuhörer daran zweifeln. Im Gegenteil: Es ist uns vollkommen klar, dass es in diesen Geschichten nicht um die Wahrheit geht. Aber: Unser Kopf vergisst das beim Zuhören – und denkt nicht mehr an Lüge und Wahrheit. So kann unser Bauch mitfiebern und wir können ganz in das Märchen eintauchen. Das gilt natürlich nicht nur für Marchen, sondern für alle erfundenen Geschichten. Da stellt sich die naheliegende Frage: Wie kommt es, dass der Mensch erfundene Geschichten so sehr liebt? Hat er Lust, belogen zu werden?
Friedrich Schiller hat einmal gesagt: „Tiefere Bedeutung liegt in den Marchen meiner Kinderjahre als in der Wahrheit, die das Leben lehrt.“ Dieser Aussage kann man zustimmen oder auch widersprechen. Die Mehrheit durfte sich jedoch darüber einig sein, dass Märchen und Geschichten sehr wahrhaftig sein können. Sie spiegeln plausible Herausforderungen und emotionale Konstellationen wider. Dadurch erzeugen sie bei uns Resonanzen: Sie stoßen Gedanken und Gefühle an. Dabei ist ein Aspekt, den die Neurowissenschaften beschreiben, besonders wichtig: Während das Spiel als Form des Probehandelns gilt, ist das Horen und Lesen von Geschichten ein Probedenken und ein Probefühlen: Was wäre, wenn …? Wie wurde sich das anfühlen?
Die fiktionalen Inhalte der Geschichten, auch wenn sie noch so wirklichkeitsfern scheinen, stellen Kinder – und auch alle anderen Zuhörenden – auf die Probe: Sie müssen sich mit Problemlosungen und Fragen der Gerechtigkeit auseinandersetzen. Sie fühlen mit den Figuren der Geschichte. Das Horen von Geschichten, auch wenn sie erstunken und erlogen sind, ist ein vielfaltiges Übungsfeld: Kinder trainieren ihre Fantasie sowie ihr moralisches und optionales Denken. Sie üben sich in Empathie. Und sie lernen dabei zunehmend, Fiktion und Wahrheit klar voneinander zu trennen. Dies wusste wohl auch schon Albert Einstein, der einmal gesagt haben soll: „Wenn du intelligente Kinder willst, lies ihnen Marchen vor. Wenn du noch intelligentere Kinder willst, lies ihnen noch mehr Marchen vor.“
Der Mensch braucht die Fiktion, weil sie unterhalt, aber vor allem auch deshalb, um wichtige Kernkompetenzen für das Leben weiterzuentwickeln. Im weitesten Sinne sind Geschichten also Lügen. Der Unterschied zu einer echten Lüge besteht in der Intention der lügenden Person. Das Erzählen von Geschichten ist wie Lügen im Konsens. Ähnlich ist es, wenn Eltern für ihre Kinder ein Weihnachtsmannkostüm anziehen oder Ostereier verstecken. Sie spielen ihnen eine Fiktion vor, die ihre Welt bereichert.
Kinder haben außerdem eine besondere Freude, wenn es in Geschichten um Lügen geht. Ein Klassiker, welcher in vielen Geschichtensammlungen enthalten ist, ist die Fabel „Der Hirtenjunge und der Wolf “, die Aesop zugeschrieben wird und demnach bereits zweitausend Jahre alt ist. Der Hirtenjunge langweilt sich beim Hüten der Schafe. Er ruft um Hilfe und gibt vor, der Wolf greife an. Die Dorfbewohner kommen und erkennen die Lüge. Das Spiel wiederholt sich am folgenden Tag. Am dritten Tag kommt der Wolf tatsachlich, der Hirtenjunge aber kann um Hilfe rufen, wie er will. Die Dorfbewohner glauben ihm nicht. Diese Geschichte zeigt die Gefahr des Lügens im Alltag. Während man die Botschaft der Fabel („Du sollst nicht lügen“) Kindern früher als immer gültigen Grundsatz verkauft hat, wurde man heute wohl differenzierter vorgehen und auch Ausnahmen betrachten, etwa mit der Frage: Wann ist eine Lüge in Ordnung?
Ein weiterer Klassiker ist die Geschichte von Pinocchio, dem beim Lügen die Nase wachst. Man kann sich selbst beim Hören und Lesen fragen, wie Pinocchio wohl in echt aussehe, oder wie lang die eigene Nase wäre. Wer besonders abenteuerlichen Lügen lauschen mochte, kann auf Baron Munchhausen zurückgreifen, der auf der Kanonenkugel geritten ist und sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen hat. Erich Kastner hat die Geschichten in einer kindgerechten Sprache neu erzählt. Das kann ein Impuls für die eigenen Erzählkünste sein: Gelingt es uns auch, eine so unfassbare Lügengeschichte zu erfinden?
Janoschs Figur Lari Fari Mogelzahn wird in den nach ihm benannten Geschichten vom ehrlichen Löwen Hans verdächtigt, die Unwahrheit zu erzählen. Die zuhörenden Kinder sind in der Regel als Lügenentdecker deutlich talentierter als der Löwe. Kurzum: Der Mensch hat Lust, belogen zu werden, wenn dies im Rahmen von Geschichten der Fall ist. Kinder trainieren anhand fiktiver Stoffe verschiedene, wichtige Kompetenzen. Geschichten, die das Lügen thematisieren, entfalten dabei einen ganz eigenen Reiz.
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