Pippis Geschichten haben ihren Ausgangspunkt häufig in einer Beobachtung aus ungewöhnlicher Perspektive – als ein Kind, das liebend gern auf Baume und Dächer klettert, kennt Pippi Langstrumpf viele Perspektiven auf die Dinge und Menschen – oder einer sprachlichen Wendung, die sie ein wenig anders auffasst als üblich. Ist es nicht sprachlich naheliegend, einen Rückweg eben auch rückwärts zurückzulegen?
Astrid Lindgrens Figur Pippi Langstrumpf ist ein überaus experimentierfreudiges, neugieriges, fantasievolles Geschöpf, das mit offenen Augen durch die Welt lauft und in seiner Entdeckerfreude vor nichts haltmacht. Eines ihrer Lieblingsspielzeuge ist die Sprache, auch mit der Wahrheit muss natürlich experimentiert werden.
Dass die Folgen zuweilen mit den üblichen Moralvorstellungen kollidieren, wird bereits in dieser Anfangsepisode benannt. Annikas erste Äußerung ist ein moralisches Urteil: „Lügen ist hässlich.“ Moralische Konventionen sind das Gebiet der angepassten, stets etwas ängstlichen Annika, ein wenig Auflockerung kann sie gut gebrauchen. Diese bekommt sie von Pippi. Pippi akzeptiert Annikas Urteil („ Lügen ist hässlich“), was sie jedoch keineswegs davon abhält, auch übers Lügen im Handumdrehen eine weitere Geschichte zu erfinden, welche die bedruckende Wolke moralischer Bedenken wie ein frischer Wind beiseiteschiebt:
„,Und übrigens‘, fuhr sie fort, und sie strahlte über ihr ganzes sommersprossiges Gesicht, ,will ich euch sagen, dass es im Kongo keinen einzigen Menschen gibt, der die Wahrheit sagt. Sie lügen den ganzen Tag. Sie fangen früh um sieben an und hören nicht eher auf, als bis die Sonne untergegangen ist …‘“
Pippi Langstrumpf kann gar nicht anders: Obwohl sie sich selbst als eine Lügnerin bezeichnet, ist sie keine. Ihr fehlt jede Täuschungsabsicht. Im Gegenteil: Pippi ist ein ganzargloses, vertrauensvolles Geschöpf, das stets an das Gute in jedem einzelnen Menschen glaubt und niemandem etwas Böses will. Nicht einmal bei den Dieben, die sich nachts in ihr selbstverständlich unverschlossenes Haus schleichen und es auf ihr Gold abgesehen haben, kommt sie auf den Gedanken, dass diese ihr schaden wollen. Pippi Langstrumpf fiele nicht ein, ihre Starke jemals auszunutzen. Ihre Geschichten sind spontane Eingebung gen einer außergewöhnlich beweglichen Fantasie. Weil jeder Einfall einen nächsten anregt, nehmen sie schnell Fahrt auf. Kein Wunder, dass Astrid Lindgrens Heldin aufseiten der Professoren, Pädagoginnen und Erziehenden anfangs auf moralische Ablehnung stieß, während ungezählte Kinder sie sofort ins Herz schlossen und sich mit ihr identifizierten.
Lügen will gelernt sein
Kinder kommen nicht lügend auf die Welt. Lügen muss man lernen. Ganz einfach ist das nicht. Wer lugt, muss sein Wissen verbergen und etwas, das nicht stimmt, so überzeugend formulieren, dass der Adressat die Geschichte vor dem Hintergrund des eigenen Wissens für glaubwürdig halt. Geschicktes Lügen ist eine Kunst. Schließlich sind nicht alle, die belogen werden sollen, auf den Kopf gefallen. Sie können misstrauisch werden, nachfragen, das Behauptete überprüfen. Soll eine Lüge Erfolg haben, muss sie sich widerspruchsfrei in ein ganzes Gefüge von Wissen und Überzeugungen eingliedern. Erfolgreiches Lügen erfordert viel Umsicht, Empathie und nicht zuletzt ein gutes Gedächtnis. Da kleine Kinder diese hohen Anforderungen gewöhnlich noch nicht erfüllen können, sind ihre Lügen leicht zu entlarven.
Wie entwickeln sie diese komplexe Fähigkeit? Babys können noch nicht lügen, so viel steht fest. Schulkinder hingegen schon. Welche Entwicklungsschritte müssen bewältigt werden? Ist die Fähigkeit zu lügen ein Nebenprodukt der Sprachentwicklung? Oder bedeutet lügen mehr, als etwas zu sagen, das nicht der Realität entspricht? Muss ein Lugner die Welt aus der Perspektive des Gegenübers sehen können? Ein interessantes Beispiel für das kindliche Verständnis von Wissen und Absichten anderer Menschen bietet das Versteckspiel. Jeder kennt das zweijährige Kind, das seine Augen schließt, sich die Hände vors Gesicht halt und sich nun gut versteckt wähnt. Was Kinder selbst nicht sehen, halten sie für unsichtbar, und der Blick des Suchenden auf sein Gesicht ist tatsachlich versperrt. Und ist man ohne sein Gesicht nicht unerkennbar? Dass die Welt aus einer anderen Perspektive anders aussieht als aus der eigenen, ist für Kinder in diesem Alter noch nicht denkbar. Es dauert aber nicht lange, bis sie verstehen, dass zum Verstecken mehr gehört, als selbst nichts zu sehen. Dreijährige verbergen nicht mehr nur das Gesicht, sondern weitere Teile des Körpers. Durchaus kann aber noch ein Fus oder ein Arm aus dem Versteck herauslügen, schwer zu finden sind sie nicht. Zudem sehen sie kein Problem darin, sich immer wieder am selben Ort zu verstecken. Wenn das Spiel zu lange dauert, kommen Kinder in dem Alter sowieso heraus, denn der Hauptspaß besteht für sie im aufregenden Moment des Gefunden-Werdens. Erst Vier- bis Fünfjährige bemühen sich, es dem Suchenden schwer zu machen, und beginnen, die Qualität eines Verstecks zu beurteilen. Dazu müssen sie in der Lage sein, die Perspektive des Suchers zu übernehmen und einzuschätzen, welche Verstecke schwer zu entdecken oder leicht zu übersehen sind. Erst im Schulalter erreichen Kinder die hohe Kunst, sich unbemerkt in ein Versteck zu schleichen, in dem bereits gesucht wurde, sodass es nun besonders sicher ist.
Der Begriff des Lügens ist frühestens auf vier- bis fünfjährige Kinder anwendbar. Lügen setzt eine Fähigkeit voraus, die in der Entwicklungspsychologie Theory of Mind genannt wird und darin besteht, mit Blick auf eigene sowie fremde mentale Zustande eine Metaperspektive einnehmen zu können. Das nennt man Metakognition. Im Gegensatz zur Fantasietätigkeit, die bereits im Alter von circa eineinhalb Jahren nachweisbar ist, bildet diese sich erst ab ungefähr vier Jahren heraus. Es lohnt sich unbedingt, Fantasie als Talent und die bunten Geschichten der Kinder als eine Quelle der Freude zu begreifen. Ihre Geschichten mit Lügen zu verwechseln, beruht auf einer Reihe von Fehlurteilen. Wenn, einer klassischen Definition gemäß, eine Lüge etwas ist, das mit den Mitteln der Sprache die Gedanken verbirgt, dann tun Kinder, die uns ihre Geschichten erzählen, das genaue Gegenteil: Sie lassen uns an ihrer Gedankenwelt teilhaben. Schönere Einladungen, diese innere Welt kennenzulernen, verteilen sie selten. Wir dürfen ihnen aufmerksam zuhören und vielleicht bei passender Gelegenheit die eine oder andere Frage stellen.
Lügen ist ein facettenreiches Thema. Nicht selten sorgt es fur Spannungen zwischen Erwachsenen und Kindern. Das hat naturlich mit Moral zu tun. Der moralische Aspekt blieb in den hier vorgestellten Überlegungen weitgehend ausgeklammert. Vielmehr geht es darum zu verstehen, dass Missverständnisse bei dieser Thematik ganz normal sind. Wenn Eltern, Lehrende oder Erziehende Kinder dafür sanktionieren, dass diese nicht die Wahrheit sagen, können ihnen leicht folgenreiche Fehler unterlaufen. Dann fühlen die Kinder sich missverstanden und unfair behandelt. Einige werden wütend und sinnen auf Rache, andere wiederum ziehen sich gekrankt zurück und verschließen sich vor den Erwachsenen. Moralische Werte wie das Lügenverbot übernehmen Kinder ohnehin nur von Menschen, mit denen sie sich auf der Grundlage einer stabilen, vertrauens- und liebevollen Beziehung identifizieren.
Verbergen, täuschen, lügen – die hohe Kunst des Perspektivwechsels
Verhalten |
Alter ab ca. |
Ziel |
Beispiel |
Beispiel Sein Äußeres verbergen |
1 ½ Jahre |
Nicht gesehen werden |
Hinter den Händen verstecke |
Sein Tun verbergen |
2 ½ Jahre |
Nicht bestraft werden |
Krümel wegwischen |
wegwischen Seine Absichten verbergen |
3 Jahre |
Nicht eingeschränkt werden |
Anschleichen, um etwas umzuwerfen (zum Beispiel einen Bauklotz- Turm) |
Seine Gedanken verbergen |
3 ½ Jahre |
Nicht beeinflusst werden |
Geheimnisse (zum Beispiel ein geheimes Schatzlager) |
Jemanden mittels falscher Überzeugung in die Irre führen |
4 bis 5 Jahre |
Sich Informationsvorteil verschaffen |
Falsche Spuren legen |
LITERATUR: LINDGREN, ASTRID (2020): Pippi Langstrumpf. Band 1. Hamburg: Oetinger.
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