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Märchen leben von Formeln, Ritualen und liefern dem Kind Symbole von polaren Gegenüberstellungen. Die Geschichten haben zumeist einen Märchenhelden/eine Märchenheldin, der/die seine/ihre Abenteuer allein besteht, und unsichtbare Kräfte greifen nur dann ein, wenn er/sie in höchster Gefahr ist. Märchen sind eindimensional: Alles kann mit allem in Kontakt treten und Märchen folgen ihren eigenen Gesetzen – alles ist möglich, nichts unmöglich. Doch haben klassische Märchengeschichten in der heutigen Zeit noch eine Bedeutung für unsere Kinder? Sind Märchen noch zeitgemäß? Oder zu grausam? Vermitteln sie überholte bzw. stereotype Rollenklischees?
Was bleibt, ist ein individuelles Abwägen und es ist kein Geheimnis, dass Märchen und deren Inhalte immer wieder zu kontroversen Diskussionen führen. Die Geschichten der klassischen Märchen lassen schreckliche und schauerliche Dinge geschehen: So werden Kinder von Hexen in den Ofen gesteckt, Wölfe fressen sowohl Menschen als auch sprechende Geißlein oder Schweinchen, die böse Stiefmutter will das schöne Schneewittchen töten lassen, kleine Geschwister werden von bösen Mächten tyrannisiert oder von ihren Eltern im Wald ausgesetzt. Auch wenn am Ende immer das Gute siegt, erscheint es im Verlauf der Handlung dennoch immer wieder bedrohlich und beängstigend. Schadet man den Kindern also damit, wenn man ihnen solche „Gruselgeschichten“ vorliest? Verlieren sie nicht das Urvertrauen, wenn sie bei „Hänsel und Gretel“ hören, dass Eltern ihre Kinder im Wald einfach ihrem Schicksal überlassen? Nicht nur, dass die Welt der Märchen von der heutigen Lebenswelt der Kinder weit entfernt ist, Grausamkeiten werden im Märchen hauptsächlich als Ausgleichsprinzip zum vorangegangenen ungerechten Geschehen eingesetzt. Tiefenpsychologischtherapeutische Erfahrungen belegen, dass Kinder an diesem Ausgleich interessiert sind, nicht aber am grausamen Geschehen selbst, so der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim (1977). Weitere Aspekte, die kritisiert werden, sind etwa ein Blick, der sich nur in den Extremen Schwarz-Weiß ohne Graustufen und unter Leugnung von Ambivalenz (entweder wunderschön, gut und rein oder absolut hässlich und böse) manifestiert. In diesem Kontext bietet die Darstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit im Märchen teilweise Grund zur Diskussion in Bezug auf Rollenklischees. So kam es zu einem Phänomen, dass Märchen in einer Weise abgeändert wurden und werden, indem man sie für die Kinder „leichter verdaulich" macht. Diese bebilderten, geschönten und verharmlosten Versionen transportieren jedoch nicht das, was ursprünglich damit bezweckt war. „Heute werden Kinder […] beraubt, wird ihnen doch die Möglichkeit, Mär chen überhaupt kennenzulernen, vorenthalten. Gegenargumente, Kinder mit Märchen zu konfrontieren, gibt es zuhauf. Die meisten Kinder begegnen dem Märchen lediglich in verniedlichten, vereinfachten Versionen, die den Sinn entstellen und eine tiefere Wirkung unmöglich machen – in Film- und Fernsehbearbeitungen, in denen die Märchen zu bedeutungsloser Unterhaltung herabsinken“ (Bettelheim 1977, 28). Jedoch ist die Welt der Märchen eine ganz besondere und wir sollten sie Kindern nicht vorenthalten. Denn Märchen sind weit mehr als Unterhaltung. In adäquater Form erzählt, eröffnen sie eine eigene mystische Welt fernab der unsrigen, und doch verbindet diese ferne Welt so viel mehr mit unserer eigenen, als wir glauben.
Im Märchen geschehen manchmal schreckliche Dinge, aber meist nehmen sie ein „gutes Ende“ – nun, nicht für alle Beteiligten. Das Gute siegt über das Böse, doch in diesem Zusammenhang sind im Märchen selbst Morde legitim und keine Seltenheit, und so ergeht es der bösen Hexe am Ende schlecht. Für die Geschwister Hänsel und Gretel jedoch geht alles gut aus und der Lohn im Diesseits ist gesichert. Die beiden nehmen Gold und Edelsteine von der Hexe mit nach Hause und leben mit ihrem – an sich – guten Vater „wenn sie nicht gestorben sind“ noch heute im – eigentlich ergaunerten, da von der Hexe entwendeten – Wohlstand.
Wir möchten an dieser Stelle unser Märchenprojekt zu Hänsel und Gretel von den Gebrüdern Grimm vorstellen, welches sich durch Zufall ergab.
Durch einen Glücksfall bescherte uns die Post eine riesige Schachtel und auf die Frage hin, was wir denn daraus basteln könnten, antworteten die Kinder: „Da brauchen wir doch nix mehr draus zu basteln. Schau doch, das ist ja schon ein Haus!“, und schnell waren die ersten beiden Kinder in der Schachtel verschwunden. „Aber wir brauchen eine Tür!“, rief eines der Kinder aus der Schachtel heraus. „Ja, und Fenster!“, meinte ein anderes, das sich außerhalb der Schachtel befand. Und so entwickelte sich ein spannendes Projekt, welches wir hier vorstellen möchten. Spannend für alle Beteiligten ist es, wenn der Anstoß zu einem Projekt vonseiten der Kinder kommt, sie also die Initiativzündung geben. Das Geniale an einem Projekt ist, dass im Optimalfall alle Bildungsbereiche durchdrungen werden. Von den Kindern initiiert und inspiriert, machten wir uns sogleich mit einem relativ ungefährlichen Buttermesser ans Werk. Zuerst sägten wir in Gemeinschaftsarbeit den „Boden“ des Hauses weg und von dort aus eine Türe in eine der Seitenwände hinein. Die kleinen vierteiligen Fensterchen schnitt ein Erwachsener mit einem Stanley-Messer aus den Hauswänden. Für das Dach wurde ein flacher Karton mit einem Falz in der Mitte mit Klebestreifen an der ersten Schachtel fixiert. In einen langen schmalen Quader schnitten wir von einer Seite im Winkel des Daches ein Dreieck hinein und fixierten diesen wieder mit Klebeband oben an der mittleren Dachkante. „Hey, das schaut ja aus wie ein Lebkuchenhaus – so braun“, stellte eines der Kinder fest und eine Idee war geboren. Aus weiteren Schachteln und Kartons schnitten wir rechteckige „Lebkuchen“ aus, die wir mit verschiedensten kleinen Gegenständen (Perlen, Sternen, Knöpfen, Papiermandeln, Knetmasse, Holz, Glitzersteinen u. Ä.) verzierten und anmalten. Über mehrere Tage hinweg wurde das Lebkuchenhaus bestückt. Jedes Kind konnte Ideen einbringen, was noch alles unser Lebkuchenhaus zieren könnte und sie beklebten es mit Stickern, bemalten es großflächig, überklebten wieder, ergänzten Kekse und Brezen aus Salzteig usw. Wann immer die Kinder zu Hause oder im Garten etwas fanden, das ihrer Auffassung nach passendes Material für das Lebkuchenhaus war, brachten sie es mit und beklebten das Haus individuell.
Wir schufen uns außerdem unseren eigenen Märchenwald mithilfe einer selbst gebauten Waldeffekt-Lampe. Hierzu steckten wir die gedrehten Zweige einer Korkenzieherhasel in zwei Kartonscheiben, um die Äste in eine aufrechte Position zu bringen. Um klare Schattenumrisse der Zweige an die Wände zu projizieren, sodass diese wie verzweigte Bäume eines geheimnisvollen Waldes wirken, ist eine sehr starke kleine Lichtquelle (wie die einer sehr hellen Taschenlampe oder die einer Handytaschenlampe) notwendig. Ist die Lichtquelle nicht punktuell und fokussiert genug, ergeben sich subtile unklare Schattenwürfe der einzelnen Äste. Das sähe dann nicht wie ein Wald aus. Unsere Lampe jedoch zauberte mystische Schatten an die Wände. Weil diese Lampe gemeinsam mit den Kindern „entworfen und entwickelt“ sowie unter deren Mitwirkung gebaut worden war, hatten sie auch im – zugegebenermaßen – etwas gruseligen Märchenwald keine Angst, da sie wussten, wie Schatten entstehen und diesen nichts Gefährliches anhaftet.
Zudem vertieften wir uns gemeinsam mit den Kindern, in das Märchen von Hänsel und Gretel, indem wir es künstlerisch auf vielseitige Art und Weise bearbeiteten, es im japanischen Kamishibai-Theater spielten und als Theaterstück aufführten. Selbst die Mathematik machte nicht Halt vor dem Märchenwald: Wir setzten uns mit der Menge 4 auseinander und zogen den Grundriss des Hexenhauses mit Filzstiften nach. Räumliche Vorstellungs- und Verstehensprozesse wurden angeregt. Wir fragten uns schon im Vorfeld, gemeinsam mit den Kindern: Finden am Grundriss denn gleich viele Kinder Platz wie im Haus? Auch legten wir den Grundriss des Lebkuchenhauses; dies geschah natürlich mit, von der Hexe ausgeborgten, lila Edelsteinen. Viele der mathematischen Vorläuferfertigkeiten (Krajewski, 2003) wurden so unbewusst immer wieder trainiert. Die Kinder befassten sich mit eindeutigen Zuordnungen bei einer zu zählenden Menge zu einem eindeutigen Zahlwort (nämlich „Vier“). Immer wieder setzten sich die Kinder mit der Zahl Vier auseinander, indem sie in repetitiver Weise wieder und wieder vier Mandeln zuerst auf einen Lebkuchenkeks aus Karton legten und diese dann festklebten (später dann echte Mandeln und Kirschen auf einen Keks aus Teig). In Bezug auf die anderen kleinen Gegenstände, die das Lebkuchenhaus zieren, beschäftigten sie sich mit Abstraktionen von qualitativen Eigenschaften für beliebige Objekte, welche zählbar sind (unabhängig von Größe, Farbe, Gewicht), ordneten sie, fassten beliebig viele Elemente zusammen und zählten diese.
Zu guter Letzt backten wir selbst Lebkuchen, verspeisten sie und ließen so alle möglichen Sinne in unser Projekt einfließen.
Das Lebkuchenhaus steht noch heute und wird in sporadischen Abständen immer wieder von den Kindern als Ort zum Verkriechen, Verstecken und Spielen genutzt. Die Dunkelheit und das Verborgensein in dem kleinen Häuschen hat seinen ganz besonderen Reiz. Es ist zudem zu beobachten, dass Kinder Decken und Polster, aber auch kleine Stühlchen in das Haus hineinschleppen und sich dort gegenseitig Kaffee, Tee und Kuchen servieren.
Mag. Dipl. Päd. Claudia Haas, BEd, ist ausgebildete Grundschullehrerin, studierte Psychologie und ist derzeit Dozentin mit Schwerpunkt Ästhetische Bildung sowie Institutsleiterin an der Pädagogischen Hochschule Tirol.
Mag. Dipl. Päd. Patrizia Bartl, BEd, ist ausgebildete Grundschullehrerin, Erziehungs- und Bildungswissenschaftlerin und derzeit Dozentin am Institut für Elementar- und Primarpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Tirol. Immer wieder führt sie Projekte zu unterschiedlichen Themen mit Kindergarten- und Grundschulkindern durch.
Appelt, Hedwig: Die sagenhafte Welt von Tausendundeine Nacht. Theiss 2010
Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen. Deutsche Verlags-Anstalt 1977
Krajewski, Kristin: Vorhersage von Rechenschwäche in der Grundschule. Kovac 2003
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