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Frau Berlin, wie können sich unsere Leserinnen und Leser das Konzept der Gebärdenunterstützten Kommunikation vorstellen?
Barbara Berlin: Das Konzept der gebärden-unterstützen Kommunikation (GuK) stammt von der Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Etta Wilken. Eigentlich ist es ein Therapieverfahren für hörgeschädigte beziehungsweise -eingeschränkte Kinder. In der Praxis wenden es vor allem Logopäden an. Wir betreuen bei uns in der Krippe inklusiv ein Mädchen mit Trisomie 21, und sind so auf das Konzept aufmerksam geworden. Bei unserem Kind sind die auditive Wahrnehmung und die anatomische Voraussetzung zum Lautieren eingeschränkt. Zusätzlich hat es einen hohen Gaumen und kann sich dadurch noch nicht so gut artikulieren. Das lernt das Mädchen aber in der Logopädie, in der die GuK mithilfe von Gebärden sprachbegleitend – nicht ergänzend – eingesetzt wird. So unterstützen die Gesten das Sprechenlernen. Die Logopädin hält dabei direkten Blickkontakt mit dem Kind und wendet die Gebärden
dialogisch an, damit das Kind die Gesten im Handlungskontext wahrnimmt und erlebt. Es handelt sich also um ein ganzheitliches Konzept.
Das erweckt den Eindruck, dass GuK gerade während Corona eine tolle Möglichkeit ist, um miteinander zu kommunizieren – vor allem auch wegen der Masken. Würden Sie das bestätigen?
Ja, denn gerade in der Krippe ist während Corona viel beim Spracherwerb weggefallen. Durch die Masken konnten die Kinder uns nämlich nicht von den Lippen ablesen. Und normalerweise lernen die Kinder unglaublich viel über die Lippenbewegungen. Das mussten wir kompensieren und haben das zum einen durch die Augen getan, zum anderen mit den Gebärden. So war vieles durch GuK trotz Maske eindeutig verständlich für die Kinder. GuK ist dementsprechend perfekt als non-verbale Ausdrucksmöglichkeit. Außerdem hatte es auch den Vorteil, dass wir nicht so viel und laut sprechen mussten. Denn bei GuK kommt die Botschaft trotzdem direkt beim Kind an. Unsere Stimme wurde dadurch unglaublich geschont.
Aber Corona war nicht der ursprüngliche Grund. Eigentlich haben Sie GuK in der Einrichtung zunächst wegen des Kindes mit Downsyndrom eingeführt …
Richtig, die Mutter des Kindes hat uns darauf aufmerksam gemacht. Das Mädchen ist bereits in Therapie beim Logopäden gewesen, als sie im September 2020 mit dreizehn Monaten zu uns in die Krippe kam. Bei der Eingewöhnung hat uns die Mutter von der Sprachtherapie erzählt und vorgeschlagen, immer die neuen Vokabeln mit in die Einrichtung zu bringen. So konnten wir einen Ordner mit dem wachsenden Wortschatz anlegen. Und weil das Mädchen unser erstes Kind mit Downsyndrom ist, habe ich mich als Berufspraktikantin noch weiter in das Thema Trisomie 21 eingelesen. Dabei habe ich festgestellt, dass sich GuK wie ein roter Faden durch die gesamte Literatur zieht.
Und dann haben Sie sehr schnell bemerkt, dass GuK zwar für Kinder mit einer verzögerten Sprachentwicklung konzipiert wurde, aber eigentlich für alle Kinder von Vorteil ist.
GuK ist definitiv nicht nur etwas für inklusive Kinder. Da alle Kinder dasselbe Recht auf Bildung haben, ist GuK eine frühe Möglichkeit der Chancengleichheit. Denn echte Inklusion findet nur statt, wenn Kinder mit einer Beeinträchtigung keine Sonderbehandlung bekommen und alle gleich kommunizieren können. Deswegen wenden wir GuK inzwischen in der gesamten Gruppe an. Dazu muss man allerdings auch erwähnen, dass GuK immer
sprachbegleitend abläuft, die Kinder sprechen also und gestikulieren nebenbei.
Wie gehen Sie in der Einrichtung mithilfe der GuK in einen Dialog mit einem Kind?
Damit ein Dialog entstehen kann, muss das Kind sich von uns Fachkräften wahrgenommen fühlen. Deswegen stellen wir Blickkontakt zum Kind her, gehen auf Augenhöhe zu ihm und warten, bis es konzentriert ist. Dann zeigen wir als Signal eine Geste aus seinem Grundwortschatz und seiner Erfahrungswelt. Das können Nomen, Verben oder Adjektive sein, aber auf keinen Fall abstrakte Begriffe. Beispiele sind: Apfel, Ball, spielen, gehen, groß und klein.
Können Sie uns vielleicht ein konkretes Beispiel nennen, wie eine solche Kommunikation beginnt?
Wenn ein Kind etwa ein Buch anschauen möchte, nehmen wir das Buch und stellen Blickkontakt her. Dann falten wir die Hände auf. Diese Geste bedeutet, dass wir das Buch aufschlagen möchten. Gleichzeitig sagen wir: „Wir machen das Buch jetzt auf. Wir lesen.“ Wir benutzen die Gesten im Alltag also wie schon gesagt im Handeln, parallel zum Sprechen und gebärden nebenbei. So versteht das Kind, was wir vorhaben. Die Geste wiederholen wir dann im Alltag immer wieder. Und irgendwann kommt das Kind eigenaktiv zu uns und bittet mithilfe der Geste darum, dass wir das Buch gemeinsam anschauen.
Funktioniert die Kommunikation auch, wenn mehrere Kinder miteinander zusammen sind, ich aber nur eines ansprechen möchte?
Ja. Sagen wir drei Kinder spielen in der Puppenecke und ich möchte eines von ihnen zum Wickeln abholen. Dann laufe ich dorthin, gehe vor dem Kind in die Knie, schaue ihm in die Augen, mache die Gebärde und sage: „Komm, wir gehen Wickeln.“ Dadurch sieht das Kind, dass ich es aufgefordert habe und kommt mit. Oder zumindest ist die Chance viel höher, als wenn ich einfach in die Gruppe hineinspreche. Eine solche Aufforderung verhallt nämlich oft.
Mit der Gebärde baue ich dagegen direkt Blickkontakt zu dem Kind auf. So fühlt es sich angesprochen und wertgeschätzt. Die Botschaft ans Kind ist so viel aussagekräftiger. Außerdem kommt das Kind mit, ohne dass es groß auffällt oder stört. Beim Essen können die Kinder ihrerseits einfach mit Gebärden signalisieren, dass sie etwas zu trinken möchten, satt sind oder noch Hunger haben.
Kommunizieren die Kinder auch untereinander mit Gebärden?
Ja, tun sie. Ein Kind wollte zum Beispiel das Spielzeug eines anderen Kindes haben. Diesen Konflikt haben die beiden dann friedlich untereinander geklärt, indem sie die Gebärden für „haben“ und „nehmen“ gemacht und zusätzlich verbal kommuniziert haben. Durch das Gestikulieren waren die Kinder so beschäftigt, dass sie gar nicht auf die Idee gekommen sind, sich das Spielzeug aus der Hand zu reißen. Oder eine andere Situation: Ein jüngeres Kind
wollte etwas von dem Mädchen mit Downsyndrom. Weil es die entsprechende Gebärde noch nicht kannte, hat ihm ein älteres Kind gezeigt, welche Geste es machen muss. Für mich beweisen solche Szenen, dass die soziale Kompetenz der Kinder stark gestiegen ist, seit wir mit GuK kommunizieren.
Lernen die Kinder die Gebärden allein dadurch, dass die Fachkräfte diese ständig wiederholen?
Teilweise. Wir haben uns in der Zwischenzeit einen Wortschatz von fünfzig bis siebzig Gebärden angeeignet. Und ja, die wiederholen wir in der täglichen Betreuung immerzu für die Kinder. Gleichzeitig gibt es aber auch noch Fotoalben, in die wir die Gebärdenkarten von Etta Wilken eingeklebt haben. Die Gebärdenkarten sind eine Art Karteikartensystem, auf denen die Gebärde und das entsprechende Wort abgebildet sind. Und wir haben diese Karten noch
zusätzlich mit passenden Bildern aus Kalendern oder Büchern ergänzt – also wie ein kleines Wörterbuch.
Basiert GuK auf der Gebärdensprache?
Die Gesten sind zwar an die Gebärdensprache angelehnt, aber Etta Wilken hat sich extra kinderaffine Gebärden patentieren lassen. Und die Gebärdensprache dient der reinen Sprachvermittlung. Dementsprechend basiert sie auf einer eigenen Grammatik und einem allumfassenden Wortschatz. Außerdem muss man keinen Blickkontakt herstellen. Wir dagegen brauchen diesen, um die Bindung zum Kind zu stärken. Und wir verfolgen ein Ziel mit GuK, weil wir nicht nur Sprache vermitteln, sondern Kinder im Alltag auffangen wollen. Sie sollen Sprache als Erlebnis kennenlernen und sich besser verstanden fühlen. Für Kinder ist GuK eine flexible Art sprechen zu lernen. Und durch die Verknüpfung des Visuellen mit dem Auditiven, wird die Sprachkompetenz gestärkt. Außerdem können sich die Kinder früher kommunikativ mitteilen, ihre Bedürfnisse selbst ausdrücken und wir Fachkräfte können sie besser lesen. Wenn ein Kind, das noch nicht sprechen kann, weint, können wir nur erahnen, was es braucht. Durch die Gesten wissen wir, ob es müde ist, Durst hat oder die Windel voll ist. Mit GuK erfährt das Kind also Ansprache, hat frühe Erfolgserlebnisse und kann sich ausprobieren.
Möchte Ihre Leiterin GuK auch in Zukunft bei sich in der Einrichtung anwenden? Also unabhängig davon, ob ein Kind mit Downsyndrom die Krippe besucht oder eine Pandemie herrscht?
Auf jeden Fall, da ist sich das ganze Team einig. GuK schont unsere Stimmen und Nerven, weil wir viel weniger laut sein müssen. Zudem nehmen wir mehr Blickkontakt zu den Kindern auf. Das geht ansonsten manchmal verloren, wenn man nur in den Raum hineinspricht. Bei GuK muss ich das Kind dagegen dazu bringen, die Gebärde wahrzunehmen. Und in der Krippe ist es vor allem deswegen ein wahnsinnig tolles Mittel zur Kommunikation, weil viele Kinder noch gar nicht sprechen können, wenn sie zu uns kommen.
Barbara Berlin ist Erzieherin in der Naturkrippe Kiku Wellenburg in Augsburg. Im Rahmen ihrer Ausbildung hat sie eine Facharbeit zu diesem Thema geschrieben, die den Titel „Wir winken alle gleich! Gebärdenunterstützte Kommunikation (GuK) – Sprachliche Inklusion im Alltag“ trägt.
Literatur: Wilken, Etta: Sprechen Lernen mit GuK, 8. Aufl., Lauf, Deutsches Down-Syndrom Info-Center, 2018
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