Fragen herabzuwürdigen, hat auch auf der psychologischen Ebene Folgen. Die Fragenden fühlen sich klein und unbedeutend. Sie messen ihren Selbstwert daran, wie viele Antworten zu geben sie in der Lage sind. Klar ist, dass Menschen immer wieder in Situationen kommen, in denen sie sich scheinbar Wissenden gegenüber unterlegen fühlen. Von Florian Söll, einem Lehrer, der aus der Freinet-Pädagogik kommt, habe ich die folgende Erkenntnis: „Der Blick hinter die Frage ist ein Blick auf die ganze Person. Die Fragen verdienen deshalb einen spezifischen Respekt, den auch der Fragende verdient. Denn in seinen Fragen tritt der Fragende selbst auf.“ Werden unsere Fragen abgewertet, werden wir selbst mit abgewertet, werden sie ignoriert, werden wir selbst ignoriert, werden wir mit Antworten überschüttet, werden wir selbst ausgelöscht. Ich bin davon überzeugt, dass alle dieses Gefühl kennen.
Unwissenheit als Schatz
Was im Erwachsenen-Alltag schon schwer funktioniert, gelingt auch Kindern gegenüber selten. Hier wähnen sich Erwachsene fast immer im Recht. Sie wissen es einfach besser, gehen selbstverständlich davon aus, dass Kinder bei ihnen vor allem Antworten suchen, oder glauben, sich eine Blöße zu geben, wenn sie fragend und nachdenklich reagieren statt wissend und antwortend. Ohne es zu merken, reagieren sie ähnlich, wie sie es selbst erfahren haben: Sie decken die Fragen der Kinder mit Antworten zu.
Wie nun sieht es aus, wenn ich Kindern selbst fragend begegne? Wie kann ich Vorbild im Fragenstellen, Zweifeln, Hinterfragen oder Nachhaken sein? Was, wenn Kinder aber doch Antworten suchen?
Auf der Fahrt im überfüllten Bus vom Berliner Hauptbahnhof nach Neukölln fragte mich meine sechsjährige Enkeltochter plötzlich nach dem ersten Menschen. Wir wurden uns schnell einig, dass es den nicht gab, sondern dass es sich um eine langwierige Entwicklung gehandelt hat. Dann fragte sie mich irgendwann nach der ersten Mikrobe, der ersten lebenden Zelle usw. „Die muss es doch aber gegeben haben, weil ja vorher nichts da war.“ Da musste ich passen. Später habe ich nachgesehen. Egal, ob man der „Ur-Ozean-Theorie“, der „Ur-Suppen-Theorie“ oder der „Kometen-Theorie“ folgt, nach denen das erste Leben entweder in der Nähe von rauchenden Tiefseeschloten entstanden ist, oder meint, die ersten Zellen hätten sich aus Aminosäuren in einer „Ur-Suppe“ entwickelt, oder glaubt, Leben wäre über Kometeneinschläge auf die Erde gekommen: Bis heute kann niemand mit Sicherheit beantworten, wie dieser Prozess wirklich vor sich gegangen ist.
Viel später dann konfrontierte mich meine Enkeltochter mit: „Opa, ich mag es, wenn du etwas nicht weißt!“ Meine Frage, warum sie gerade das mag, wollte sie mir nicht beantworten. Ich denke mir aber, zu erleben, dass Erwachsene etwas nicht wissen, lässt keinen Raum für ein Unterlegenheitsgefühl. Im Gegenteil, es macht Kinder Erwachsenen ebenbürtig. Wissen ist dann nicht mehr absolut: Der eine hat es, der andere nicht, sondern relativ: Wir beide wissen etwas und wir beide fragen uns vieles. Das hat etwas Gleichwürdiges.
Zu erleben also, dass Erwachsene etwas wirklich nicht wissen und auch nicht so tun, als wüssten sie etwas, und versuchen, sich mit ihrem Halbwissen aus der Situation zu retten, zu erleben also, dass Erwachsene ehrlich mit ihrem Un- oder Halbwissen umgehen, stärkt den eigenen Selbstwert. Darüber hinaus entsteht durch den gleichwürdigen Charakter eines solchen Gesprächs Nähe – und die wirkt sich positiv auf die Beziehung aus.
Eigentlich ist es doch so: Einmal abgesehen von sehr einfachen Fragen, wie: „Wie viel Uhr ist es?“ oder „Was gibt es zu essen?“, sind wir uns mit unseren Antworten bei näherer Betrachtung doch tatsächlich niemals sicher. Ich habe über das Gespräch im Bus noch eine Weile nachgedacht. Dabei ist mir zweierlei klar geworden: Einmal weiß auch ich tatsächlich nicht genau, wie der Prozess der Menschwerdung oder der Prozess der Entstehung des Lebens auf unserem Planeten vonstattengegangen ist. Erst vor Kurzem habe ich erfahren, dass die Theorie, dass sich die Menschwerdung in Ostafrika abspielte und sich Menschen von da aus auf der Erde verbreitet haben, inzwischen überholt ist. Das andere ist, dass sich die Frage meiner Enkeltochter nach dem ersten Menschen, dem ersten Säugetier, der ersten Mikrobe oder der ersten organischen Zelle ja nicht dadurch vom Tisch wischen lässt, dass jeweils eine längere Entwicklungsphase stattgefunden hat. Die Frage ist doch: Wo genau verläuft jeweils die Trennlinie zwischen dem Noch und dem Schon? Und gab es nicht tatsächlich jeweils einen Anfang, an dem diese Grenzlinie zum ersten Mal überschritten wurde – und damit eben auch ein „Erstes“?
Die Grenzlinie erkennen
Darüber habe ich erst später nachgedacht. In der Situation war ich zu sehr auf Antworten fixiert. Auch ich bin durch die Schule der Antworten, Wahrheiten und Gewissheiten gegangen. Spannend wäre es gewesen, wenn ich mit ihr zusammen eben über diese Grenzlinie nachgedacht hätte, etwa: „Woran könnte man denn in diesem Fall erkennen, dass etwas das erste Neue ist und nicht mehr das Alte?“ Eine Frage, die ich nicht wirklich beantworten kann. Ich wäre jedenfalls Vorbild im Nachfragen und Nachdenken gewesen.
Der Familientherapeut Jesper Juul wurde nicht müde, im Umgang mit Kindern vor Erwachsenen immer wieder Authentizität zu fordern. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass der Kontakt abbricht, wenn Erwachsene für Kinder nicht als die Personen erkennbar sind, die sie sind. Jesper Juul schreibt darüber hinaus: „Sind wir wirklich ‚echt‘ in unseren Reaktionen und Handlungen, ist das nicht nur für uns selbst viel gesünder, sondern wir stellen gleichzeitig hervorragende Rollenmodelle für unsere Kinder dar.“ Denn die wesentliche Botschaft lautet: „Es ist bei uns in Ordnung, so zu sein, wie man ist.“ Und weiter: „Masken machen uns unerreichbar für andere, sodass sie unsere echte, persönliche Nähe nicht spüren können.“
In unserem Zusammenhang könnte man sagen: Ich trete heraus aus der Rolle des Wissenden, der ich nun mal nicht bin, und zeige mich in meiner Unwissenheit beziehungsweise mit meinem Halbwissen und allen Fragen. Und aus dem gleichen
Grund wäre es auch falsch, zwanghaft nach klugen Fragen zu suchen, um in ein „sustained shared thinking“, wie es Bildungsforscher nennen, mit Kindern zu kommen. Die Fragen müssen vielmehr tatsächlich unsere eigenen sein.
Wer viel fragt, weiß viel
Insgesamt glaube ich, wir müssen uns selbst erst einmal klarmachen, dass nur, wer viel fragt, auch viel weiß! Es ist doch wirklich so: Wer wenig weiß, dem fallen auch keine Fragen ein! Nur wo wir uns auskennen, haben wir viele und vor allem immer wieder neue, nie enden wollende Fragen. Versuchen Sie doch selbst einmal auf Anhieb mindestens fünf verschiedene Fragen zum Thema „Raum-Zeit-Krümmung im Weltall“ zu finden. Und dann zu einem Thema, mit dem Sie sich gut auskennen. Sie werden feststellen, dass es stimmt: Die meisten Fragen haben wir dort, wo wir uns mit unserem Wissen einigermaßen sicher fühlen. Fragen sind ein Zeichen dafür, dass jemand ein Thema in besonderer Weise durchdrungen hat. Das kennt jede und jeder von uns: Je stärker wir uns mit einem Thema beschäftigen, umso mehr Fragen fallen uns ein.
Aber sind wir wirklich davon überzeugt und begegnen Kindern deshalb mit Leichtigkeit als Fragende? Oder ist es ganz anders, nämlich so, dass wir in den Tiefen unseres eigenen Selbstbildes nicht daran glauben und meinen, wir müssten vor allem erklären, wissen, überzeugen? Ich glaube, es ist eigentlich ganz einfach. Wir müssen uns nur so zeigen, wie wir sind. Dann ist aus unserem Mund vielleicht öfter mal zu hören: „Oh, das weiß ich auch nicht genau. Welch eine kluge Frage! Über die muss ich einen Moment nachdenken.“
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